Dies ist der zweite Band, den die Reihe SAPERE Philon von
Alexandrien widmet. Der erste, Abrahams
Aufbruch (De migratione Abrahami),
erschien 2017, herausgegeben von Maren R. Niehoff
und Reinhard Feldmeier. Die Neuerscheinung
verweist schon im ersten Satz der Einleitung auf
die Kontinuität. Insgesamt ist es ein Band, der
gern Farbe bekennt. Schon der Klappentext lässt
wissen: „Philons Biographie Abrahams ist eine
Werbeschrift für das Judentum. Sie entstand
vermutlich als literarisches Begleitprojekt zu
Philons politischer Mission in Rom […]. Der
vorliegende Band führt in diesen
zeitgeschichtlichen Kontext ein […].“
Dem Leser sind hier erstaunlich viele gar nicht so leicht zu
treffende Entscheidungen vorweggenommen: Ist
De Abrahamo tatsächlich eine
Biographie? Ist dieses Werk an ein nichtjüdisches
Publikum gerichtet mit dem Zweck, Proselyten zu
gewinnen? Hat es etwas mit Philons Reise nach Rom
im Jahre 38 u. Z. zu tun? Der Klappentext – und
auch die Einleitung – schaffen Tatsachen dort, wo
die Forschung immer noch Wege sucht. Das war schon
im ersten Band, De migratione
Abrahami, so. Dort lesen wir auf S. 4 der
Einleitung aus der Feder von Niehoff: „Bisher
bestand kein Konsens über die Chronologie von
Philons Schriften und damit ließ sich auch sein
intellektueller Werdegang nicht erschließen.
Kürzlich jedoch haben sich neue Erkenntnisse
ergeben“. Neue Erkenntnisse in der
Altertumswissenschaft – das ist immer aufregend.
Hat man etwa neue Papyri gefunden? Fragmente von
Philons Tagebuch? Aber nein, bei Lichte besehen
geht es darum, dass Niehoff sich dafür entschieden
hat, das einzige bekannte Datum aus Philons Leben,
seine Teilnahme an der Gesandtschaft zu Caligula,
zum Angelpunkt der Interpretation zu machen und zu
behaupten, Rom habe ihm allerlei Erkenntnisse
gebracht, die er in Alexandrien nicht hätte haben
können. Es ist hier nicht der Ort, sich mit dieser
Theorie auseinanderzusetzen, der Leser muss aber
gewarnt werden: Einen Konsens diesbezüglich gibt
es nicht; das selbstverständliche Hantieren mit
„Philons alexandrinischem Frühwerk“ versus
„römisches Spätwerk“ ist daher aus meiner Sicht in
einer kommentierten Textausgabe irreführend. Die
Einführung und die Anmerkungen von Daniel
Lanzinger im vorliegenden Band setzen aber diese
„neuen Erkenntnisse“ in einer recht apodiktischen
Weise voraus und arbeiten konsequent daraufhin,
sie als Fakten darzustellen (vgl.
„Vorbemerkungen“, S. 3). Nun,
jede Theorie ist gut, wenn sie unser Verständnis
der antiken Texte fördert. Was gewinnen wir, wenn
wir an die Abfassung der Schrift in Rom nach
38 u. Z. glauben? Nach Ausweis von
Niehoff/Lanzinger entdeckte Philon in Rom die
philosophische Richtung des Stoizismus – in
Alexandrien hätten alle nur Platon gelesen – und
die Gattung der Biographie; auch fand er dort ein
neues Publikum vor: nichtjüdisch, also ohne
Bibelkenntnisse, aber dem Judentum wohlwollend
zugewandt – die römische Oberschicht. De
Abrahamo wäre das Ergebnis dieser
überraschenden Horizonterweiterung: Philon, aus
seinem Krähwinkel Alexandrien (diese Vorstellung
muss man sich auf der Zunge zergehen lassen!) zum
ersten Mal in die Kulturhauptstadt Rom geraten,
schuf prompt für das nichtjüdische Publikum eine
moralisierende Biographie des biblischen Urvaters,
dessen Darstellung in Philon dem stoischen Weisen
nachempfunden ist, andererseits aber Plutarchs
Biographien historischer Persönlichkeiten
vorwegnimmt. In dem Essay von Maren R. Niehoff im
Teil C des Buches, Philon als
Biograph, lesen wir dazu noch: Philons
Schrift „stützt sich auf die ‚hochheiligen
Schriften‘ als historische Quelle und entbindet
Philon somit einer gründlichen Recherche, wie sie
etwa Plutarch eine Generation später unternahm.
