Philipp Lenhard. Friedrich Pollock: Die graue Eminenz der Frankfurter Schule. Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2019. 383 Seiten, EUR 32.–, ISBN 978-3-633-54299-4
Bern/Zürich
„Friedrich Pollock wird nie allein erwähnt, sondern immer nur zusammen mit Max Horkheimer“, schrieb Rolf Wiggershaus 1994. In der Tat ist Pollock vor allem als lebenslanger Vertrauter Horkheimers und als Verwalter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in die Geschichte eingegangen. Diese Sichtweise wird nun durch die überhaupt erste Pollock-Biographie ganz wesentlich erweitert. Ihr Verfasser, der Historiker Philipp Lenhard, ist auch Herausgeber der auf sechs Bände angelegten Pollock-Werkausgabe (Gesammelte Schriften. Freiburg im Breisgau: ça ira-Verlag; Band 1, Marxistische Schriften, erschien 2018, Band 2 ist für Herbst 2020 angekündigt).
Der Rahmen lässt sich wie folgt skizzieren: Friedrich Pollock wird 1894 als Sohn eines jüdischen Unternehmers in Freiburg im Breisgau geboren. 1910 zieht die Familie nach Stuttgart, wo es bald zur Begegnung mit dem fast gleichaltrigen Max Horkheimer kommt. Die beiden schließen einen – schriftlich ausformulierten – Freundschaftsvertrag, der ein Leben lang halten sollte. Pollock wird Ökonom und spielt eine zentrale Rolle bei der Gründung und in der Leitung des Instituts für Sozialforschung. 1934 emigriert er in die USA; in New York übernimmt er eine Leitungsfunktion im International Institute of Social Research. 1946, mittlerweile amerikanischer Staatsbürger, zieht er nach Kalifornien, wo auch Horkheimer lebt. Zurück in Europa wird er 1951 Professor für Volkswirtschaftslehre und Soziologie an der Universität Frankfurt, bleibt aber auch im wieder gegründeten Institut für Sozialforschung tätig. Gemeinsam mit Horkheimer nimmt er 1957 Wohnsitz im Tessin, wo er 1970 stirbt. Pollock war zweimal verheiratet und blieb kinderlos; sein Grab befindet sich auf dem Jüdischen Friedhof Bern.
Was Lenhards Buch so lesenswert macht, ist nicht nur die Tatsache, dass er die Aufmerksamkeit auf eine faszinierende Persönlichkeit der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts lenkt, die jahrzehntelang im Schatten prominenterer Mitstreiter gestanden hat. Es ist vor allem die Art und Weise, wie er die weit verstreuten und zu einem erheblichen Teil unveröffentlichten Quellen zu Pollock kritisch auswertet, mit weiterem zeitgenössischen Material verbindet, Erläuterungen zum wissenschaftlichen Werk organisch mit der Lebensgeschichte verknüpft und all dies zu einer immer wieder mitreißend zu lesenden, auch erzählerisch gelungenen Gesamtdarstellung komponiert. Spannend gerät etwa die Darstellung der Ereignisse um Pollock in den Wirren der Münchner Räterepublik. Für die Schilderung des ersten Aufenthalts in Frankfurt nach dem Krieg lässt Lenhard dann vor allem Pollock selbst in nicht publizierten Berichten zur Sprache kommen, und man sieht Stadt und Menschen geradezu mit dessen Augen.
Pollocks jüdischer Hintergrund bleibt das ganze Buch hindurch im Fokus, beginnend mit der Zeichnung des liberalen Milieus der Freiburger Jüdischen Gemeinde und des Vaters, der „mit Juden eigentlich nicht verkehren wollte“ (19–20, Zitat Friedrich Pollock), wie auch des Onkels, der seinen Austritt aus dem Judentum erklärt hatte. Pollock selbst gab sich, was seine jüdische Herkunft anging, fast ostentativ gleichgültig, und das änderte sich auch nach der Verfolgungserfahrung kaum (in seiner Personalakte der Universität Frankfurt findet sich unter „Religionszugehörigkeit“ der Eintrag „Dissident“). Lenhard weist aber darauf hin, dass es noch eine andere Seite gab: So zeigte Pollock in Vorarbeiten zu einer geplanten Karl Marx-Biographie 1920 größtes Interesse an den jüdischen Wurzeln „seines Idols“ (109). Und auch sein Engagement für die jüdische Emigrantenzeitschrift Aufbau lag keineswegs auf der Hand.
Ausführlicher erläutert wird auch das lange Schweigen zum Antisemitismus der 30er-Jahre. Antisemitismus als Selbstzweck war für Pollock anfangs schlicht nicht vorstellbar. Die marxistische Prägung verlangte geradezu nach einer „vernünftigen“ Erklärung, was sich in bisweilen fragwürdigen Deutungen niederschlug; Lenhard verweist auf den Einfluss, den Pollock auf Horkheimers – nicht unproblematischen – Aufsatz „Die Juden und Europa“ hatte. Erst Pollocks Analyse des Nationalsozialismus als einer Form des Staatskapitalismus gab die Sicht frei auf den wahren Charakter des Antisemitismus im NS-Staat, in dem der Primat der Wirtschaft vom Primat der Politik abgelöst worden war.
Diese Analyse wiederum hat ihren Ort in einem von Pollocks ureigenen Interessensgebieten: der Planwirtschaft. Die Beschäftigung mit diesem Thema zieht sich bis ins Hauptwerk Automation: Materialien zur Beurteilung der ökonomischen und sozialen Folgen (1956). In diesem Zusammenhang kommt Lenhard mit Blick auf Adornos Rede von der „verwalteten Welt“ zu dem Schluss: „Es war Pollock, der maßgeblich die ökonomietheoretische Grundlage für Adornos Kulturphilosophie bereitstellte und dadurch die Arbeiten aus den vierziger Jahren mit denjenigen der Nachkriegszeit verknüpfte“ (294). Überhaupt wird der Entwicklung und Bedeutung von Pollocks wissenschaftlichem Werk bis hin zu den späten Überlegungen zur Gerontologie angemessen Raum gegeben, ohne dass der biographische Erzählfluss dadurch gestört würde.
Erwartungsgemäß begegnet man in Pollocks Leben zahlreichen Größen des 20. Jahrhunderts. So trifft man auf „Stars“ der deutschen Emigrantenszene wie Thomas Mann und Bertolt Brecht (der Horkheimer und Pollock verächtlich als „Doppelclown“ bezeichnete); weit interessanter sind aber wichtige Mitarbeiter Pollocks wie Paul W. Massing oder Karl A. Wittfogel, die auch kurz biographisch eingeführt werden. Mit Blick auf Walter Benjamin setzt Lenhard sich so ausführlich wie kritisch mit Hannah Arendts Vorwurf auseinander, das Institut trage eine Mitschuld an dessen Tod.
Wenige Leerstellen bleiben: Dass etwa Adorno fast unmerklich zur Randfigur wird, mag beabsichtigt und angesichts der vorhandenen Literatur auch berechtigt sein; es wäre dennoch interessant, aus der Perspektive Pollocks etwas über das zumindest von Adornos Seite her angespannte Verhältnis während der Jahre 1934/35 im Zusammenhang mit der Londoner Zweigstelle des Instituts zu erfahren.
Ein Hinweis zum Schluss (zu S. 323–24): Während die traditionelle ת.נ.צ.ב.ה-Grabsteininschrift in der Form ה.נ.צ.נ.ה auf Pollocks Grab tatsächlich rätselhaft ist, zeigt die (heute beschädigte) Inschrift auf dem Grab Horkheimers die klassische Buchstabenfolge.