Das Leben des Weisen. Philon von Alexandria, De Abrahamo. Eingeleitet, übersetzt, kommentiert und mit interpretierenden Essays versehen von Matthias Adrian, Maximilian Forschner, Daniel Lanzinger, Heinz-Günter Nesselrath, Maren R. Niehoff, Friederike Oertelt, Simone Seibert und Nicolai Sinai. Herausgegeben von Daniel Lanzinger. SAPERE 36. Tübingen: Mohr Siebeck, 2020. 334 Seiten, EUR 84.–, ISBN 978​-​3​-​16​-​157537​-​2

Maria Sokolskaya  
Mainz

Dies ist der zweite Band, den die Reihe SAPERE Philon von Alexandrien widmet. Der erste, Abrahams Aufbruch (De migratione Abrahami), erschien 2017, herausgegeben von Maren R. Niehoff und Reinhard Feldmeier. Die Neuerscheinung verweist schon im ersten Satz der Einleitung auf die Kontinuität. Insgesamt ist es ein Band, der gern Farbe bekennt. Schon der Klappentext lässt wissen: „Philons Biographie Abrahams ist eine Werbeschrift für das Judentum. Sie entstand vermutlich als literarisches Begleitprojekt zu Philons politischer Mission in Rom […]. Der vorliegende Band führt in diesen zeitgeschichtlichen Kontext ein […].“

