Simone Luzzatto. Discourse on the State of the Jews. Bilingual Edition. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Giuseppe Veltri und Anna Lissa. Berlin: De Gruyter, 2019. 386 Seiten, EUR 99.95, ISBN 978-3-11-048733-6, Open Access: https://doi.org/10.1515/9783110527988

René Bloch  
Universität Bern

Orthodoxe Juden, die am Schabbat Venedig besuchen, können sich auf Simone Luzzatto berufen, den venezianischen Rabbiner und Intellektuellen des 17. Jahrhunderts, der die Benutzung der Gondeln am jüdischen Ruhetag erlaubte (dabei aber nicht unwidersprochen blieb). Bei der Lektüre von Luzzattos grandiosem Traktat Discorso circa il stato degli Hebrei et in particolar dimoranti nell’inclita città di Venetia kommt einem unweigerlich das Bild der Gondeln Venedigs in den Sinn: Mit der stoischen Ruhe eines Gondoliere führt Simone Luzzatto den Leser durch die Wogen des jüdischen Lebens zur Zeit des Ghettos und verweist auf alle Großartigkeiten des Judentums. Mit seinem Discorso will Luzzatto nichts weniger als ein Argumentarium vorlegen, das den Wert des Judentums für die Allgemeinheit und insbesondere für den Staat Venedig offenlegen soll. Gleichzeitig soll dem Leser klar werden, schreibt Luzzatto im Vorwort weiter, dass die jüdischen Riten und Ansichten zu jenen der Allgemeinheit keineswegs im Missklang stehen (5r: „dall’ universale non dissonanti e discrepanti“). Tacitus hatte in seinem Judenexkurs das Gegenteil behauptet: Moses habe neue Bräuche eingeführt, die zu denen der restlichen Menschheit im Widerspruch gestanden hätten (Hist. 5,4: novos ritus contrariosque ceteris mortalibus indidit). Und Tacitus ist ein wichtiger Gegenspieler bei Luzzatto: Das längste Kapitel des Traktats (Kap. 15) ist der Widerlegung der antijüdischen Argumente des römischen Historikers, den Luzzatto ansonsten durchaus schätzt, gewidmet. Wie Tacitus stellt im Übrigen auch Luzzatto den Anspruch, sine ira et studio zu schreiben, an den Anfang (5r: „ho procurato…astenermi da qualunque affetto e passione“).

Luzzatto will aufzeigen, wie wichtig die Juden für Venedig und seinen Handel sind. Die Juden sind für Venedig der ideale Handelspartner, denn anders als andere Kaufleute lassen sie die Handelsware nicht an einen anderen Ort abfließen. Wohin sollten sie denn gehen? Haben sie doch kein eigenes Vaterland, in das sie die Waren bringen könnten (15v: „non havendo essi propria patria alla quale aspirano di transportare li loro haveri ammassati nella città“). Mit den jüdischen Kaufleuten bleibt die Ware im Land. Kurzerhand: Venedig ist auf die Juden – auch auf deren Fleiß, Innovationskraft und Verbindungen (21v: „industrie, inventioni, corrispondenze“) – angewiesen. Ihre Loyalität gegenüber den Obrigkeiten war stets vorbildlich (Kap. 5).

Simone Luzzattos Discorso ist ein einzigartiger Beleg für die Befindlichkeiten des venezianischen Judentums im 17. Jahrhundert und, nicht zuletzt, für die enorme Belesenheit dieses Autors: Luzzatto kann in demselben Atemzug auf die Tora und Thukydides verweisen, er greift auf Averroes und Maimonides, Demokrit und Lukrez, Aristoteles, Cicero und viele andere zurück (vgl. dazu auch den Essay von Anna Lissa im vorliegenden Band: „Jews on Trial and Their Sceptical Attorney: Philosophic Scepticism and Political Thought in Simone Luzzatto’s Italian Works“). Man kann Giuseppe Veltri und Anna Lissa nicht dankbar genug sein, dass sie diesen Text in einer neuen Ausgabe mit einer kommentierten englischen Übersetzung und erläuternden Essays nun einem breiteren Publikum vorlegen. Nach der hebräischen Übersetzung von Dante Latte (Jerusalem: Bialik, 1950) liegt jetzt erstmals eine zweisprachige Ausgabe des Discorso vor. Teile waren schon früher ins Englische übersetzt worden und der italienische Text wurde mit einer Faksimile-Ausgabe 1976 besser zugänglich gemacht, aber mit der vollständigen englischen Übersetzung – open access! – wird Luzzattos Traktat hoffentlich ein neues und breites Lesepublikum erhalten. Die englische Übersetzung liest sich gut. Sie folgt dem italienischen Original nicht allzu sklavisch. Gelegentlich ist sie allerdings etwas gar frei: „ch’in tre classi principali si riducono li loro studii circa le Sacre Lettere“ (75v) wird im Englischen z. B. zu „that Jewish sages can be divided into three classes“ (195; akkurater ist die Übersetzung von Dante Latte: כי לימודי היהודים בענייני הספרות הקדושה מחולקים לשלושה סוגים עיקריים). Die drei „classi“ der jüdischen Religionsgeschichte sind nach Luzzatto die Rabbinen und Talmudgelehrten, die philosophierenden Theologen („teologi filosofanti“: dazu zählt Luzzatto Philon und Flavius Josephus) und die Kabbalisten.

