Gershom Scholem. Poetica: Schriften zur Literatur, Übersetzungen, Gedichte. Herausgegeben und kommentiert von Herbert Kopp-Oberstebrink, Hannah Markus, Martin Treml und Sigrid Weigel, unter Mitarbeit von Theresia Heuer. Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2019. 783 Seiten, EUR 58, ISBN 978-3-633-54292-5

Judith Hélène Stadler  
Unterlunkhofen

Weit über seinen Fachbereich hinaus erlangte Gershom Scholem (1897–1982) durch seine Forschungen zur jüdischen Mystik Berühmtheit. Der 2019 erschienene Textband Poetica: Schriften zur Literatur, Übersetzungen, Gedichte ergänzt nun das Bild des Religionshistorikers und zeigt erstmals systematisch und ausführlich seine literarische Seite: Aufsätze zu sprach- und übersetzungstheoretischen Fragen, Artikel über zeitgenössische Literatur, Verdeutschungen hebräischer Texte und eigene Gedichte. Herausgegeben hat das umfangreiche und bedeutende Werk über Scholems wenig bekannte Seite ein interdisziplinäres Team: die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel, der Kulturwissenschaftler und Judaist Martin Treml, der Philosoph Herbert Kopp-Oberstebrink (Mitherausgeber von Scholems Tagebüchern) und die Religionswissenschaftlerin Hannah Markus.

Bis in die 1990er Jahre interessierte der literarische Scholem die Forschung kaum. Grössere Aufmerksamkeit gewann der Übersetzer, Kritiker und Literat Scholem 1992 durch die Berliner Tagung Gershom Scholem. Zwischen den Disziplinen und 1996 durch die Potsdamer Tagung Literatur und Rhetorik. 1995 und 2000 leisteten die Herausgeber seiner Tagebücher, die einige Übersetzungen und Gedichte enthielten, einen weiteren wichtigen Beitrag. Umfassender wird das Bild durch die nun vorliegende Edition, an der mehr als zwanzig Jahre gearbeitet wurde. Hier zeigt sich, wie produktiv Scholem literarisch war, hier lässt sich entdecken, über welches Rhythmus- und Sprachgefühl er verfügte. Neben Erstpublikationen von Unveröffentlichtem aus dem Nachlass (44 der 119 Texte) findet sich hier auch unabhängig voneinander Veröffentlichtes: Nachdrucke aus Zeitschriften und Sammelbänden und verstreute sekundärliterarische Materialien aus früheren Werken. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben – da sie nicht eine historisch-kritische Ausgabe anstrebten – legen die Herausgeber*innen literarische Texte unterschiedlichster Qualität thematisch strukturiert und sorgfältig kommentiert vor. Scholems literarische Seite stellen sie in sechs Hauptkapiteln vor. Das erste Kapitel zeigt seine Beschäftigung mit Klage und Klageliedern, das zweite Übersetzungen anderer religiöser Texte aus dem Hebräischen und Aramäischen. Beide Kapitel behandeln Texte aus verschiedenen Zeiten und Räumen. Das dritte Kapitel beinhaltet sprach- und übersetzungstheoretische Überlegungen zu Jiddisch, Hebräisch, Aramäisch und Ivrit. Hier finden sich auch Erwiderungen auf Scholems Aufsätze und dessen Antworten. Das vierte Kapitel ist den Übersetzungen und Kritiken zu Chaim Nachman Bialik und Samuel Josef Agnon gewidmet. Das fünfte Kapitel zeigt eine Sammlung von Aufzeichnungen und Aufsätzen zu einzelnen Autor*innen (wie Else Lasker-Schüler, Lea Goldberg, Alfred Margul-Sperber, Harry A. Wolfson), von Kritiken und Artikeln zu literarischen Texten (wie Eduard Mörikes Maler Nolten, Rainer Maria Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Franz Kafkas Der Prozess, Kurt Tucholskys Ausgewählte Briefe, Gustav Meyrinks Engel vom westlichen Fenster, Philip Roths Portnoys Complaint) und Besprechungen von Publikationen zur Kabbala, zu jüdischer Philosophie und Geschichte. Im sechsten Kapitel finden sich mehr als ein Drittel der zwischen 1914 und 1974 verfassten Gedichte, vor allem diejenigen, die er nach 1916 schrieb und die im Zusammenhang mit anderen Arbeiten und Übersetzungen stehen.

Poetica zeigt also Scholems lebenslanges literarisches Wirken, wobei er sich unterschiedlichster literarischer Formen und Mittel bediente. Vor seiner Alija übersetzte er zwecks Wiederbelebung jüdischer Traditionen religiöse hebräische Texte – die Psalmen, das Hohelied, Hiob, Jona und mittelalterliche Pijutim – aber auch neuhebräische Literatur von Bialik und Agnon. Früh beschäftigte er sich mit den für das Judentum wichtigen Traditionen der Liebeslyrik, der Klage und des Klageliedes, deren poetische Kraft er auf die hebräische Sprache zurückführte. Auch die Kabbala faszinierte ihn durch ihre Poesie. Programmatisch ist sein Aufsatz Lyrik der Kabbala 1921. Gleichzeitig stellte er übersetzungstheoretische Überlegungen an. Hebräisch war für ihn Ausdruck der Schöpfung, die Sprache schlechthin, die nach Strenge und Zucht verlangte. Hebräischer Lyrik aus dem Tanach gestand er einzigartige Würde zu. In Palästina wurde die Beschäftigung mit Mystik zentral. Als Gegner mystischer Verdunkelungen und Verklärungen war es ihm in seinen religionswissenschaftlichen Studien zur Kabbala ein Anliegen, religiöse Traditionen sprachlich zu analysieren. Schon bald war er vom Zionismus in Palästina, der das religiöse Erbe und die hebräische Sprache säkularisierte, enttäuscht. Immer wieder monierte er den Niedergang religiöser Traditionen, was sich in der Verweltlichung des Hebräischen ausdrückte. Dem Ivrit als profaner Sprache und neuhebräischer Literatur stand er zeit seines Lebens kritisch gegenüber. Von Agnons Werken abgesehen bezeichnete er die Poesie neuhebräischer Dichter als negativ, unrein, areligiös, geschwätzig und sentimental. Zu stark hatten sie sich vom Hebräischen des Tanach und dessen religiösen Gehalten entfernt. In der Tradition der Apokalypse beschwor er den Eingriff des Höchsten und die Vernichtung des säkularisierten Hebräischen. Besonders stark reagierte er, wenn die Ansicht geäussert wurde, das Hohelied, dessen Metaphorik für ihn absolut rein war, beinhalte Erotisches, oder wenn sich Erotik in zeitgenössischer hebräischer Literatur zeigte.