Dem Leser sind hier erstaunlich viele gar nicht so leicht zu treffende Entscheidungen vorweggenommen: Ist De Abrahamo tatsächlich eine Biographie? Ist dieses Werk an ein nichtjüdisches Publikum gerichtet mit dem Zweck, Proselyten zu gewinnen? Hat es etwas mit Philons Reise nach Rom im Jahre 38 u. Z. zu tun? Der Klappentext – und auch die Einleitung – schaffen Tatsachen dort, wo die Forschung immer noch Wege sucht. Das war schon im ersten Band, De migratione Abrahami, so. Dort lesen wir auf S. 4 der Einleitung aus der Feder von Niehoff: „Bisher bestand kein Konsens über die Chronologie von Philons Schriften und damit ließ sich auch sein intellektueller Werdegang nicht erschließen. Kürzlich jedoch haben sich neue Erkenntnisse ergeben“. Neue Erkenntnisse in der Altertumswissenschaft – das ist immer aufregend. Hat man etwa neue Papyri gefunden? Fragmente von Philons Tagebuch? Aber nein, bei Lichte besehen geht es darum, dass Niehoff sich dafür entschieden hat, das einzige bekannte Datum aus Philons Leben, seine Teilnahme an der Gesandtschaft zu Caligula, zum Angelpunkt der Interpretation zu machen und zu behaupten, Rom habe ihm allerlei Erkenntnisse gebracht, die er in Alexandrien nicht hätte haben können. Es ist hier nicht der Ort, sich mit dieser Theorie auseinanderzusetzen, der Leser muss aber gewarnt werden: Einen Konsens diesbezüglich gibt es nicht; das selbstverständliche Hantieren mit „Philons alexandrinischem Frühwerk“ versus „römisches Spätwerk“ ist daher aus meiner Sicht in einer kommentierten Textausgabe irreführend. Die Einführung und die Anmerkungen von Daniel Lanzinger im vorliegenden Band setzen aber diese „neuen Erkenntnisse“ in einer recht apodiktischen Weise voraus und arbeiten konsequent daraufhin, sie als Fakten darzustellen (vgl. „Vorbemerkungen“, S. 3). Nun, jede Theorie ist gut, wenn sie unser Verständnis der antiken Texte fördert. Was gewinnen wir, wenn wir an die Abfassung der Schrift in Rom nach 38 u. Z. glauben? Nach Ausweis von Niehoff/Lanzinger entdeckte Philon in Rom die philosophische Richtung des Stoizismus – in Alexandrien hätten alle nur Platon gelesen – und die Gattung der Biographie; auch fand er dort ein neues Publikum vor: nichtjüdisch, also ohne Bibelkenntnisse, aber dem Judentum wohlwollend zugewandt – die römische Oberschicht. De Abrahamo wäre das Ergebnis dieser überraschenden Horizonterweiterung: Philon, aus seinem Krähwinkel Alexandrien (diese Vorstellung muss man sich auf der Zunge zergehen lassen!) zum ersten Mal in die Kulturhauptstadt Rom geraten, schuf prompt für das nichtjüdische Publikum eine moralisierende Biographie des biblischen Urvaters, dessen Darstellung in Philon dem stoischen Weisen nachempfunden ist, andererseits aber Plutarchs Biographien historischer Persönlichkeiten vorwegnimmt. In dem Essay von Maren R. Niehoff im Teil C des Buches, Philon als Biograph, lesen wir dazu noch: Philons Schrift „stützt sich auf die ‚hochheiligen Schriften‘ als historische Quelle und entbindet Philon somit einer gründlichen Recherche, wie sie etwa Plutarch eine Generation später unternahm. Die mühsame Arbeit in griechischen und römischen Archiven blieb Philon erspart“ (147). Eine schöne Vergleichsbasis! Ich hätte viel für die Auskunft gegeben, in welchen Archiven Philon sich für die Biographie Abrahams der mühsamen Arbeit hätte unterziehen sollen, fehlte ihm nicht Plutarchs bewundernswerte Gründlichkeit. Da der Text von De Abrahamo dem Leser des Bandes auch vorliegt und von ihm hoffentlich als Erstes gelesen wird, erübrigt sich aus meiner Sicht langes Argumentieren, um zu zeigen, dass diese Schrift keine Ähnlichkeit mit Plutarchs Biographien historischer Persönlichkeiten und überhaupt mit der Gattung der Lebensbeschreibung hat. Da der Held erst in § 60 auftaucht, um sogleich im Alter von 75 Jahren nach Haran auszuwandern, worauf eine allegorische Interpretation dieses Geschehens folgt, wird dies jeder selbst merken. Ein Punkt aber verdient, kurz erörtert zu werden: Sowohl Niehoff in ihrem Essay als auch Lanzinger in der Einführung sehen die Gattung von De Abrahamo in der griechischen Überschrift des Traktats definiert, wobei ein einziges kurzes Wort die ganze Last der Argumentation tragen soll. Lanzinger schreibt in der Einleitung (mit Verweis auf den Beitrag von Niehoff in diesem Band): „Der überlieferte Titel des Werks lautet: ‚Das Leben (βίος) des Weisen, der durch Belehrung vollendet wurde, oder das erste Buch der ungeschriebenen Gesetze, das von Abraham handelt‘. Das Stichwort βίος weckt bei antiken Lesern die Erwartung, die Biographie einer bedeutenden Persönlichkeit vorliegen zu haben – und damit einer Gattung, die sich in der römischen Oberschicht großer Beliebtheit erfreute“ (10). Abgesehen davon, dass diese „besondere Beliebtheit“ der Biographie spezifisch in Rom in der ersten Hälfte des 1. Jh. u. Z. gar nicht belegt ist, hat βίος, auch in seiner Eigenschaft als literarische Gattung, mehr als nur eine Bedeutung. Der antike Leser, wie auch der heutige, erwartete bestimmt die Biographie einer bedeutenden Persönlichkeit, wenn er eine Überschrift wie „Das Leben des Divus Julius“ oder „Das Leben des großen Alexanders“ hörte. Eine Überschrift wie etwa ΠΕΡΙ ΒΙΟΥ ΘΕΩΡΗΤΙΚΟΥ, „Über das betrachtende Leben“, weckte ganz andere Erwartungen. βίος ist nämlich nicht nur eine Biographie, sondern auch eine „Lebensweise“. Unterschiedliche Muster, nach denen man sein Leben richten kann oder soll, waren ein beliebtes Thema in der hellenistischen Literatur. ΒΙΟΣ ΣΟΦΟΥ ΤΟΥ ΚΑΤΑ ΔΙΔΑΣΚΑΛΙΑΝ ΤΕΛΕΙΩΘΕΝΤΟΣ, „Das Leben eines Weisen, der die Vollendung durch Belehrung erreicht“ gehört in dieselbe Kategorie, der Leser erwartet eine philosophische Predigt in Form eines Exempels. Noch im Mittelalter haben unzählige Abhandlungen zur Vita activa und Vita contemplativa entsprechend Martha und Maria bemüht, aber keiner erwartete dabei Biographien von Lazarusʼ Schwestern. Man nahm sie als Symbole und kommentierte in diesem Sinn den heiligen Text, wo sie vorkommen – wie auch Philon es mit Abraham tut.

