Daniel Hoffmann. „Die Welt zerbirst!“ Ein Essay zu Uriel Birnbaums Sonettzyklus „In Gottes Krieg“. Vorlesungen des Centrums für Jüdische Studien 14. Graz: CLIO, 2020. 175 Seiten, EUR 12.–, ISBN 978-3-902542-88-5
Universität Basel
Die Literaturgeschichte zeigt zwei widerstreitende Deutungen des Ersten Weltkrieges, die bis heute nachwirken: Zum einen die präfaschistische Stilisierung des Kampfes zu einem Zuchtofen männlich-abgehärteter neuer Menschen, so etwa in den frühen Texten Ernst Jüngers; zum anderen die pazifistische Bewertung als Negativpunkt, an dem das millionenfache Leiden in eine potentiell kriegsbefreite Welt umschlägt. Diese Dialektik der Hoffnung lässt sich im Expressionismus beobachten, etwa bei Ernst Toller, oder philosophisch angereichert bei Ernst Bloch. Der zu besprechende Essay von Daniel Hoffmann stellt eine religiöse Perspektive auf die Katastrophe in den Mittelpunkt, die diese beiden säkularen Apokalypse-Varianten herausfordert, indem der Krieg als Gottesgericht gedeutet wird.
Der Grafiker, Dichter und Essayist Uriel Birnbaum, geboren 1894 in Wien als dritter Sohn des prominenten Publizisten und Politikers Nathan Birnbaum, gestorben 1956 im niederländischen Amersfoort, ist nicht nur heute eine Randfigur. Sein dezidiert jüdisch-religiöser Blick entspricht einer marginalen Position in der deutschsprachigen, aber auch in der europäisch-jüdischen Literatur. Die Lebensgeschichte Birnbaums ist mit den Weltuntergängen des 20. Jahrhunderts eng verbunden. Er hat nach seinem Militärdienst an der Russland- und der Italienfront im Ersten Weltkrieg den ‚Anschluss‘ Österreichs an Nazi-Deutschland erlebt und die Shoah in einem Versteck in den Niederlanden überlebt. Birnbaum trat als origineller Buchillustrator und Grafiker auf und hegte eine (für einen religiösen Juden bemerkenswerte) Vorliebe für Fantastik und Science-Fiction. Er verfasste einige fantastische Novellen, von denen allerdings die Mehrzahl nicht publiziert wurden, sondern nur als Typoskripte im umfangreichen Nachlass (am Moses-Mendelssohn-Zentrum Potsdam) überliefert sind. Eines seiner einzigen zu Lebzeiten veröffentlichten literarischen Werke ist der Gedichtband In Gottes Krieg (1921), der 229 Sonette in verschiedenen Zyklen versammelt. In dessen Zentrum steht eine „theologische[] Beurteilung des Kriegsgeschehens“ (67). Wie Hoffmann ausführt, verortet sich der junge Autor in einer jüdischen Tradition, die u. a. auf das Buch Josua und dessen Deutungen zurückgeht. „Der Krieg wird von Birnbaum als Milchamot Haschem interpretiert, in dem Gott allein Krieger ist, in der er allein die strafende Gewalt ausübt“ (ebd.). Die zeitgenössische Politik, die hochtechnisierten Kampfhandlungen und selbst die eigene schwere Verwundung erscheinen bei Birnbaum als oberflächliche Abläufe, die sich vor der tieferen Wirklichkeit der Gottesherrschaft abspielen.
Hoffmann konzentriert sich in seiner Studie auf eine textnahe Lektüre dieser unzeitgemäßen Dichtung, wobei er auch die bemerkenswerten Zeichnungen einbezieht. Die Gedichte können „als eine Art Tagebuch seiner [Birnbaums] Kriegserlebnisse gelesen werden“ (8). Die Genre-Bezeichnung „Tagebuch“ erklärt die auf verschiedenen Ebenen zutage tretende Subjektivität, etwa die gelegentlichen Inkonsequenzen in den vertretenen Deutungen des Krieges, die als „Ausdruck einer wechselvollen Stimmungslage“ eingeschätzt werden können, aber auch die prinzipiell subjektive, nicht auf institutionelle Autoritäten bezogene Religiosität Birnbaums, die neben jüdischen Deutungsmustern auch christliche und christologische Elemente einbezieht. Hoffmann weist darauf hin, dass sich diese Religiosität ideengeschichtlich in die zeitgenössische Aufwertung subjektiver Formen von Glauben und Spiritualität einfügt, wie sie beispielsweise Martin Buber im Zuge der sogenannten jüdischen Renaissance unternahm. Der tagebuchartigen Subjektivität widerspricht die den Gedichtband durchziehende Stilisierung des lyrischen Ichs zu einem prophetischen Sprecher, der die sündhafte Menschheit anklagt und die Ordnung Gottes verkündet, oder in die „Rolle des Chronisten“ (71) schlüpft. Beiden Haltungen ist etwas Elitäres eigen, eine selbstgewählte Marginalisierung, die dem aus der gläubigen Grundhaltung entspringenden Selbstverständnis des prophetischen Dichters entspricht.