Scholem mischte sich gerne in Debatten über zeitgenössische Weltliteratur ein. So galten seine Literaturkritiken auch Mörike und Rilke. Aber mit jüdischen Dichter*innen ging er besonders streng ins Gericht. Engagiert und emotional rang er um die eigene Positionierung in den Debatten um das Judentum. Lasker-Schülers Aufmachung und ihre Redeweise fand er verrückt, Tucholsky und Roth dienten seines Erachtens dem Antisemitismus zu. Vor allem Portnoys Complaint fand er ekelhaft, Roth bediene sich Vorurteilen betreffend jüdischen Sexualverhaltens und trage zum Zerfall religiöser Traditionen bei. Er vermochte Roths Werk nur aus seiner eigenen Perspektive zu lesen. Seine Äusserungen zur Gegenwartsliteratur zeigen, wie eng sein literarischer Horizont im Grunde war. Meist betraf seine harsche Kritik den Inhalt eines Werks, während ihn die künstlerische Form und der Stil kaum interessierten. Der vorliegende Band zeigt auch, wie schwierig es war, seinen Meinungsäusserungen, denen Wahrheitsansprüche zugrunde lagen, mit Argumenten beizukommen.

Zeit seines Lebens verfasste Scholem auch selbst Lyrik, zum Beispiel Antikriegsgedichte und kritische Reflexionen zum Zionismus. Entsprechend finden sich in Poetica 52 nachdenkliche, aber auch humorvolle gereimte Texte, bei denen oft das Motiv der Klage zentral ist. Die meisten waren nicht zur Veröffentlichung gedacht. Er schrieb sie, um sich und seine Erfahrungen zu reflektieren oder eine heikle Frage zu behandeln. Mit Gedichten konnte er mehr und anderes ausdrücken.

Für Forschende ist der Band von unschätzbarem Wert. Sie müssen nun einzelne literarische Texte nicht mehr aus dem Nachlass in der National Library of Israel oder aus verschiedenen Zeitschriften (z. B. Der Jude, Haaretz, NZZ) mühsam zusammensuchen. Dienlich ist, dass die Herausgeber*innen zum Teil Entgegnungen auf Scholems Ausführungen und Angriffe aufgenommen haben. Hilfreich sind die ausführlichen Einleitungen in jedes Hauptkapitel und die Erläuterungen nach jedem Text (vgl. z. B. 540–87, die ausführlichen Erläuterungen zu dem gegen Meir Wiener, Martin Buber und die Wissenschaft des Judentums generell gerichteten Aufsatz Lyrik der Kabbala?). In den Kommentaren finden sich zunächst Angaben zur Entstehungszeit, Textgrundlage und Druckgeschichte, dann folgen ein Sachkommentar und Erläuterungen zu Personen, die der breiteren Leserschaft nicht bekannt sind. Bei den Übersetzungen religiöser Texte stehen die Nachweise des Originals, danach Varianten und Erklärungen hebräischer Wörter. Auch bei den Gedichten finden sich in den Kommentaren wichtige Varianten. Die deutschen Übersetzungen einiger in Ivrit verfasster Gedichte und Artikel und das Glossar mit Grundbegriffen aus Hebraica und Judaica am Ende des Werkes ermöglichen es Interessierten, die nicht aus dem Bereich der Jüdischen Studien kommen, die Texte zu verstehen.

Scholems Gesamtwerk kann nun in einem systematischen Zusammenhang untersucht werden. So wird zum Beispiel deutlich, dass sein Bekenntnis über unsere Sprache 1926 (288–93), das die Gefahren des säkularisierten Hebräisch thematisiert, eine Weiterführung seiner schon in Deutschland formulierten Überlegungen ist (vgl. Wie soll man Hebräisch lernen 1919, 250–54), oder dass seine Kritik an Mörike und Rilke (529–39) in seiner intensiven Beschäftigung zu Klage und Klageliedern gründet.

Poetica ist eine höchst interessante Fundgrube für Forschende aus unterschiedlichen Bereichen – Judaistik, Hebraistik, Theologie, Bibelwissenschaft, Literaturwissenschaft, Geschichte, Translation Studies –, die anhand dieser Textsammlung unter anderem Folgendes untersuchen können:

Die in Poetica veröffentlichten Texte zeigen eindrücklich, wie stark Scholem am Zusammenspiel religiöser und literarischer Fragen interessiert war und welche Bedeutung sie für ihn hatten. Generell erlauben sie eine umfassendere Betrachtung seines Verständnisses von Judentum und seines gesamten wissenschaftlichen Werks.