Nun, in einer zweisprachigen Ausgabe mit Kommentar, auch wenn der Letztere sich auf knapp 20 Seiten Anmerkungen beschränkt, ist doch der Text selbst – die Neuübersetzung und die in den Anmerkungen dargebotene Hilfe zum unmittelbaren Verständnis von Philons Worten – das eigentliche Herzstück, an dem sich der Nutzen der „neuen Erkenntnisse“ messen lässt. Hierzu einige Beobachtungen:

De Abrahamo ist vor allem – oder, nach Lanzinger, „auch“ (11) – ein Bibelkommentar, und zwar zur griechischen Übersetzung der Genesis, der Septuaginta. Mancher Passus wird nur verständlich, wenn man den griechischen Wortlaut berücksichtigt. Die gängigen deutschen Bibelübersetzungen, die sich alle an dem hebräischen Text orientieren, können den Philon-Leser daher öfters nur verwirren. Ein Griff zur Septuaginta Deutsch kann manchmal helfen; entsprechende Hinweise in den Anmerkungen wären leserfreundlich. Erstaunlicherweise wird das genannte Hilfsmittel überhaupt nicht im Band erwähnt. Manchmal aber müsste der Kommentator auch selbst Grundinformationen liefern, ohne die der Text schier unverständlich bleibt, tut es aber nicht. Dies ist wohl der Erkenntnis geschuldet, dass Philon eine elementare Einleitung für ein nichtjüdisches Publikum ohne Bibelkenntnisse schreibt und es deswegen mit dem Genesis-Text nicht so genau nimmt (Einführung, S. 7–8) – eine für eine Annäherung an Philon eher ungünstige Vorstellung. Das läßt sich etwa an den Anmerkungen zur Auslegung von Enosch (§§ 7–16) anschaulich zeigen. Philon sagt, der Name Enosch bedeute auf Chaldäisch „Mensch“; die Ehre, den Gattungsnamen als seinen Eigennamen zu führen, würde diesem „ersten Liebhaber der Hoffnung“ deswegen gewährt, weil nur der Hoffende wahrhaftig Mensch sei. Zum „Liebhaber der Hoffnung“, welcher den Benutzer einer deutschen Bibelübersetzung bestimmt stutzen lässt, da er in seinem Bibeltext keinen Anhaltspunkt für diese Bezeichnung findet, gibt es zunächst keine Anmerkung. Zur philonischen Erklärungsklausel „weil allein derjenige wahrhaft Mensch ist, der das Gute erwartet und sich auf glückverheißende Hoffnungen stützt“ lautet die Anmerkung (Anm. 9, S. 128): „Enosch wird in Gen 5,6–11 erwähnt, wo man allerdings nur seine genealogische Einordnung und sein Alter (905 Jahre) erfährt. Philons Auslegung stützt sich dabei allein auf die Namensetymologie. Die Deutung Enoschs als Hoffnung bietet Philon auch in Praem. 11–14; Det. 138 f.; QG I, 79 f.“ Die Etymologie lautet „Mensch“, das einzige wesentliche Merkmal des Enosch ist sein erreichtes Alter von 905 Jahren; darauf gestützt, erklärt uns die Anmerkung, interpretiere Philon diese Figur regelmäßig als Hoffnung; Philons Kommentieren scheint mit dem Bibeltext sehr wenig zu tun zu haben! Erstaunlich dabei ist, dass der Verweis auf den für Philons Ausführungen einschlägigen Bibelvers doch nicht ganz ausbleibt: Zu dem Halbsatz „dass dieser auf den Vater und Schöpfer des Alls hoffte“ steht in Anmerkung 10 (ebd.): „Vgl. Gen 4,26. Die Formulierung ‚Vater und Schöpfer des Alls‘ ist ein Anklang an Platon.“ Der Vers 4,26 lautet in Luthers Übersetzung: Und Seth zeugte auch einen Sohn und nannte ihn Enosch. Zu der Zeit fing man an, den Namen des Herrn anzurufen. Der Leser muss wohl annehmen, der Verweis erkläre die Verbindung zwischen Enosch und dem Herrn bzw. Vater des Alls. Warum diese Verbindung so prominent als Hoffnung definiert wird, bleibt rätselhaft. Dabei ist die Sache einfach. Alles, was der Leser für ein besseres Verständnis zu wissen braucht, ist, dass sich diese Auslegung auf den Vers Gen 4,26 der Septuaginta bezieht. Dort steht nämlich – ein des Griechischen unkundiger Leser kann es in der Septuaginta Deutsch nachschauen – dieser hoffte darauf, den Namen Gottes des Herrn anzurufen. Des Weiteren wäre wohl nicht irrelevant, darauf hinzuweisen, dass diese Deutung des hebräischen Textes zwar nicht der masoretischen Vokalisierung (und entsprechend den neuzeitlichen Bibelübersetzungen) entspricht, vom Konsonantenbestand her aber gar nicht abwegig ist. Die Übersetzer unseres Septuaginta-Textes, die sich für diese Interpretation entschieden haben, hatten nachvollziehbare Gründe dafür. Der Hinweis auf den Beginn der Verehrung des Jahwenamens in der vorsintflutlichen Zeit widerspricht nämlich der expliziten Behauptung in Ex 6,3, dass Gott seinen Namen JHWH erst Moses offenbarte. Die Lesart „hoffte“ wird diesen Widerspruch auf eine elegante Weise los (Vgl. Marguerite Harl, La Genèse, 1994, S. 119). Die Targume verstehen das fragliche Verb wiederum anders, etwa dahingehend, dass man (bzw. Enosch) aufgehört habe, den Namen des Herrn anzurufen (vgl. Peter Schäfer, Götzendienst des Enosch, 1978). Philon unterstützt also mit ausführlichem Kommentieren eine bestimmte gewichtige Lesart an einer schwierigen, in verschiedene Richtungen interpretierten Stelle des Genesis-Textes. Das ist für seine Texte recht typisch, daher wäre es wichtig, dem Leser zumindest einen Einblick in diese Problematik zu gewähren.