In einleitenden Abschnitten führt Hoffmann kenntnisreich und ausgesprochen lesefreundlich in die teils fernliegenden Kontexte und Voraussetzungen Birnbaums ein. Dabei diskutiert er auch die eigenwillig gestaltete Sonettform, die im Selbstverständnis Birnbaums als „Selbstzucht“ der Unordnung der Zeit widerstehen soll und seinem politischen Konservatismus entspricht. In einem Vergleich mit Kriegssonetten von Johannes R. Becher und Wilfried Owen zeigt Hoffmann jedoch, dass es Birnbaum nicht primär darum ging, Distanz zu gewinnen und im einzelnen Gedicht eine Situation in sich abgeschlossen zu reflektieren. Vielmehr folgten Birnbaums Sonette einer epischen Anordnung, sie besäßen auch an sich einen „epischen Charakter“, indem sie immer nur vorläufig abgeschlossen seien und ineinander übergehende Geschehnisse zeigten. Diese Epizität ist vielleicht, wie Hoffmann vermutet, auch in der Wahrnehmung des Krieges als Gottes Krieg begründet – „ein totales Geschehen, das nirgendwo eine Begrenzung findet, sondern sich unaufhörlich manifestiert“ (57).
Den Schwerpunkt von Hoffmanns knapper Studie nehmen die verschiedenen, die Kapitel und Zyklen von Birnbaums Gedichtband abschreitenden Lektüren ein. Überzeugend legt Hoffmann die liturgischen Codes und die formelhaften Bezüge von Birnbaums Sprache frei. Skandalös bleibt Birnbaums Akzeptanz des sinnlosen Abschlachtens als eine Art neue Sintflut – dessen machtpolitische und ökonomische Bedingungen er ignoriert – und die auch im Kontext jüdischer Theologie kaum mehr aktuell erscheint. Zu einem Verständnis dieses Skandalons legt Hoffmann einige Spuren, indem er Birnbaum als jüdischen Jansenisten deutet und seine Lektüre Pascals nachweist. Demgemäß wäre das Subjekt aus In Gottes Krieg völlig dem Willen Gottes und seiner Gnade ausgesetzt, ohne selbst etwas zu seiner Erlösung leisten zu können. Ob der Begriff des Jansenismus sehr weit führt, sei dahingestellt. Allerdings ist Hoffmanns generelle Lesart plausibel, da Birnbaum tatsächlich kaum von Erlösungspotentialen spricht und jeweils nur sehr vage messianische Anspielungen macht.
Hoffmanns Lektüre gibt den Blick frei auf eine widersprüchliche Randgestalt und eine Art gegenmoderne Moderne, die dennoch mit einem avantgardistischen Künstlertum zusammenhängt. Es ist daher überaus verdienstvoll, wenn der Autor Uriel Birnbaum zumindest einem Fachpublikum wieder bekannt gemacht wird. Hoffmanns Essay verbleibt meistens auf der deskriptiven und interpretatorischen Ebene, dabei wirft er implizit wichtige theoretische Fragen auf, ohne sie zu beantworten: Wie werden religiöse Denkfiguren und Redeformen unter den Bedingungen der Moderne transformiert? Welche Funktion enthält spezifisch die prophetische Rede in dieser Kriegsdichtung? Was ist religiöse Dichtung bzw. wie ist das Verhältnis von Religion und Literatur?
Nicht zuletzt stellt sich die Frage nach der Umschreibung des Kanons und der Relevanz marginalisierter Autorinnen und Autoren für die Literaturwissenschaft. Hoffmann stellt zurecht fest, dass Birnbaum teilweise „mit reichlich schiefen Bildern“ (77) arbeite, dass einzelne Texte „vollkommen mißlungen“ (103) und Begriffe „gedankenlos“ (129) gewählt seien oder dass der Autor mit seinen widersprüchlichen Bildern und Bezügen oft „in keinerlei Weise der Realität des Krieges gerecht“ (145) werde. Auch seien einzelne Passagen nicht nur aus heutiger Sicht „durchaus frauenfeindlich“ (87). Kurz gesagt bedeutet dies aber, dass es gerade nicht die Qualität seiner Texte ist, die eine Beschäftigung mit dem Autor Birnbaum lohnenswert macht. Vielmehr können anhand dieser misslungenen, marginalisierten und ideologisch völlig verbohrten Texte, also anhand einer tatsächlich ‚kleinen Literatur‘, die Bedingungen literarischen und literaturhistorischen Scheiterns in der Moderne studiert werden.