Orthodoxe Juden, die am Schabbat Venedig besuchen, können
sich auf Simone Luzzatto berufen, den
venezianischen Rabbiner und Intellektuellen des
17. Jahrhunderts, der die Benutzung der Gondeln am
jüdischen Ruhetag erlaubte (dabei aber nicht
unwidersprochen blieb). Bei der Lektüre von
Luzzattos grandiosem Traktat Discorso
circa il stato degli Hebrei et in particolar
dimoranti nell’inclita città di Venetia
kommt einem unweigerlich das Bild der Gondeln
Venedigs in den Sinn: Mit der stoischen Ruhe eines
Gondoliere führt Simone Luzzatto den Leser durch
die Wogen des jüdischen Lebens zur Zeit des
Ghettos und verweist auf alle Großartigkeiten des
Judentums. Mit seinem Discorso
will Luzzatto nichts weniger als ein Argumentarium
vorlegen, das den Wert des Judentums für die
Allgemeinheit und insbesondere für den Staat
Venedig offenlegen soll. Gleichzeitig soll dem
Leser klar werden, schreibt Luzzatto im Vorwort
weiter, dass die jüdischen Riten und Ansichten zu
jenen der Allgemeinheit keineswegs im Missklang
stehen (5r: „dall’ universale non dissonanti e
discrepanti“). Tacitus hatte in seinem Judenexkurs
das Gegenteil behauptet: Moses habe neue Bräuche
eingeführt, die zu denen der restlichen Menschheit
im Widerspruch gestanden hätten (Hist. 5,4:
novos ritus contrariosque ceteris
mortalibus indidit). Und Tacitus ist ein
wichtiger Gegenspieler bei Luzzatto: Das längste
Kapitel des Traktats (Kap. 15) ist der Widerlegung
der antijüdischen Argumente des römischen
Historikers, den Luzzatto ansonsten durchaus
schätzt, gewidmet. Wie Tacitus stellt im Übrigen
auch Luzzatto den Anspruch, sine ira et
studio zu schreiben, an den Anfang (5r:
„ho procurato…astenermi da qualunque affetto e
passione“).
Luzzatto will aufzeigen, wie wichtig die Juden für Venedig
und seinen Handel sind. Die Juden sind für Venedig
der ideale Handelspartner, denn anders als andere
Kaufleute lassen sie die Handelsware nicht an
einen anderen Ort abfließen. Wohin sollten sie
denn gehen? Haben sie doch kein eigenes Vaterland,
in das sie die Waren bringen könnten (15v: „non
havendo essi propria patria alla quale aspirano di
transportare li loro haveri ammassati nella
città“). Mit den jüdischen Kaufleuten bleibt die
Ware im Land. Kurzerhand: Venedig ist auf die
Juden – auch auf deren Fleiß, Innovationskraft und
Verbindungen (21v: „industrie, inventioni,
corrispondenze“) – angewiesen. Ihre Loyalität
gegenüber den Obrigkeiten war stets vorbildlich
(Kap. 5).
Simone Luzzattos Discorso ist ein
einzigartiger Beleg für die Befindlichkeiten des
venezianischen Judentums im 17. Jahrhundert und,
nicht zuletzt, für die enorme Belesenheit dieses
Autors: Luzzatto kann in demselben Atemzug auf die
Tora und Thukydides verweisen, er greift auf
Averroes und Maimonides, Demokrit und Lukrez,
Aristoteles, Cicero und viele andere zurück (vgl.
dazu auch den Essay von Anna Lissa im vorliegenden
Band: „Jews on Trial and Their Sceptical Attorney:
Philosophic Scepticism and Political Thought in
Simone Luzzatto’s Italian Works“). Man kann
Giuseppe Veltri und Anna Lissa nicht dankbar genug
sein, dass sie diesen Text in einer neuen Ausgabe
mit einer kommentierten englischen Übersetzung und
erläuternden Essays nun einem breiteren Publikum
vorlegen. Nach der hebräischen Übersetzung von
Dante Latte (Jerusalem: Bialik, 1950) liegt jetzt
erstmals eine zweisprachige Ausgabe des
Discorso vor. Teile waren schon
früher ins Englische übersetzt worden und der
italienische Text wurde mit einer
Faksimile-Ausgabe 1976 besser zugänglich gemacht,
aber mit der vollständigen englischen Übersetzung
– open access! – wird Luzzattos Traktat
hoffentlich ein neues und breites Lesepublikum
erhalten. Die englische Übersetzung liest sich
gut. Sie folgt dem italienischen Original nicht
allzu sklavisch. Gelegentlich ist sie allerdings
etwas gar frei: „ch’in tre classi principali si
riducono li loro studii circa le Sacre Lettere“
(75v) wird im Englischen z. B. zu „that Jewish
sages can be divided into three classes“ (195;
akkurater ist die Übersetzung von Dante Latte:
כי לימודי היהודים בענייני הספרות
הקדושה מחולקים לשלושה סוגים
עיקריים). Die drei „classi“ der
jüdischen Religionsgeschichte sind nach Luzzatto
die Rabbinen und Talmudgelehrten, die
philosophierenden Theologen („teologi
filosofanti“: dazu zählt Luzzatto Philon und
Flavius Josephus) und die Kabbalisten.