Die mühsame Arbeit in griechischen und römischen
Archiven blieb Philon erspart“ (147). Eine schöne
Vergleichsbasis! Ich hätte viel für die Auskunft
gegeben, in welchen Archiven Philon sich für die
Biographie Abrahams der mühsamen Arbeit hätte
unterziehen sollen, fehlte ihm nicht Plutarchs
bewundernswerte Gründlichkeit. Da der Text von
De Abrahamo dem Leser des Bandes
auch vorliegt und von ihm hoffentlich als Erstes
gelesen wird, erübrigt sich aus meiner Sicht
langes Argumentieren, um zu zeigen, dass diese
Schrift keine Ähnlichkeit mit Plutarchs
Biographien historischer Persönlichkeiten und
überhaupt mit der Gattung der Lebensbeschreibung
hat. Da der Held erst in § 60 auftaucht, um
sogleich im Alter von 75 Jahren nach Haran
auszuwandern, worauf eine allegorische
Interpretation dieses Geschehens folgt, wird dies
jeder selbst merken. Ein Punkt aber verdient, kurz
erörtert zu werden: Sowohl Niehoff in ihrem Essay
als auch Lanzinger in der Einführung sehen die
Gattung von De Abrahamo in der
griechischen Überschrift des Traktats definiert,
wobei ein einziges kurzes Wort die ganze Last der
Argumentation tragen soll. Lanzinger schreibt in
der Einleitung (mit Verweis auf den Beitrag von
Niehoff in diesem Band): „Der überlieferte Titel
des Werks lautet: ‚Das Leben (βίος) des Weisen,
der durch Belehrung vollendet wurde, oder das
erste Buch der ungeschriebenen Gesetze, das von
Abraham handelt‘. Das Stichwort βίος weckt bei
antiken Lesern die Erwartung, die Biographie einer
bedeutenden Persönlichkeit vorliegen zu haben –
und damit einer Gattung, die sich in der römischen
Oberschicht großer Beliebtheit erfreute“ (10).
Abgesehen davon, dass diese „besondere
Beliebtheit“ der Biographie spezifisch in Rom in
der ersten Hälfte des 1. Jh. u. Z. gar nicht
belegt ist, hat βίος, auch in seiner Eigenschaft
als literarische Gattung, mehr als nur eine
Bedeutung. Der antike Leser, wie auch der heutige,
erwartete bestimmt die Biographie einer
bedeutenden Persönlichkeit, wenn er eine
Überschrift wie „Das Leben des Divus Julius“ oder
„Das Leben des großen Alexanders“ hörte. Eine
Überschrift wie etwa ΠΕΡΙ ΒΙΟΥ ΘΕΩΡΗΤΙΚΟΥ, „Über
das betrachtende Leben“, weckte ganz andere
Erwartungen. βίος ist nämlich nicht nur eine
Biographie, sondern auch eine „Lebensweise“.
Unterschiedliche Muster, nach denen man sein Leben
richten kann oder soll, waren ein beliebtes Thema
in der hellenistischen Literatur. ΒΙΟΣ ΣΟΦΟΥ ΤΟΥ
ΚΑΤΑ ΔΙΔΑΣΚΑΛΙΑΝ ΤΕΛΕΙΩΘΕΝΤΟΣ, „Das Leben eines
Weisen, der die Vollendung durch Belehrung
erreicht“ gehört in dieselbe Kategorie, der Leser
erwartet eine philosophische Predigt in Form eines
Exempels. Noch im Mittelalter haben unzählige
Abhandlungen zur Vita activa und
Vita contemplativa entsprechend
Martha und Maria bemüht, aber keiner erwartete
dabei Biographien von Lazarusʼ Schwestern. Man
nahm sie als Symbole und kommentierte in diesem
Sinn den heiligen Text, wo sie vorkommen – wie
auch Philon es mit Abraham tut.
Nun, in einer zweisprachigen Ausgabe mit Kommentar, auch wenn
der Letztere sich auf knapp 20 Seiten Anmerkungen
beschränkt, ist doch der Text selbst – die
Neuübersetzung und die in den Anmerkungen
dargebotene Hilfe zum unmittelbaren Verständnis
von Philons Worten – das eigentliche Herzstück, an
dem sich der Nutzen der „neuen Erkenntnisse“
messen lässt. Hierzu einige Beobachtungen:
De Abrahamo ist vor allem – oder, nach
Lanzinger, „auch“ (11) – ein Bibelkommentar, und
zwar zur griechischen Übersetzung der Genesis, der
Septuaginta. Mancher Passus wird nur verständlich,
wenn man den griechischen Wortlaut berücksichtigt.
Die gängigen deutschen Bibelübersetzungen, die
sich alle an dem hebräischen Text orientieren,
können den Philon-Leser daher öfters nur
verwirren. Ein Griff zur Septuaginta Deutsch kann
manchmal helfen; entsprechende Hinweise in den
Anmerkungen wären leserfreundlich.