In § 11 bezieht sich Philon auf das „Buch von der Entstehung des wahrhaften Menschen“, obwohl dasselbe Bibelzitat in § 9 in der von den heute noch vorhandenen Septuaginta-Handschriften bezeugten Form angeführt wurde: „das Buch von der Entstehung der Menschen“, im Plural. Diesen Befund kommentiert Lanziger wie folgt (Anm. 15, S. 129): „Vgl. Gen 5,1. Der korrekte Wortlaut ist in § 9 zitiert, hier jedoch hat Philon seine Interpretation in den Text eingetragen.“ Nun, die Rede vom „korrekten Wortlaut“ klingt angesichts der schon nicht mehr so neuen Entwicklungen in der Septuaginta-Forschung antiquiert und vor allem unkorrekt. Lanziger unterstützt somit das veraltete Bild eines Philon, der mit dem Bibeltext nach Belieben umspringt. Die Möglichkeit wäre aber zumindest zu erwägen, dass der in § 11 zitierte, in die Argumentation eingewobene Text eine echte Textvariante der Septuaginta darstellt, eine zu erwartende angesichts des adam (Singular, Eigenname und Kollektivum zugleich) des hebräischen Originals. Die Kommentarüberlieferung zu klassischen Texten, und insbesondere zur Heiligen Schrift, ist bekanntlich für eine Textverderbnis spezifischer Art anfällig: Das explizite Lemma am Anfang eines Abschnitts wird beim Abschreiben öfters dem zur jeweiligen Zeit im jeweiligen Milieu als kanonisch geltenden Text angepasst, die in die Argumentation eingebundenen weiteren Vorkommen bleiben davon unberührt. Es ließen sich jedenfalls Argumente dafür anführen, dass Philon in seinem LXX-Text „das Buch der Entstehung des Menschen“ las. Ein Hinweis in diese Richtung wäre dem Leser nützlicher als die auch ohne Kommentar bzw. gerade ohne Kommentar einem Laien sich aufdrängende Erkenntnis, dass Philon „seine Interpretation in den Text“ (und zwar in den Wortlaut des heiligen Textes!) einträgt.

Auf eine ähnlich ungerechte Weise wird die philonische Auslegungsmethode etwa in der Anm. 23 (129) behandelt. Philon sagt, der hebräische Name Henoch bedeute auf Griechisch „der Begnadete“. Lanziger kommentiert: „Philon leitet den Namen von hebr. ḥen ‚Gunst‘ bzw. ḥanan ‚gnädig sein‘ ab. In Post. 41 und Conf. 123 übersetzt er den Namen dagegen mit ‚dein Geschenk‘ – ein schönes Beispiel dafür, dass Philons Etymologien nicht der philologischen Klärung dienen, sondern Stützargumente für seine Auslegungen sind und deshalb je nach Bedarf unterschiedlich ausfallen können.“ Nun, „begnadet“ und „dein Geschenk“ klingen Deutsch tatsächlich als völlig unverbundene Vokabeln. Schaut man aber in Philons Originaltext, so wird in allen drei Fällen dieselbe griechische Wurzel zur Erklärung verwendet, nämlich charis, was sowohl „Gunst, Gnade“ als auch „Geschenk (als Gunsterweis)“ bedeuten kann. „Der philologischen Klärung“, was immer das heißen soll, dienen antike Etymologien, nicht nur bei Philon, tatsächlich nie, sie sind in den Dienst anderer Aufgaben gestellt, aber ganz willkürlich und frei austauschbar sind die philonischen Namensableitungen gerade nicht, das sollte der Leser auch lieber wissen. Das einschlägige Buch Etymology in Early Jewish Interpretation von Lester L. Grabbe wurde zwar einmal in der Einführung erwähnt, aber nicht in das Literaturverzeichnis des Bandes aufgenommen.

