Weit über seinen Fachbereich hinaus erlangte Gershom Scholem (1897–1982) durch seine
Forschungen zur jüdischen Mystik Berühmtheit. Der 2019 erschienene Textband Poetica:
Schriften zur Literatur, Übersetzungen, Gedichte ergänzt nun das Bild des
Religionshistorikers und zeigt erstmals systematisch und ausführlich seine literarische
Seite:
Aufsätze zu sprach- und übersetzungstheoretischen Fragen, Artikel über zeitgenössische
Literatur, Verdeutschungen hebräischer Texte und eigene Gedichte. Herausgegeben hat
das
umfangreiche und bedeutende Werk über Scholems wenig bekannte Seite ein interdisziplinäres
Team: die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel, der Kulturwissenschaftler und
Judaist
Martin Treml, der Philosoph Herbert Kopp-Oberstebrink (Mitherausgeber von Scholems
Tagebüchern) und die Religionswissenschaftlerin Hannah Markus.
Bis in die 1990er Jahre interessierte der literarische Scholem die Forschung kaum.
Grössere
Aufmerksamkeit gewann der Übersetzer, Kritiker und Literat Scholem 1992 durch die
Berliner
Tagung Gershom Scholem. Zwischen den Disziplinen und 1996 durch die Potsdamer
Tagung Literatur und Rhetorik. 1995 und 2000 leisteten die Herausgeber seiner
Tagebücher, die einige Übersetzungen und Gedichte enthielten, einen weiteren wichtigen
Beitrag. Umfassender wird das Bild durch die nun vorliegende Edition, an der mehr
als zwanzig
Jahre gearbeitet wurde. Hier zeigt sich, wie produktiv Scholem literarisch war, hier
lässt
sich entdecken, über welches Rhythmus- und Sprachgefühl er verfügte. Neben Erstpublikationen
von Unveröffentlichtem aus dem Nachlass (44 der 119 Texte) findet sich hier auch unabhängig
voneinander Veröffentlichtes: Nachdrucke aus Zeitschriften und Sammelbänden und verstreute
sekundärliterarische Materialien aus früheren Werken. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit
zu
erheben – da sie nicht eine historisch-kritische Ausgabe anstrebten – legen die
Herausgeber*innen literarische Texte unterschiedlichster Qualität thematisch strukturiert
und
sorgfältig kommentiert vor. Scholems literarische Seite stellen sie in sechs Hauptkapiteln
vor. Das erste Kapitel zeigt seine Beschäftigung mit Klage und Klageliedern, das zweite
Übersetzungen anderer religiöser Texte aus dem Hebräischen und Aramäischen. Beide
Kapitel
behandeln Texte aus verschiedenen Zeiten und Räumen. Das dritte Kapitel beinhaltet
sprach- und
übersetzungstheoretische Überlegungen zu Jiddisch, Hebräisch, Aramäisch und Ivrit.
Hier finden
sich auch Erwiderungen auf Scholems Aufsätze und dessen Antworten. Das vierte Kapitel
ist den
Übersetzungen und Kritiken zu Chaim Nachman Bialik und Samuel Josef Agnon gewidmet.
Das fünfte
Kapitel zeigt eine Sammlung von Aufzeichnungen und Aufsätzen zu einzelnen Autor*innen
(wie
Else Lasker-Schüler, Lea Goldberg, Alfred Margul-Sperber, Harry A. Wolfson), von
Kritiken und
Artikeln zu literarischen Texten (wie Eduard Mörikes Maler Nolten, Rainer
Maria Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Franz Kafkas
Der Prozess, Kurt Tucholskys Ausgewählte Briefe, Gustav
Meyrinks Engel vom westlichen Fenster, Philip Roths Portnoys
Complaint) und Besprechungen von Publikationen zur Kabbala, zu jüdischer
Philosophie und Geschichte. Im sechsten Kapitel finden sich mehr als ein Drittel der
zwischen
1914 und 1974 verfassten Gedichte, vor allem diejenigen, die er nach 1916 schrieb
und die im
Zusammenhang mit anderen Arbeiten und Übersetzungen stehen.