Erstaunlicherweise wird das genannte Hilfsmittel
überhaupt nicht im Band erwähnt. Manchmal aber
müsste der Kommentator auch selbst
Grundinformationen liefern, ohne die der Text
schier unverständlich bleibt, tut es aber nicht.
Dies ist wohl der Erkenntnis geschuldet, dass
Philon eine elementare Einleitung für ein
nichtjüdisches Publikum ohne Bibelkenntnisse
schreibt und es deswegen mit dem Genesis-Text
nicht so genau nimmt (Einführung, S. 7–8) – eine
für eine Annäherung an Philon eher ungünstige
Vorstellung. Das läßt sich etwa an den Anmerkungen
zur Auslegung von Enosch (§§ 7–16) anschaulich
zeigen. Philon sagt, der Name Enosch bedeute auf
Chaldäisch „Mensch“; die Ehre, den Gattungsnamen
als seinen Eigennamen zu führen, würde diesem
„ersten Liebhaber der Hoffnung“ deswegen gewährt,
weil nur der Hoffende wahrhaftig Mensch sei. Zum
„Liebhaber der Hoffnung“, welcher den Benutzer
einer deutschen Bibelübersetzung bestimmt stutzen
lässt, da er in seinem Bibeltext keinen
Anhaltspunkt für diese Bezeichnung findet, gibt es
zunächst keine Anmerkung. Zur philonischen
Erklärungsklausel „weil allein derjenige wahrhaft
Mensch ist, der das Gute erwartet und sich auf
glückverheißende Hoffnungen stützt“ lautet die
Anmerkung (Anm. 9, S. 128): „Enosch wird in Gen
5,6–11 erwähnt, wo man allerdings nur seine
genealogische Einordnung und sein Alter (905
Jahre) erfährt. Philons Auslegung stützt sich
dabei allein auf die Namensetymologie. Die Deutung
Enoschs als Hoffnung bietet Philon auch in Praem.
11–14; Det. 138 f.; QG I, 79 f.“ Die Etymologie
lautet „Mensch“, das einzige wesentliche Merkmal
des Enosch ist sein erreichtes Alter von 905
Jahren; darauf gestützt, erklärt uns die
Anmerkung, interpretiere Philon diese Figur
regelmäßig als Hoffnung; Philons Kommentieren
scheint mit dem Bibeltext sehr wenig zu tun zu
haben! Erstaunlich dabei ist, dass der Verweis auf
den für Philons Ausführungen einschlägigen
Bibelvers doch nicht ganz ausbleibt: Zu dem
Halbsatz „dass dieser auf den Vater und Schöpfer
des Alls hoffte“ steht in Anmerkung 10 (ebd.):
„Vgl. Gen 4,26. Die Formulierung ‚Vater und
Schöpfer des Alls‘ ist ein Anklang an Platon.“ Der
Vers 4,26 lautet in Luthers Übersetzung:
Und Seth zeugte auch einen Sohn und nannte
ihn Enosch. Zu der Zeit fing man an, den Namen des
Herrn anzurufen. Der Leser muss
wohl annehmen, der Verweis erkläre die Verbindung
zwischen Enosch und dem Herrn bzw. Vater des Alls.
Warum diese Verbindung so prominent als Hoffnung
definiert wird, bleibt rätselhaft. Dabei ist die
Sache einfach. Alles, was der Leser für ein
besseres Verständnis zu wissen braucht, ist, dass
sich diese Auslegung auf den Vers Gen 4,26
der Septuaginta bezieht. Dort
steht nämlich – ein des Griechischen unkundiger
Leser kann es in der Septuaginta Deutsch
nachschauen – dieser hoffte darauf, den
Namen Gottes des Herrn anzurufen. Des
Weiteren wäre wohl nicht irrelevant, darauf
hinzuweisen, dass diese Deutung des hebräischen
Textes zwar nicht der masoretischen Vokalisierung
(und entsprechend den neuzeitlichen
Bibelübersetzungen) entspricht, vom
Konsonantenbestand her aber gar nicht abwegig ist.
Die Übersetzer unseres Septuaginta-Textes, die
sich für diese Interpretation entschieden haben,
hatten nachvollziehbare Gründe dafür. Der Hinweis
auf den Beginn der Verehrung des Jahwenamens in
der vorsintflutlichen Zeit widerspricht nämlich
der expliziten Behauptung in Ex 6,3, dass Gott
seinen Namen JHWH erst Moses offenbarte. Die
Lesart „hoffte“ wird diesen Widerspruch auf eine
elegante Weise los (Vgl. Marguerite Harl,
La Genèse, 1994, S. 119). Die
Targume verstehen das fragliche Verb wiederum
anders, etwa dahingehend, dass man (bzw. Enosch)
aufgehört habe, den Namen des
Herrn anzurufen (vgl. Peter Schäfer,
Götzendienst des Enosch, 1978).