Die Anmerkungen zur äußerst merkwürdigen Behauptung Philons, der hebräische Name „Noah“ bedeute auf Griechisch „Ruhe“ oder „Gerechter“, sprechen das eigentliche Problem wiederum nicht an. Der aufmerksame Leser, nachdem er darüber informiert worden war, dass der Name Noah von der hebräischen Wurzel nuaḥ „ruhen“ stammt (Anm. 33, S. 130), und auf den Vers Gen 6,9 verwiesen wurde, wo Noah „als „gerechter Mann“ bezeichnet“ wird (Anm. 34, ebd.), bleibt gespannt, was er von „gerecht“ als einer Etymologie des Namens Noah halten soll. Der Verweis auf Sir 44,17 (Anm. 34) hilft ihm dabei nicht, da wird das Epitheton „gerecht“ in Übereinstimmung mit dem Genesis-Text auf Noah angewendet, aber kein Bezug auf die Etymologie genommen. Man sollte zumindest positiv darüber informieren, dass Philon hier offensichtlich eine Verwechslung unterlaufen ist – ein wichtiges Attribut Noahs aus Gen 6,9 hat er für eine Etymologie seines Namens gehalten. Dann kann sich der Leser selbst Gedanken machen darüber, was diese Verwechslung über die Beschaffenheit der Quellen, welche Philon beim Kommentieren benutzte, besagt (und er benutzte Quellen! Römische Archive hin oder her, aber Philon ist ein gelehrter Kommentator, die sich die Mühe der langen Stunden am Lesepult nicht ersparte). Ein Verweis auf die einschlägigen Seiten in Valentin Nikiprowetzky, Le commentaire de l’Écriture chez Philon d’Alexandrie, Leiden, 1977 (S. 53–54) wäre dabei hilfreicher als derjenige auf den Artikel Geljons „zur Deutung Noahs in anderen Werken Philons“ (Anm. 33).

Der Verweis auf die Septuaginta, den wir beim Vers Gen 4,26 (Enosch) schmerzlich vermisst haben, taucht unvermittelt in Anm. 75, S. 133 auf: „Gen. 12,5 LXX erwähnt als Begleiter Abrahams seine Frau Sara, seinen Neffen Lot sowie ‚jede Seele, die sie in Haran erworben hatten‘. Philon hingegen macht aus Abraham einen Einzelkämpfer: Dies soll nicht nur seine heroischen Tugenden unterstreichen, sondern eignet sich auch besser für die nachfolgende allegorische Interpretation der Stelle, wo es um die wahre Gotteserkenntnis geht – nach Philon eine Pioniertat Abrahams.“

Die Septuaginta besagt aber in Gen 12,5 genau dasselbe wie der hebräische Text, daher ist der Verweis verwirrend. Der exegetische Haken, an den Philon seinen Kommentar anknüpft, besteht darin, dass Abraham, Sara und Lot hier im Plural ausziehen, sowohl Hebräisch als Griechisch, aber in den Versen 6–9 reist Abraham ganz allein, d.h. im Singular, durch das ganze Land. Das wird in Philons Kommentar berücksichtigt, es ist sein unmittelbarer Bezugsrahmen.

