Else Lasker-Schüler. Gedichtbuch für Hugo May. Faksimile-Edition. Herausgegeben von Andreas Kilcher und Karl Jürgen Skrodzki. 2 Bände. Darmstadt: Wallstein, 2019. 392 Seiten, EUR 39.–, ISBN 978-3-8353-3447-2

Selma Balsiger  
Bern

Als 2013 eine bisher unbekannte Sammlung an Briefen und Dokumenten Else Lasker-Schülers entdeckt wurde, sahen die Bedingungen für eine wissenschaftliche Aufarbeitung dieses Konvoluts nicht einfach aus. Noch im selben Jahr schloss Andreas Kilcher einen Artikel zum Fund in der Neuen Zürcher Zeitung mit den resignierten Worten, dass „eine wissenschaftliche Aufarbeitung vorerst kaum möglich“ sei, da die Gedichtmanuskripte von einem deutschen Autografenhändler ersteigert worden seien und zergliedert zum Verkauf angeboten würden (NZZ, 24. 12. 2013). Nun ist es ihm und Karl Jürgen Skrodzki glücklicherweise doch gelungen, die Schriftstücke zu sammeln und editorisch aufzuarbeiten.

Das Resultat, die 2019 erschienene Faksimile-Edition des Gedichtbuchs für Hugo May, umfasst zwei Bände. Im ersten Band findet sich das Faksimile des Originals, das Else Lasker-Schüler 1935 ihrem Schweizer Gönner und Freund Hugo May zum Dank für die finanzielle Unterstützung geschenkt hat. Der zweite Band beinhaltet Text und Kommentar zum Gedichtbuch und zu der bisher unbekannten Korrespondenz zwischen Lasker-Schüler und ihren Unterstützern Kurt Ittmann und Hugo May.

Das Gedichtbuch für Hugo May besteht aus 36 handgeschriebenen Gedichten, die einen Querschnitt durch das Werk Lasker-Schülers darstellen. Laut Kilcher ist es die einzige Sammlung, in der sie „frühe avantgardistische Gedichte und solche aus den Jahren der Emigration zusammenbrachte“ (25). Es handle sich um die umfangreichste bekannte Sammelhandschrift Lasker-Schülers, die die bisherigen vergleichbaren Überlieferungen „nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ“ (24) übertreffe. Da das Gedichtbuch vom „künstlerischen Selbstverständnis Lasker-Schülers getragen“ sei, lege dies nahe, das Gedichtbuch nicht nur editionsphilologisch zu erschliessen, sondern den Rezipientinnen und Rezipienten auch in ganzer Gestalt vor Augen zu führen, so Kilcher (26). Lasker-Schüler war auch eine begnadete Zeichnerin und Malerin. Kunst und Literatur lagen bei ihr stets nahe beieinander, daher überzeugt diese Begründung für den Faksimile-Druck. Wer allerdings im Gedichtbuch selbst auf Zeichnungen hofft, wird enttäuscht werden; dazu hat sie keine Illustrationen verfertigt. Dafür beeindruckt ihr kunstvoller Duktus und es wird dank dem Faksimile sichtbar, mit welcher Sorgfalt sie das Gedichtbuch gestaltet hat. In visueller Hinsicht fast interessanter sind jedoch die ausgewählten Briefe, die im zweiten Band abgedruckt sind. Dort finden sich einige charakteristische Skizzen Lasker-Schülers, die den Brieftext ergänzen.

In seiner Einleitung erläutert Andreas Kilcher, in welchem Verhältnis Else Lasker-Schüler zu den beiden Warenhausdirektoren Ittmann und May gestanden hat. Die Korrespondenz nahm ihren Anfang mit einem Brief Lasker-Schülers an Ittmann, in dem sie die Bitte äusserte, einen grossen Reisekoffer in Raten bezahlen zu dürfen. Ihr wurde nicht nur dieses Anliegen genehmigt, sondern die Warenhausdirektoren beschlossen kurz darauf, Lasker-Schüler mit monatlichen Zahlungen zu unterstützen. Angesichts der schwierigen Bedingungen, unter denen Lasker-Schüler als Exilantin in der Schweiz leben musste (dazu gehörte auch ein absolutes Arbeitsverbot), kam dieses Angebot einer rettenden Hand gleich. Aus der Korrespondenz zwischen Lasker-Schüler und den beiden Warenhausdirektoren tritt der harte, zuweilen unmenschliche Umgang der Schweizer Behörden mit Flüchtlingen in dieser Zeit deutlich hervor. Zu Recht räumt Kilcher dieser Thematik auch in seiner Einleitung viel Raum ein. Er zeichnet eindrücklich Lasker-Schülers wiederholtes Bemühen um eine Verlängerung des Aufenthaltsrechts nach, das ihr 1937 unter fadenscheinigen Begründungen verweigert wurde. Schliesslich blieb ihr nichts anderes übrig, als nach Palästina auszuwandern.