Philon unterstützt also mit ausführlichem
Kommentieren eine bestimmte gewichtige Lesart an
einer schwierigen, in verschiedene Richtungen
interpretierten Stelle des Genesis-Textes. Das ist
für seine Texte recht typisch, daher wäre es
wichtig, dem Leser zumindest einen Einblick in
diese Problematik zu gewähren.
In § 11 bezieht sich Philon auf das „Buch von der Entstehung
des wahrhaften
Menschen“, obwohl dasselbe
Bibelzitat in § 9 in der von den heute noch
vorhandenen Septuaginta-Handschriften bezeugten
Form angeführt wurde: „das Buch von der Entstehung
der Menschen“, im Plural. Diesen
Befund kommentiert Lanziger wie folgt (Anm. 15,
S. 129): „Vgl. Gen 5,1. Der korrekte Wortlaut ist
in § 9 zitiert, hier jedoch hat Philon seine
Interpretation in den Text eingetragen.“ Nun, die
Rede vom „korrekten Wortlaut“ klingt angesichts
der schon nicht mehr so neuen Entwicklungen in der
Septuaginta-Forschung antiquiert und vor allem
unkorrekt. Lanziger unterstützt somit das
veraltete Bild eines Philon, der mit dem Bibeltext
nach Belieben umspringt. Die Möglichkeit wäre aber
zumindest zu erwägen, dass der in § 11 zitierte,
in die Argumentation eingewobene Text eine echte
Textvariante der Septuaginta darstellt, eine zu
erwartende angesichts des adam
(Singular, Eigenname und Kollektivum zugleich) des
hebräischen Originals. Die Kommentarüberlieferung
zu klassischen Texten, und insbesondere zur
Heiligen Schrift, ist bekanntlich für eine
Textverderbnis spezifischer Art anfällig: Das
explizite Lemma am Anfang eines Abschnitts wird
beim Abschreiben öfters dem zur jeweiligen Zeit im
jeweiligen Milieu als kanonisch geltenden Text
angepasst, die in die Argumentation eingebundenen
weiteren Vorkommen bleiben davon unberührt. Es
ließen sich jedenfalls Argumente dafür anführen,
dass Philon in seinem LXX-Text „das Buch der
Entstehung des Menschen“ las. Ein
Hinweis in diese Richtung wäre dem Leser
nützlicher als die auch ohne Kommentar bzw. gerade
ohne Kommentar einem Laien sich aufdrängende
Erkenntnis, dass Philon „seine Interpretation in
den Text“ (und zwar in den Wortlaut des heiligen
Textes!) einträgt.
Auf eine ähnlich ungerechte Weise wird die philonische
Auslegungsmethode etwa in der Anm. 23 (129)
behandelt. Philon sagt, der hebräische Name Henoch
bedeute auf Griechisch „der Begnadete“. Lanziger
kommentiert: „Philon leitet den Namen von hebr.
ḥen ‚Gunst‘ bzw.
ḥanan ‚gnädig sein‘ ab. In Post.
41 und Conf. 123 übersetzt er den Namen dagegen
mit ‚dein Geschenk‘ – ein schönes Beispiel dafür,
dass Philons Etymologien nicht der philologischen
Klärung dienen, sondern Stützargumente für seine
Auslegungen sind und deshalb je nach Bedarf
unterschiedlich ausfallen können.“ Nun, „begnadet“
und „dein Geschenk“ klingen Deutsch tatsächlich
als völlig unverbundene Vokabeln. Schaut man aber
in Philons Originaltext, so wird in allen drei
Fällen dieselbe griechische Wurzel zur Erklärung
verwendet, nämlich charis, was
sowohl „Gunst, Gnade“ als auch „Geschenk (als
Gunsterweis)“ bedeuten kann. „Der philologischen
Klärung“, was immer das heißen soll, dienen antike
Etymologien, nicht nur bei Philon, tatsächlich
nie, sie sind in den Dienst anderer Aufgaben
gestellt, aber ganz willkürlich und frei
austauschbar sind die philonischen
Namensableitungen gerade nicht, das sollte der
Leser auch lieber wissen. Das einschlägige Buch
Etymology in Early Jewish
Interpretation von Lester L. Grabbe wurde
zwar einmal in der Einführung erwähnt, aber nicht
in das Literaturverzeichnis des Bandes
aufgenommen.