Es geht bei den oben erwähnten Beispielen nicht etwa um die eine oder andere gelehrte Meinung zu Philon, sondern um die zum Verständnis des Textes unumgänglichen Grundinformationen. Des Weiteren wären etwa zu den „Bestandteilen des Alls“ § 43 ein paar Worte über die Elementenlehre und ihre Rolle in Philons Schriften fällig, zu den Ausführungen in §§ 71–75 über die wiederum für Philon wichtige (vgl. etwa De Opificio, 19) Vorstellung von der gegenseitigen Entsprechung des „Mikrokosmos“ und „Makrokosmos“. In diesem letzteren Fall schlägt sich das Nicht-Erkennen des Topos auch in der Übersetzung nieder. Der Faden beginnt sich in § 72 zu verlieren, wo der – aus dem platonischem Höhlengleichnis (Politeia, 514b) stammende, was auch wohl anmerkungsweise erwähnenswert wäre – θαυματοποιός, der Marionettenspieler alias der unsichtbare Intellekt, „mit seinen eigenen Kräften auf sie [auf wen? Griechisch gibt es keine Entsprechung; dem Kontext im Deutschen zufolge müssen es unsere fünf Sinne sein] reagieren würde, indem er sie manchmal loslässt und manchmal nachgibt“ usw. Der Satz ist unverständlich. Das Verb ὑπηχέω ist zwar in Liddell-Scott mit sound in answer, echo, respond übersetzt, was wohl zur Wiedergabe „auf sie reagieren“ geführt hat, hat aber bei Philon durchwegs eine andere Bedeutung: eingeben, in den Mund legen (z. B. De migr. Abrahami, 80 [Moses dem Aaron]; 114 und Mos I 274 [Gott dem Bileam], Heres 259 [Gott einem Propheten], auch hier in De Abr., 102 etc.). Die Sinne sind die eigenen Kräfte des Intellekts, mit ihnen bestreitet er seine Show, indem er sie, seine Puppen, mit seiner Stimme sprechen (das meint hier ὑπηχέω), mit seinen Fingerbewegungen laufen, tanzen und wieder ruhen lässt (dies alles übrigens auch der platonischen Höhlenparabel subtil nachempfunden). Da du, Mensch, also dieses Vorbild in dir selbst hast, kannst du leicht begreifen, was du sehnlichst wissen möchtest, nämlich, wie das Weltall funktioniert. Da aber weder die platonische Reminiszenz noch der Topos „Mikrokosmos als Spiegelbild des Makrokosmos“ erkannt wurden, lesen wir in der Übersetzung das nichtssagende „Wenn du dir dieses Beispiel vergegenwärtigst“. Weder die vorzügliche englische Übersetzung von Colson („with this example in yourself“) noch die französische von Jean Gorez („avec cet example en toi-même“) macht diesen Fehler, doch in der älteren deutschen Übersetzung von Josef Cohn steht tatsächlich „wenn du dir dieses Beispiel klar machst“. Aus demselben Missverständnis entsteht dann in § 75 die Verschlimmbesserung gegenüber Cohn: „Wer dies bedenkt und sich nicht durch Fernes, sondern durch Naheliegendes belehren lässt – nämlich durch sich selbst und die Dinge um sich herum –, der wird klar erkennen, dass das Weltall nicht der erste Gott ist, sondern ein Werk des ersten Gottes“ usw. Um „Naheliegendes“ geht es hier nicht, es ist immer noch der Gegensatz zwischen den fernen Gestirnen und dem in uns selbst vorhandenen Mikrokosmos, so dass Cohn es mit „nicht aus der Ferne, sondern aus der Nähe“ besser getroffen hat. Was er, und ihm folgend die neue Übersetzung, weniger gut wiedergegegeben hat, ist das fast Unübersetzbare τῶν περὶ αὑτὸν. Um die „Umgebung“ (Cohn) bzw. die „Dinge um sich herum“ (Lanzinger) geht es hier kaum, dem Sinn am nächsten kommt die Übersetzung von Colson „what makes him what he is“. Wenn man dies als zu frei empfindet (es ist tatsächlich fast schon eine erklärende Paraphrase), könnte vielleicht „durch sich selbst und seine Eigenschaften“ bzw. „und durch das, was sich in einem abspielt“ eine Annäherung sein. Man könne viel aus sich selbst lernen, sagt Philon. Das impliziert aber gerade nicht, dass diese Dinge naheliegend sind, man muss das Funktionieren der eigenen Seele erst einmal verstehen, dann wird auch der bestirnte Himmel über uns begreiflicher. Ungenauigkeiten der Übersetzung verdunkeln die ungemein hübschen Ausführungen Philons in §§ 151–153. § 152 lesen wir über „das Sehorgan“ (eine unnötig schulmäßige Übersetzung von ὄψις; es sollte einfach „die Augen“ heißen, ein solcher Gebrauch ist auch in Liddell-Scott vermerkt): „beim Überlegen und Nachdenken über etwas ist es ruhig und wirkt abgewandt, gewissermaßen in Gedanken mit sich selbst beschäftigt.“ Der Satz ist so sinnlos: Wie kann das Sehorgan „in Gedanken mit sich selbst beschäftigt“ sein? Philon sagt auch nichts dergleichen, sondern versucht, die sonderbare Anspannung in den Augen eines angestrengt denkenden Menschen anschaulich zu beschreiben. „Die Augen“, sagt er, „spannen sich beinahe mit dem Denken zusammen an“. Da der Übersetzer den sprichwörtlichen Leitgedanken „die Augen als Spiegelbild der Seele“ offenbar nicht ganz nachvollzogen hat, wird auch der Schlusssatz des Abschnitts in § 153 falsch bzw. missverständlich übersetzt: „Und so ist zusammenfassend zu sagen, dass die Sehkraft als Bild der Seele beschaffen ist: Sie zeigt durch eine Hochleistung der getreu nachahmenden Kunst ein klares (ἐναργές) Abbild wie durch einen Spiegel, obwohl sie von sich aus nicht von sichtbarer Natur ist.“ Der Übersetzer meint offenbar, „die Sehkraft“ wäre „von sich aus nicht von sichtbarer Natur“. ὅρασις ist aber, genau wie ὄψις vorher, in diesem Fall schlicht eine Bezeichnung für die Augen; die sind durchaus „sichtbarer Natur“ und darum geht es auch im Original: Die Augen lassen uns ein Spiegelbild der Seele sehen, obwohl diese an sich nicht sichtbar ist – eine schöne Paradoxie! Spiegelbilder erwähnt Philon öfters in ähnlichen Kontexten; für das richtige Verständnis muss man im Kopf behalten, dass er antike Spiegel (etwa aus Bronze) und nicht die modernen Erzeugnisse im Sinne hat. Ein Spiegelbild der Antike war immer nur ein Schatten des Originals; man konnte einen Gegenstand darin ahnen, aber nicht klar und deutlich sehen. Die Hauptbedeutung von ἐναργές ist auch nicht „klar“, sondern „sichtbar“, „wahrnehmbar“. Die Augen, sagt Philon, leisten das Höchste, was eine nachahmende Kunst durch Präzision erreichen kann: sie zeigen ein sichtbares – wenn auch undeutliches – Abbild der Seele, obwohl diese von Natur aus nicht sichtbar ist.