Poetica zeigt also Scholems lebenslanges literarisches Wirken, wobei er sich
unterschiedlichster literarischer Formen und Mittel bediente. Vor seiner Alija übersetzte
er
zwecks Wiederbelebung jüdischer Traditionen religiöse hebräische Texte – die Psalmen,
das
Hohelied, Hiob, Jona und mittelalterliche Pijutim – aber auch neuhebräische Literatur
von
Bialik und Agnon. Früh beschäftigte er sich mit den für das Judentum wichtigen Traditionen
der
Liebeslyrik, der Klage und des Klageliedes, deren poetische Kraft er auf die hebräische
Sprache zurückführte. Auch die Kabbala faszinierte ihn durch ihre Poesie. Programmatisch
ist
sein Aufsatz Lyrik der Kabbala 1921. Gleichzeitig stellte er
übersetzungstheoretische Überlegungen an. Hebräisch war für ihn Ausdruck der Schöpfung,
die Sprache schlechthin, die nach Strenge und Zucht verlangte. Hebräischer
Lyrik aus dem Tanach gestand er einzigartige Würde zu. In Palästina wurde die Beschäftigung
mit Mystik zentral. Als Gegner mystischer Verdunkelungen und Verklärungen war es ihm
in seinen
religionswissenschaftlichen Studien zur Kabbala ein Anliegen, religiöse Traditionen
sprachlich
zu analysieren. Schon bald war er vom Zionismus in Palästina, der das religiöse Erbe
und die
hebräische Sprache säkularisierte, enttäuscht. Immer wieder monierte er den Niedergang
religiöser Traditionen, was sich in der Verweltlichung des Hebräischen ausdrückte.
Dem Ivrit
als profaner Sprache und neuhebräischer Literatur stand er zeit seines Lebens kritisch
gegenüber. Von Agnons Werken abgesehen bezeichnete er die Poesie neuhebräischer Dichter
als
negativ, unrein, areligiös, geschwätzig und sentimental. Zu stark hatten sie sich
vom
Hebräischen des Tanach und dessen religiösen Gehalten entfernt. In der Tradition der
Apokalypse beschwor er den Eingriff des Höchsten und die Vernichtung des säkularisierten
Hebräischen. Besonders stark reagierte er, wenn die Ansicht geäussert wurde, das Hohelied,
dessen Metaphorik für ihn absolut rein war, beinhalte Erotisches, oder wenn sich Erotik
in
zeitgenössischer hebräischer Literatur zeigte.
Scholem mischte sich gerne in Debatten über zeitgenössische Weltliteratur ein. So
galten
seine Literaturkritiken auch Mörike und Rilke. Aber mit jüdischen Dichter*innen ging
er
besonders streng ins Gericht. Engagiert und emotional rang er um die eigene Positionierung
in
den Debatten um das Judentum. Lasker-Schülers Aufmachung und ihre Redeweise fand er
verrückt,
Tucholsky und Roth dienten seines Erachtens dem Antisemitismus zu. Vor allem Portnoys
Complaint fand er ekelhaft, Roth bediene sich Vorurteilen betreffend jüdischen
Sexualverhaltens und trage zum Zerfall religiöser Traditionen bei. Er vermochte Roths
Werk nur
aus seiner eigenen Perspektive zu lesen. Seine Äusserungen zur Gegenwartsliteratur
zeigen, wie
eng sein literarischer Horizont im Grunde war. Meist betraf seine harsche Kritik den
Inhalt
eines Werks, während ihn die künstlerische Form und der Stil kaum interessierten.
Der
vorliegende Band zeigt auch, wie schwierig es war, seinen Meinungsäusserungen, denen
Wahrheitsansprüche zugrunde lagen, mit Argumenten beizukommen.
Zeit seines Lebens verfasste Scholem auch selbst Lyrik, zum Beispiel Antikriegsgedichte
und
kritische Reflexionen zum Zionismus. Entsprechend finden sich in Poetica 52
nachdenkliche, aber auch humorvolle gereimte Texte, bei denen oft das Motiv der Klage
zentral
ist. Die meisten waren nicht zur Veröffentlichung gedacht. Er schrieb sie, um sich
und seine
Erfahrungen zu reflektieren oder eine heikle Frage zu behandeln. Mit Gedichten konnte
er mehr
und anderes ausdrücken.