Die Anmerkungen zur äußerst merkwürdigen Behauptung Philons,
der hebräische Name „Noah“ bedeute auf Griechisch
„Ruhe“ oder „Gerechter“, sprechen das eigentliche
Problem wiederum nicht an. Der aufmerksame Leser,
nachdem er darüber informiert worden war, dass der
Name Noah von der hebräischen Wurzel
nuaḥ „ruhen“ stammt (Anm. 33,
S. 130), und auf den Vers Gen 6,9 verwiesen wurde,
wo Noah „als „gerechter Mann“ bezeichnet“ wird
(Anm. 34, ebd.), bleibt gespannt, was er von
„gerecht“ als einer Etymologie des Namens Noah
halten soll. Der Verweis auf Sir 44,17 (Anm. 34)
hilft ihm dabei nicht, da wird das Epitheton
„gerecht“ in Übereinstimmung mit dem Genesis-Text
auf Noah angewendet, aber kein Bezug auf die
Etymologie genommen. Man sollte zumindest positiv
darüber informieren, dass Philon hier
offensichtlich eine Verwechslung unterlaufen ist –
ein wichtiges Attribut Noahs aus Gen 6,9 hat er
für eine Etymologie seines Namens gehalten. Dann
kann sich der Leser selbst Gedanken machen
darüber, was diese Verwechslung über die
Beschaffenheit der Quellen, welche Philon beim
Kommentieren benutzte, besagt (und er benutzte
Quellen! Römische Archive hin oder her, aber
Philon ist ein gelehrter Kommentator, die sich die
Mühe der langen Stunden am Lesepult nicht
ersparte). Ein Verweis auf die einschlägigen
Seiten in Valentin Nikiprowetzky, Le
commentaire de l’Écriture chez Philon
d’Alexandrie, Leiden, 1977 (S. 53–54)
wäre dabei hilfreicher als derjenige auf den
Artikel Geljons „zur Deutung Noahs in anderen
Werken Philons“ (Anm. 33).
Der Verweis auf die Septuaginta, den wir beim Vers Gen 4,26
(Enosch) schmerzlich vermisst haben, taucht
unvermittelt in Anm. 75, S. 133 auf: „Gen. 12,5
LXX erwähnt als Begleiter Abrahams seine Frau
Sara, seinen Neffen Lot sowie ‚jede Seele, die sie
in Haran erworben hatten‘. Philon hingegen macht
aus Abraham einen Einzelkämpfer: Dies soll nicht
nur seine heroischen Tugenden unterstreichen,
sondern eignet sich auch besser für die
nachfolgende allegorische Interpretation der
Stelle, wo es um die wahre Gotteserkenntnis geht –
nach Philon eine Pioniertat Abrahams.“
Die Septuaginta besagt aber in Gen 12,5 genau dasselbe wie
der hebräische Text, daher ist der Verweis
verwirrend. Der exegetische Haken, an den Philon
seinen Kommentar anknüpft, besteht darin, dass
Abraham, Sara und Lot hier im Plural ausziehen,
sowohl Hebräisch als Griechisch, aber in den
Versen 6–9 reist Abraham ganz allein, d.h. im
Singular, durch das ganze Land. Das wird in
Philons Kommentar berücksichtigt, es ist sein
unmittelbarer Bezugsrahmen.
Es geht bei den oben erwähnten Beispielen nicht etwa um die
eine oder andere gelehrte Meinung zu Philon,
sondern um die zum Verständnis des Textes
unumgänglichen Grundinformationen. Des Weiteren
wären etwa zu den „Bestandteilen des Alls“ § 43
ein paar Worte über die Elementenlehre und ihre
Rolle in Philons Schriften fällig, zu den
Ausführungen in §§ 71–75 über die wiederum für
Philon wichtige (vgl. etwa De
Opificio, 19) Vorstellung von der
gegenseitigen Entsprechung des „Mikrokosmos“ und
„Makrokosmos“. In diesem letzteren Fall schlägt
sich das Nicht-Erkennen des Topos auch in der
Übersetzung nieder. Der Faden beginnt sich in § 72
zu verlieren, wo der – aus dem platonischem
Höhlengleichnis (Politeia, 514b)
stammende, was auch wohl anmerkungsweise
erwähnenswert wäre – θαυματοποιός, der
Marionettenspieler alias der unsichtbare
Intellekt, „mit seinen eigenen Kräften auf sie
[auf wen? Griechisch gibt es keine Entsprechung;
dem Kontext im Deutschen zufolge müssen es unsere