Wie Benjamin Ravid in seinem Essay „The Venetian Context of
the Discourse” aufzeigt, entstand
der Discorso im Kontext
erheblicher Spannungen zwischen Juden und Christen
im Venedig der Jahre 1636 und 1637: eine Gruppe
christlicher Diebe hatte ihre Beute bei Juden im
Ghetto versteckt. Zeitweise drohte vielleicht
sogar die Verbannung der Juden Venedigs. Dazu kam
es zwar schließlich nicht (nur die schuldig
Gesprochenen wurden verbannt), der apologetische
Ton des Traktats, der 1638 erschien, ist aber
zumindest auch vor diesem historischen Hintergrund
zu verstehen. Dass die Bedeutung des
Discorso freilich sowohl in der
Zeit wie auch für die Rezeption über diesen
unmittelbaren Auslöser hinausgeht, wird von
Giuseppe Veltri sicher zurecht festgehalten (283).
Man kann im Übrigen vermuten, dass der Traktat
nicht nur apologetisch nach außen, sondern – im
Sinne von Viktor Tcherikovers Verständnis von
Apologetik („Jewish apologetic literature
reconsidered,“ Eos 48 [1956]:
169–93) – auch nach innen wirken wollte. In
Veltris Essay „Individual Responsibility and
Collective Punishment“ werden etwas verstreut
wesentliche Einleitungsfragen thematisiert: Hier
erfährt man, dass das Werk in mehreren Phasen
geschrieben worden sein könnte. Im erst 2010 von
Guido Bartolucci entdeckten bisher einzigen
Manuskript des Discorso besteht
der Traktat nur aus den ersten drei Kapiteln und
enthält auch noch keine lateinischen Zitate
(282–83). In Veltris Essay findet sich auch eine
hilfreiche Zusammenfassung der 17 Kapitel
(283–94). Eine umfassende Einleitung (mit einem
Inhaltsverzeichnis der Kapitel des
Discorso) hätte die Ausgabe
sicher handlicher gemacht.
Höchst bemerkenswert ist auch Luzzattos Rezeption der
jüdisch-hellenistischen Literatur. Zwei
Generationen nach Azaria de Rossis Meor
Enajim wird hier erneut Philon von
Alexandrien fruchtbar gemacht. Im 13. Kapitel, in
dem es um die Philanthropie des Judentums geht,
bewegt sich Luzzatto deutlich auf den Spuren
Philons. Luzzatto spinnt Philons stoisch geprägte
Idee des Kosmopolitismus, nach der Moses’ Gesetz
für alle Weltbürger gilt, weiter (vgl. Philon,
De Opificio Mundi 142–43). Jeder
Mensch ist ein „huomo cittadino d’una sola
republica“ (46v). Von Philon ist im 13. Kapitel
erst später bei einem Zitat aus dessen De
Specialibus Legibus explizit die Rede:
„il sopr’allegato Filone scrive“ (48r). Wie kann
Luzzatto auf den „oben erwähnten“ Philon
verweisen, wenn Philon in diesem Kapitel gar noch
nicht mit Namen genannt worden ist? Veltri/Lissa
vermuten, dass dies ein Indiz für eine spätere
Revision des Traktats sein könnte (127).
Wahrscheinlicher ist wohl, dass Luzzatto schon zu
Beginn des Kapitels an Philon dachte, ihn aber
nicht namentlich erwähnt (und vielleicht sogar
davon ausgeht, dass der Leser in seiner
kosmopolitischen Argumentation Philon
wiedererkennen würde?). Später im Traktat wird
Philon dann gar zum Gegenspieler des Tacitus:
Philon, der mit Tacitus’ Gelehrsamkeit durchaus
mithalten könne (63r: „non minor di lui
d’eruditione e dottrina“), widerlege mit seiner
Deutung des jüdischen Opfers für die Allgemeinheit
den ewigen Misanthropie-Vorwurf. Etwas seltsam,
auf den ersten Blick zumindest, mutet auch
Luzzattos Hinweis an, dass Josephus im sechsten
Buch des Bellum Iudaicum von
Philon handle (77v). Richtig weisen Veltri/Lissa
darauf hin, dass Josephus aber nur in den
Antiquitates Iudaicae (18,259–60)
auf Philon zu sprechen kommt. Handelt es sich um
einen Irrtum Luzzattos? Wahrscheinlicher ist, dass
– wie bereits in der hebräischen Ausgabe von Dante
Latte ad loc. vermutet (141) –, sich Luzzatto gar
nicht auf Flavius Josephus, sondern den
hebräischen (oder lateinischen?)
Josippon stützt, in dem
tatsächlich im sechsten Buch (der Konstantinopler
Ausgabe) auf Philon verwiesen wird.
Giuseppe Veltri und Anna Lissa haben eine Ausgabe von Simone
Luzzattos Discorso vorgelegt, die
nicht nur den Traktat gut zugänglich macht,
sondern auch viel Kontext zu den Umständen der
Entstehung dieses Textes bietet. Dafür kann man
dem Team nicht genügend dankbar sein. Das Buch ist
zudem auch schön produziert (nur in den Fußnoten
wird die Lektüre des Hebräischen durch
willkürliche Interpunktionen gestört). Am Rande
sei notiert, dass im Hause De Gruyter gleichzeitig
auch eine zweisprachige Ausgabe von Luzzattos
Socrate overo dell’humano sapere
(Socrates, Or On Human
Knowledge), herausgegeben von Giuseppe
Veltri und Michela Torbidoni, erschienen ist
(ebenfalls open access).