Das sind wiederum nur Beispiele. Alles in allem ist es schade, dass die Neuübersetzung eines Werkes, das vor nicht so langer Zeit in alle in Westeuropa gängigen Sprachen, einschließlich Deutsch, übertragen wurde, die Errungenschaften der Vorgänger nicht immer zu benutzen, ihre Schnitzer nicht immer zu korrigieren weiß. Dafür werden Philon in den Anmerkungen viel zu schnell Willkür und Negligenz im Umgang mit der Heiligen Schrift unterstellt. Im § 60 etwa beschreibt Philon die Frömmigkeit Abrahams. Dieser wollte allen „Anordnungen“ Gottes gehorsam sein. Auf der S. 53 lesen wir in der Übersetzung: „Dabei verstand er [Abraham] unter ‚Anordnungen‘ nicht nur diejenigen, die ihm durch Wort und Schrift offenbart wurden […]“ Die Anmerkung dazu (Anm. 73, S. 133) lautet: „Philon scheint hier die Ebene der biblischen Erzählung mit der abstrakt-philosophischen Ebene zu mischen. Er listet daher alle denkbaren Anordnungen auf, auch wenn an Abraham nie eine schriftliche Anordnung Gottes erging.“ Tatsächlich, das „ihm“ ist komisch und für die Argumentation auch überflüssig; automatisch schaut man genauer auf die griechische Seite. Das fragliche αὐτῷ („ihm“) ist mit einem Sternchen versehen, ein Zeichen für eine Lesart, die in dem vorliegenden Buch von dem sonst übernommenen Text der Editio maior (Leopold Cohn, 1902) abweicht. An acht Stellen sind nämlich abweichende Textvarianten angeboten (aus dem in der Editio maior vorhandenen Apparat oder rein konjektural). Die meisten sind unerheblich. Eine davon ist gerade unser αὐτῷ in § 60: das von Cohn konjizierte οὐ … αὐτὸ μόνον („nicht nur“) wird durch das handschriftlich überlieferte οὐ … αὐτῷ μόνον („nicht nur [diejenigen], die ihm usw.) ersetzt. Dabei wird nicht erwähnt, dass die Lesart αὐτὸ nach Ausweis der Editio maior durch die armenische Übersetzung unterstützt wird. Nicht irrelevant ist vielleicht auch, dass in § 225 unseres Traktats die relativ seltene emphatische Konstruktion οὐ … αὐτὸ μόνον im Sinne von „nicht nur“ noch einmal auftaucht, diesmal handschriftlich gut bezeugt, obwohl, wie nicht anders zu erwarten, in einigen wenigen Handschriften durch αυτω oder εαυτω ersetzt. Da aber die oben zitierte Anmerkung sich speziell auf das fragliche „ihm“ bezieht, wäre es fair, auch den des Griechischen unkundigen Leser über das non liquet an dieser Stelle zu unterrichten. Der Umstand, dass „an Abraham nie eine schriftliche Anordnung Gottes erging“, zusammen mit der grammatischen und paläographischen Plausibilität, haben Cohn zu seiner – aus meiner Sicht sehr ansprechenden – Konjektur bewogen. An so mancher Stelle im Kommentar, wo Philon angeblich mit dem Bibeltext allzu frei umspringt, muss ich an den alten juristischen Grundsatz denken: In dubio pro reo.