fünf Sinne sein] reagieren würde, indem er sie
manchmal loslässt und manchmal nachgibt“ usw. Der
Satz ist unverständlich. Das Verb ὑπηχέω ist zwar
in Liddell-Scott mit sound in answer,
echo, respond übersetzt, was wohl zur
Wiedergabe „auf sie reagieren“ geführt hat, hat
aber bei Philon durchwegs eine andere Bedeutung:
eingeben, in den Mund legen
(z. B. De migr. Abrahami, 80
[Moses dem Aaron]; 114 und Mos I 274 [Gott dem
Bileam], Heres 259 [Gott einem Propheten], auch
hier in De Abr., 102 etc.). Die Sinne
sind die eigenen Kräfte des
Intellekts, mit ihnen bestreitet er seine Show,
indem er sie, seine Puppen, mit seiner Stimme
sprechen (das meint hier ὑπηχέω), mit seinen
Fingerbewegungen laufen, tanzen und wieder ruhen
lässt (dies alles übrigens auch der platonischen
Höhlenparabel subtil nachempfunden). Da du,
Mensch, also dieses Vorbild in dir selbst hast,
kannst du leicht begreifen, was du sehnlichst
wissen möchtest, nämlich, wie das Weltall
funktioniert. Da aber weder die platonische
Reminiszenz noch der Topos „Mikrokosmos als
Spiegelbild des Makrokosmos“ erkannt wurden, lesen
wir in der Übersetzung das nichtssagende „Wenn du
dir dieses Beispiel vergegenwärtigst“. Weder die
vorzügliche englische Übersetzung von Colson
(„with this example in yourself“) noch die
französische von Jean Gorez („avec cet example en
toi-même“) macht diesen Fehler, doch in der
älteren deutschen Übersetzung von Josef Cohn steht
tatsächlich „wenn du dir dieses Beispiel klar
machst“. Aus demselben Missverständnis entsteht
dann in § 75 die Verschlimmbesserung gegenüber
Cohn: „Wer dies bedenkt und sich nicht durch
Fernes, sondern durch Naheliegendes belehren lässt
– nämlich durch sich selbst und die Dinge um sich
herum –, der wird klar erkennen, dass das Weltall
nicht der erste Gott ist, sondern ein Werk des
ersten Gottes“ usw. Um „Naheliegendes“ geht es
hier nicht, es ist immer noch der Gegensatz
zwischen den fernen Gestirnen und dem in uns
selbst vorhandenen Mikrokosmos, so dass Cohn es
mit „nicht aus der Ferne, sondern aus der Nähe“
besser getroffen hat. Was er, und ihm folgend die
neue Übersetzung, weniger gut wiedergegegeben hat,
ist das fast Unübersetzbare τῶν περὶ αὑτὸν. Um die
„Umgebung“ (Cohn) bzw. die „Dinge um sich herum“
(Lanzinger) geht es hier kaum, dem Sinn am
nächsten kommt die Übersetzung von Colson „what
makes him what he is“. Wenn man dies als zu frei
empfindet (es ist tatsächlich fast schon eine
erklärende Paraphrase), könnte vielleicht „durch
sich selbst und seine Eigenschaften“ bzw. „und
durch das, was sich in einem abspielt“ eine
Annäherung sein. Man könne viel aus sich selbst
lernen, sagt Philon. Das impliziert aber gerade
nicht, dass diese Dinge naheliegend sind, man muss
das Funktionieren der eigenen Seele erst einmal
verstehen, dann wird auch der bestirnte Himmel
über uns begreiflicher. Ungenauigkeiten der
Übersetzung verdunkeln die ungemein hübschen
Ausführungen Philons in §§ 151–153. § 152 lesen
wir über „das Sehorgan“ (eine unnötig schulmäßige
Übersetzung von ὄψις; es sollte einfach „die
Augen“ heißen, ein solcher Gebrauch ist auch in
Liddell-Scott vermerkt): „beim Überlegen und
Nachdenken über etwas ist es ruhig und wirkt
abgewandt, gewissermaßen in Gedanken mit sich
selbst beschäftigt.“ Der Satz ist so sinnlos: Wie
kann das Sehorgan „in Gedanken mit sich selbst
beschäftigt“ sein? Philon sagt auch nichts
dergleichen, sondern versucht, die sonderbare
Anspannung in den Augen eines angestrengt
denkenden Menschen anschaulich zu beschreiben.