Die Briefe an ihre Gönner lassen erahnen, wie schwer es Lasker-Schüler fiel, auf äussere Hilfe angewiesen zu sein. Sie nahm sie zwar an und erbat sie in Engpässen auch selber, aber aus ihren langen Dankbarkeitsbekundungen und ihren zahlreichen Versprechen auf Vergütung in Form von Bildern und Gedichten spricht ihr Stolz und die gleichzeitige Verzweiflung über die fehlende Eigenständigkeit. Viele Stellen zeugen von Angst, Not und Einsamkeit, so zum Beispiel, wenn sie schreibt: „Ich weiß nicht, ob ich Ihnen so schildern kann, was Not heißt. Jeden Abend fürchtete ich den Tag, den nahenden, eine Schlange, die mich erwürgen sollte, immer von Neuem. Trauer und Freude, Weinen und Lachen – vermischt sich da und man wird fremd der Menschheit“ (111–12).

Die Briefe sind aber auch Zeugnis eines starken inneren Widerstands, der sich in den lichtesten Momenten in Form von humoristischen Pfeilspitzen in Richtung Behörden zeigt. So bittet sie im Oktober 1934 May und Ittmann mit folgenden Worten darum, sich für sie bei der Fremdenpolizei zu verwenden: „Oder, ob Sie, das wäre herrlich, der Fremdenpolizei Oberst im Rostroten Ziegenbart schreiben wollen?“ (120). Eine schon fast kindlich-trotzige Frechheit zeigt sich auch in folgender Schilderung aus Ascona: „Hier eine Hölle in miniatur im Nescessaire, sogar im elegantesten. – Auto an Auto, Pracht an Pracht, aber Niemand zeigt uns den Tessin, ja sie grüßen wohlwollend mal aus dem Fenster – ich […] strecke nun den Leuten die Zunge heraus. Sie ist stärker und röter geworfen, seitdem ich (tatsächlich) Zungenguß [sic] mache paar mal am Tag“ (170).

Eine herausragende Entdeckung sind die phantasievollen Reimgedichte, in denen Lasker-Schüler ihrer Dankbarkeit auf besondere Weise Ausdruck verleiht: „In Ihnen beiden wachen noch Indianerreste. / Ich sage immer mit dem gleichen Ueberschwang / Ihnen beiden liebe Inkas tiefsten Dank“ (157).

Die ansprechend gestaltete, übersichtliche und fundierte Faksimile-Edition des Gedichtbuchs für Hugo May ist eine wertvolle Ergänzung zur Kritischen Ausgabe (Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag, 1996–2010), die 2010 mit dem elften Band abgeschlossen wurde. Die sorgfältige editorische Aufarbeitung des Gedichtbuchs und der Korrespondenz mit May und Ittmann bietet viel Stoff für literaturwissenschaftliche und historische Forschung. Gerade die Auswahl und Reihenfolge der Gedichte, die in der Einleitung von Kilcher als aussergewöhnlich hervorgehoben und in der editorischen Notiz durch eine chronologische Aufreihung ergänzt wird, könnte für weiterführende Untersuchungen von Interesse sein.

In den Fussnoten finden sich wertvolle Informationen: Zu jedem Gedicht haben Kilcher/Skrodzki alle Varianten einzelner Verse oder Ausdrücke in anderen Veröffentlichungen zu Lebzeiten Lasker-Schülers angegeben. Auch bei den Briefen zeugen die Fussnoten von gründlicher und detaillierter Nachforschung, so sind beispielsweise die Verweise Lasker-Schülers auf Personen und Orte immer durch zusätzliche Informationen ergänzt. Auch die zahlreichen Hinweise auf biblische Narrative (z. B. die Josefs-Geschichte) werden in den Fussnoten mithilfe von Bibelstellen erläutert und in den grösseren Werkzusammenhang Lasker-Schülers gestellt (vgl. etwa die Fussnote zu „den Joseph von Egypten dichten“, S. 105).

„Ich glaube nicht mehr an Menschen, die sich für Gedichte oder Bilder interessieren“ (185), schrieb Else Lasker-Schüler im November 1937 an Hugo May. Diese Edition, die sie sowohl als bildende Künstlerin wie auch als Dichterin ehrt, würde Lasker-Schüler vielleicht optimistischer stimmen.