Wie Benjamin Ravid in seinem Essay „The Venetian Context of the Discourse” aufzeigt, entstand der Discorso im Kontext erheblicher Spannungen zwischen Juden und Christen im Venedig der Jahre 1636 und 1637: eine Gruppe christlicher Diebe hatte ihre Beute bei Juden im Ghetto versteckt. Zeitweise drohte vielleicht sogar die Verbannung der Juden Venedigs. Dazu kam es zwar schließlich nicht (nur die schuldig Gesprochenen wurden verbannt), der apologetische Ton des Traktats, der 1638 erschien, ist aber zumindest auch vor diesem historischen Hintergrund zu verstehen. Dass die Bedeutung des Discorso freilich sowohl in der Zeit wie auch für die Rezeption über diesen unmittelbaren Auslöser hinausgeht, wird von Giuseppe Veltri sicher zurecht festgehalten (283). Man kann im Übrigen vermuten, dass der Traktat nicht nur apologetisch nach außen, sondern – im Sinne von Viktor Tcherikovers Verständnis von Apologetik („Jewish apologetic literature reconsidered,“ Eos 48 [1956]: 169–93) – auch nach innen wirken wollte. In Veltris Essay „Individual Responsibility and Collective Punishment“ werden etwas verstreut wesentliche Einleitungsfragen thematisiert: Hier erfährt man, dass das Werk in mehreren Phasen geschrieben worden sein könnte. Im erst 2010 von Guido Bartolucci entdeckten bisher einzigen Manuskript des Discorso besteht der Traktat nur aus den ersten drei Kapiteln und enthält auch noch keine lateinischen Zitate (282–83). In Veltris Essay findet sich auch eine hilfreiche Zusammenfassung der 17 Kapitel (283–94). Eine umfassende Einleitung (mit einem Inhaltsverzeichnis der Kapitel des Discorso) hätte die Ausgabe sicher handlicher gemacht.

Höchst bemerkenswert ist auch Luzzattos Rezeption der jüdisch-hellenistischen Literatur. Zwei Generationen nach Azaria de Rossis Meor Enajim wird hier erneut Philon von Alexandrien fruchtbar gemacht. Im 13. Kapitel, in dem es um die Philanthropie des Judentums geht, bewegt sich Luzzatto deutlich auf den Spuren Philons. Luzzatto spinnt Philons stoisch geprägte Idee des Kosmopolitismus, nach der Moses’ Gesetz für alle Weltbürger gilt, weiter (vgl. Philon, De Opificio Mundi 142–43). Jeder Mensch ist ein „huomo cittadino d’una sola republica“ (46v). Von Philon ist im 13. Kapitel erst später bei einem Zitat aus dessen De Specialibus Legibus explizit die Rede: „il sopr’allegato Filone scrive“ (48r). Wie kann Luzzatto auf den „oben erwähnten“ Philon verweisen, wenn Philon in diesem Kapitel gar noch nicht mit Namen genannt worden ist? Veltri/Lissa vermuten, dass dies ein Indiz für eine spätere Revision des Traktats sein könnte (127). Wahrscheinlicher ist wohl, dass Luzzatto schon zu Beginn des Kapitels an Philon dachte, ihn aber nicht namentlich erwähnt (und vielleicht sogar davon ausgeht, dass der Leser in seiner kosmopolitischen Argumentation Philon wiedererkennen würde?). Später im Traktat wird Philon dann gar zum Gegenspieler des Tacitus: Philon, der mit Tacitus’ Gelehrsamkeit durchaus mithalten könne (63r: „non minor di lui d’eruditione e dottrina“), widerlege mit seiner Deutung des jüdischen Opfers für die Allgemeinheit den ewigen Misanthropie-Vorwurf. Etwas seltsam, auf den ersten Blick zumindest, mutet auch Luzzattos Hinweis an, dass Josephus im sechsten Buch des Bellum Iudaicum von Philon handle (77v). Richtig weisen Veltri/Lissa darauf hin, dass Josephus aber nur in den Antiquitates Iudaicae (18,259–60) auf Philon zu sprechen kommt. Handelt es sich um einen Irrtum Luzzattos? Wahrscheinlicher ist, dass – wie bereits in der hebräischen Ausgabe von Dante Latte ad loc. vermutet (141) –, sich Luzzatto gar nicht auf Flavius Josephus, sondern den hebräischen (oder lateinischen?) Josippon stützt, in dem tatsächlich im sechsten Buch (der Konstantinopler Ausgabe) auf Philon verwiesen wird.

Giuseppe Veltri und Anna Lissa haben eine Ausgabe von Simone Luzzattos Discorso vorgelegt, die nicht nur den Traktat gut zugänglich macht, sondern auch viel Kontext zu den Umständen der Entstehung dieses Textes bietet. Dafür kann man dem Team nicht genügend dankbar sein. Das Buch ist zudem auch schön produziert (nur in den Fußnoten wird die Lektüre des Hebräischen durch willkürliche Interpunktionen gestört). Am Rande sei notiert, dass im Hause De Gruyter gleichzeitig auch eine zweisprachige Ausgabe von Luzzattos Socrate overo dell’humano sapere (Socrates, Or On Human Knowledge), herausgegeben von Giuseppe Veltri und Michela Torbidoni, erschienen ist (ebenfalls open access).