„Die Augen“, sagt er, „spannen sich beinahe mit
dem Denken zusammen an“. Da der Übersetzer den
sprichwörtlichen Leitgedanken „die Augen als
Spiegelbild der Seele“ offenbar nicht ganz
nachvollzogen hat, wird auch der Schlusssatz des
Abschnitts in § 153 falsch bzw. missverständlich
übersetzt: „Und so ist zusammenfassend zu sagen,
dass die Sehkraft als Bild der Seele beschaffen
ist: Sie zeigt durch eine Hochleistung der getreu
nachahmenden Kunst ein klares (ἐναργές) Abbild wie
durch einen Spiegel, obwohl sie von sich aus nicht
von sichtbarer Natur ist.“ Der Übersetzer meint
offenbar, „die Sehkraft“ wäre „von sich aus nicht
von sichtbarer Natur“. ὅρασις ist aber, genau wie
ὄψις vorher, in diesem Fall schlicht eine
Bezeichnung für die Augen; die sind durchaus
„sichtbarer Natur“ und darum geht es auch im
Original: Die Augen lassen uns ein Spiegelbild der
Seele sehen, obwohl diese an sich nicht sichtbar
ist – eine schöne Paradoxie! Spiegelbilder erwähnt
Philon öfters in ähnlichen Kontexten; für das
richtige Verständnis muss man im Kopf behalten,
dass er antike Spiegel (etwa aus Bronze) und nicht
die modernen Erzeugnisse im Sinne hat. Ein
Spiegelbild der Antike war immer nur ein Schatten
des Originals; man konnte einen Gegenstand darin
ahnen, aber nicht klar und deutlich sehen. Die
Hauptbedeutung von ἐναργές ist auch nicht „klar“,
sondern „sichtbar“, „wahrnehmbar“. Die Augen, sagt
Philon, leisten das Höchste, was eine nachahmende
Kunst durch Präzision erreichen kann: sie zeigen
ein sichtbares – wenn auch undeutliches – Abbild
der Seele, obwohl diese von Natur aus nicht
sichtbar ist.
Das sind wiederum nur Beispiele. Alles in allem ist es
schade, dass die Neuübersetzung eines Werkes, das
vor nicht so langer Zeit in alle in Westeuropa
gängigen Sprachen, einschließlich Deutsch,
übertragen wurde, die Errungenschaften der
Vorgänger nicht immer zu benutzen, ihre Schnitzer
nicht immer zu korrigieren weiß. Dafür werden
Philon in den Anmerkungen viel zu schnell Willkür
und Negligenz im Umgang mit der Heiligen Schrift
unterstellt. Im § 60 etwa beschreibt Philon die
Frömmigkeit Abrahams. Dieser wollte allen
„Anordnungen“ Gottes gehorsam sein. Auf der S. 53
lesen wir in der Übersetzung: „Dabei verstand er
[Abraham] unter ‚Anordnungen‘ nicht nur
diejenigen, die ihm durch Wort und Schrift
offenbart wurden […]“ Die Anmerkung dazu (Anm. 73,
S. 133) lautet: „Philon scheint hier die Ebene der
biblischen Erzählung mit der
abstrakt-philosophischen Ebene zu mischen. Er
listet daher alle denkbaren Anordnungen auf, auch
wenn an Abraham nie eine schriftliche Anordnung
Gottes erging.“ Tatsächlich, das „ihm“ ist komisch
und für die Argumentation auch überflüssig;
automatisch schaut man genauer auf die griechische
Seite. Das fragliche αὐτῷ („ihm“) ist mit einem
Sternchen versehen, ein Zeichen für eine Lesart,
die in dem vorliegenden Buch von dem sonst
übernommenen Text der Editio maior (Leopold Cohn,
1902) abweicht. An acht Stellen sind nämlich
abweichende Textvarianten angeboten (aus dem in
der Editio maior vorhandenen Apparat oder rein
konjektural). Die meisten sind unerheblich. Eine
davon ist gerade unser αὐτῷ in § 60: das von Cohn
konjizierte οὐ … αὐτὸ μόνον („nicht nur“) wird
durch das handschriftlich überlieferte οὐ … αὐτῷ
μόνον („nicht nur [diejenigen], die ihm usw.)
ersetzt. Dabei wird nicht erwähnt, dass die Lesart
αὐτὸ nach Ausweis der Editio maior durch die
armenische Übersetzung unterstützt wird. Nicht
irrelevant ist vielleicht auch, dass in § 225
unseres Traktats die relativ seltene emphatische
Konstruktion οὐ … αὐτὸ μόνον im Sinne von „nicht
nur“ noch einmal auftaucht, diesmal
handschriftlich gut bezeugt, obwohl, wie nicht
anders zu erwarten, in einigen wenigen
Handschriften durch αυτω oder εαυτω ersetzt. Da
aber die oben zitierte Anmerkung sich speziell auf
das fragliche „ihm“ bezieht, wäre es fair, auch
den des Griechischen unkundigen Leser über das
non liquet an dieser Stelle zu
unterrichten. Der Umstand, dass „an Abraham nie
eine schriftliche Anordnung Gottes erging“,
zusammen mit der grammatischen und
paläographischen Plausibilität, haben Cohn zu
seiner – aus meiner Sicht sehr ansprechenden –
Konjektur bewogen. An so mancher Stelle im
Kommentar, wo Philon angeblich mit dem Bibeltext
allzu frei umspringt, muss ich an den alten
juristischen Grundsatz denken: In dubio
pro reo.