Im Essay-Teil bildet der schöne Essay „Philo Philosophus?“ von Maximilian Forschner eine zuverlässige Einführung in die philosophische, „griechische“ (im Unterschied zu der bibelexegetischen) Seite von Philon. Professionell und kenntnisreich wird Philons Stellung im intellektuellen Leben seiner Zeit beschrieben. Wichtige Themen der hellenistischen Philosophie wie der Begriff des Gesetzes, menschliche Tugend, Gefühle und Affekte werden spezifisch in Bezug auf De Abrahamo erörtert. Die Betrachtung schließt sehr nachvollziehbarerweise mit dem Abschnitt „Philon als Platoniker“. „Die Schrift De Abrahamo spiegelt in ihrem philosophischen Aspekt denn auch einen etwas schlichten Koinē-Platonismus wider, dessen zentrales Thema die wertende Unterscheidung von sensibler und intelligibler Welt und der Ausrichtung des Menschen auf eine der beiden Sphären darstellt“ (189). Mit diesem Ariadnefaden in der Hand kommt der Leser tatsächlich gut durch das Labyrinth philonischer Ausführungen. Bedauerlicherweise ist der wichtige Hinweis, dass Philon nie ein Stoiker war oder geworden ist, in die Fußnoten verbannt: „Der pantheistisch geprägten Substanz stoischen Denkens, der natürlich auch die stoische Ethik verpflichtet ist, dürfte Philon sich freilich in keiner Phase seines Denkens ernsthaft genähert haben“ (S. 171, Anm. 11).

Mit dem Essay von Simone Seibert „Der Weg des Weisen: Der Dreischritt Hoffnung – Umkehr – Gerechtigkeit in Philons De Abrahamo, mit Vergleichen zur Tabula Cebetis, Joseph und Aseneth und der Psychomachie von Prudentius“ wird der Leser nun in Philons Auslegungsmethode eingeführt. Folgenden Aussagen kann man nur zustimmen: Philons „Methode besteht in der Allegorese, die ihre Vorbilder in der griechisch-hellenistischen Homerinterpretation, der stoischen Mythenexegese und der jüdischen Bibelauslegung hat. Philon hat diese Technik entscheidend weiterentwickelt und ihr eine weitreichende Wirkung verliehen, vor allem auch auf die Kirchenväter“ (195). Simone Seibert zeigt auch im Einzelnen sehr schön, worin diese Weiterentwicklung bestand. In dem vergleichenden Teil des Essays ist mir unklar geblieben, wodurch sie jüdischen Einfluss in der Tabula Cebetis belegt sieht. Am Ende des entsprechenden Abschnitts (222) lesen wir: „Die Tabula ist ein Beispiel für die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen paganen und jüdischen Vorstellungen und sie zeigt, dass es in dieser Zeit einen regen Austausch gegeben hat. […] Sie zeigt jedoch den schon vorchristlichen Einfluss jüdischer Gelehrsamkeit, möglicherweise auch Philons, auf die griechische Philosophie dieser Zeit.“ Eine interessante Behauptung, die mir aber durch die Beweisführung in der vorliegenden Arbeit nicht genügend fundiert zu sein scheint.

Der Essay von Friederike Oertelt „Philons Frauenbild: Die Darstellung Saras und Hagars in De Abrahamo“ kommt zu dem wenig überraschenden Schluss, dass Sara vor allem als vorbildliche Ehefrau dargestellt werde, und wagt die Schlussfolgerung: „In der starken Fokussierung auf die Ehe zwischen Abraham und Sara innerhalb der Schrift Abr. kann auch der Grund für die Marginalisierung der Figur Hagar gesehen werden“ (252).

Im Essay von Matthias Adrian „Schrift – Orakel – Prophetie“ hat mich persönlich die steile These, die starke Betonung der wörtlichen Inspiration des Pentateuchs in Philons Schriften, unter anderem dadurch, dass er die Heilige Schrift durchwegs „Orakel“ nennt, sei gegen die Oracula Sibyllina gerichtet, nicht überzeugt, genausowenig wie die Idee, dass das Ziel dieser Polemik sei, „seine [Philons, d.h. die jüdischen] heiligen Schriften für ein paganes Publikum interessant zu machen und ihnen eine orientierende Autorität zuzuschreiben“ (272). Dass Philon pro-römisch eingestellt ist und die Sibyllina anti-römisch, ist allerdings wahr.

Der Band wird durch das Essay von Nicolai Sinai Von Philon zu Ibn ῾Arabi: Abraham im islamischen Kontext abgerundet.