Für Forschende ist der Band von unschätzbarem Wert. Sie müssen nun einzelne literarische
Texte nicht mehr aus dem Nachlass in der National Library of Israel oder aus
verschiedenen Zeitschriften (z. B. Der Jude, Haaretz, NZZ)
mühsam zusammensuchen. Dienlich ist, dass die Herausgeber*innen zum Teil Entgegnungen
auf
Scholems Ausführungen und Angriffe aufgenommen haben. Hilfreich sind die ausführlichen
Einleitungen in jedes Hauptkapitel und die Erläuterungen nach jedem Text (vgl. z. B.
540–87,
die ausführlichen Erläuterungen zu dem gegen Meir Wiener, Martin Buber und die Wissenschaft
des Judentums generell gerichteten Aufsatz Lyrik der Kabbala?). In den
Kommentaren finden sich zunächst Angaben zur Entstehungszeit, Textgrundlage und
Druckgeschichte, dann folgen ein Sachkommentar und Erläuterungen zu Personen, die
der
breiteren Leserschaft nicht bekannt sind. Bei den Übersetzungen religiöser Texte stehen
die
Nachweise des Originals, danach Varianten und Erklärungen hebräischer Wörter. Auch
bei den
Gedichten finden sich in den Kommentaren wichtige Varianten. Die deutschen Übersetzungen
einiger in Ivrit verfasster Gedichte und Artikel und das Glossar mit Grundbegriffen
aus
Hebraica und Judaica am Ende des Werkes ermöglichen es Interessierten, die nicht aus
dem
Bereich der Jüdischen Studien kommen, die Texte zu verstehen.
Scholems Gesamtwerk kann nun in einem systematischen Zusammenhang untersucht werden.
So wird
zum Beispiel deutlich, dass sein Bekenntnis über unsere Sprache 1926
(288–93), das die Gefahren des säkularisierten Hebräisch thematisiert, eine Weiterführung
seiner schon in Deutschland formulierten Überlegungen ist (vgl. Wie soll man Hebräisch
lernen 1919, 250–54), oder dass seine Kritik an Mörike und Rilke (529–39) in seiner
intensiven Beschäftigung zu Klage und Klageliedern gründet.
Poetica ist eine höchst interessante Fundgrube für Forschende aus
unterschiedlichen Bereichen – Judaistik, Hebraistik, Theologie, Bibelwissenschaft,
Literaturwissenschaft, Geschichte, Translation Studies –, die anhand dieser Textsammlung
unter
anderem Folgendes untersuchen können:
-
Scholems Übertragungen von Halevis Dichtung, sowie von Gebeten und Hymnen, so zum
Beispiel sein Umgang mit Parallelismen
-
Seine Übertragungen aus dem Tanach, bei denen er sich konsequent von Luther, Buber
und
Rosenzweig abwendet und Wörtlichkeit als Ideal verfolgt
-
Seine Konzentration auf spezifisch jüdische Aspekte im Leben und Schaffen von
Dichtern
-
Scholems religiös-konservativer Umgang mit philologischen Fragen in seinen Kritiken
zu
zeitgenössischer Literatur, bei denen er die Aussage eines Werks ausblendet, was einen
anderen Aspekt von Rezeptionsgeschichte zeigt
-
Scholems Gedichte, die Zeugnis seines Sendungsbewusstseins, seines Verständnisses
von
Sprache und seiner Rezeption von Ereignissen ablegen
-
Spannungen und Widersprüche zwischen Publiziertem und Unpubliziertem, so zum Beispiel
in
den Dokumenten seiner Freundschaft zu Walter Benjamin
Die in Poetica veröffentlichten Texte zeigen eindrücklich, wie stark Scholem
am Zusammenspiel religiöser und literarischer Fragen interessiert war und welche Bedeutung
sie
für ihn hatten. Generell erlauben sie eine umfassendere Betrachtung seines Verständnisses
von
Judentum und seines gesamten wissenschaftlichen Werks.