Im Essay-Teil bildet der schöne Essay „Philo Philosophus?“
von Maximilian Forschner eine zuverlässige
Einführung in die philosophische, „griechische“
(im Unterschied zu der bibelexegetischen) Seite
von Philon. Professionell und kenntnisreich wird
Philons Stellung im intellektuellen Leben seiner
Zeit beschrieben. Wichtige Themen der
hellenistischen Philosophie wie der Begriff des
Gesetzes, menschliche Tugend, Gefühle und Affekte
werden spezifisch in Bezug auf De
Abrahamo erörtert. Die Betrachtung
schließt sehr nachvollziehbarerweise mit dem
Abschnitt „Philon als Platoniker“. „Die Schrift De
Abrahamo spiegelt in ihrem philosophischen Aspekt
denn auch einen etwas schlichten Koinē-Platonismus
wider, dessen zentrales Thema die wertende
Unterscheidung von sensibler und intelligibler
Welt und der Ausrichtung des Menschen auf eine der
beiden Sphären darstellt“ (189). Mit diesem
Ariadnefaden in der Hand kommt der Leser
tatsächlich gut durch das Labyrinth philonischer
Ausführungen. Bedauerlicherweise ist der wichtige
Hinweis, dass Philon nie ein Stoiker war oder
geworden ist, in die Fußnoten verbannt: „Der
pantheistisch geprägten Substanz stoischen
Denkens, der natürlich auch die stoische Ethik
verpflichtet ist, dürfte Philon sich freilich in
keiner Phase seines Denkens ernsthaft genähert
haben“ (S. 171, Anm. 11).
Mit dem Essay von Simone Seibert „Der Weg des Weisen: Der
Dreischritt Hoffnung – Umkehr – Gerechtigkeit in
Philons De Abrahamo, mit Vergleichen zur
Tabula Cebetis, Joseph
und Aseneth und der
Psychomachie von Prudentius“ wird
der Leser nun in Philons Auslegungsmethode
eingeführt. Folgenden Aussagen kann man nur
zustimmen: Philons „Methode besteht in der
Allegorese, die ihre Vorbilder in der
griechisch-hellenistischen Homerinterpretation,
der stoischen Mythenexegese und der jüdischen
Bibelauslegung hat. Philon hat diese Technik
entscheidend weiterentwickelt und ihr eine
weitreichende Wirkung verliehen, vor allem auch
auf die Kirchenväter“ (195). Simone Seibert zeigt
auch im Einzelnen sehr schön, worin diese
Weiterentwicklung bestand. In dem vergleichenden
Teil des Essays ist mir unklar geblieben, wodurch
sie jüdischen Einfluss in der Tabula
Cebetis belegt sieht. Am Ende des
entsprechenden Abschnitts (222) lesen wir: „Die
Tabula ist ein Beispiel für die
vielfältigen Wechselwirkungen zwischen paganen und
jüdischen Vorstellungen und sie zeigt, dass es in
dieser Zeit einen regen Austausch gegeben hat. […]
Sie zeigt jedoch den schon vorchristlichen
Einfluss jüdischer Gelehrsamkeit, möglicherweise
auch Philons, auf die griechische Philosophie
dieser Zeit.“ Eine interessante Behauptung, die
mir aber durch die Beweisführung in der
vorliegenden Arbeit nicht genügend fundiert zu
sein scheint.
Der Essay von Friederike Oertelt „Philons Frauenbild: Die
Darstellung Saras und Hagars in De Abrahamo“ kommt
zu dem wenig überraschenden Schluss, dass Sara vor
allem als vorbildliche Ehefrau dargestellt werde,
und wagt die Schlussfolgerung: „In der starken
Fokussierung auf die Ehe zwischen Abraham und Sara
innerhalb der Schrift Abr. kann auch der Grund für
die Marginalisierung der Figur Hagar gesehen
werden“ (252).
Im Essay von Matthias Adrian „Schrift – Orakel –
Prophetie“ hat mich persönlich die steile
These, die starke Betonung der wörtlichen
Inspiration des Pentateuchs in Philons Schriften,
unter anderem dadurch, dass er die Heilige Schrift
durchwegs „Orakel“ nennt, sei gegen die
Oracula Sibyllina gerichtet,
nicht überzeugt, genausowenig wie die Idee, dass
das Ziel dieser Polemik sei, „seine [Philons, d.h.
die jüdischen] heiligen Schriften für ein paganes
Publikum interessant zu machen und ihnen eine
orientierende Autorität zuzuschreiben“
(272). Dass Philon pro-römisch
eingestellt ist und die Sibyllina anti-römisch,
ist allerdings wahr.
Der Band wird durch das Essay von Nicolai Sinai Von
Philon zu Ibn ῾Arabi: Abraham im islamischen
Kontext abgerundet.