Im Rahmen der Reihe Religionen der Menschheit hat der Kohlhammerverlag 2021 unter dem Titel Judaism ein dreibändiges Werk über das Judentum herausgebracht. Für die drei Bände History, Literature und Culture and Modernity zeichnen die Professoren Michael Tilly (Tübingen) und Burton L. Visotzky (New York)
als Herausgeber verantwortlich.
Aufbau
Ein kurzer Aufriss dessen, was allgemein als Jewish Studies bezeichnet wird, steht am Anfang jedes der drei Bände: Die Wissenschaft des Judentums beginnt im 19. Jahrhundert mit Leopold Zunz 1794-1886 und setzt sich nach dem Zweiten
Weltkrieg mit Jacob Neusner (1932-2016) und Martin Hengel (1926-2009) fort. Letzterer
macht Platz für die Jewish Studies an christlichen Fakultäten. Seitdem haben diese sich weltweit ausgebreitet, finden
jedoch ihren Schwerpunkt mit den meisten Forschern – abgesehen natürlich von Israel
– in den USA. Dies ist wohl auch der Grund, warum der Verlag sich dazu entschlossen
hat, diese Bände in englischer Sprache herauszugeben und mehrheitlich amerikanische
Autoren zu verpflichten. In Europa hat sich die Wissenschaft vom Judentum noch längst nicht von der Tragödie des Holocausts und des Zweiten Weltkriegs erholt.
Vor dem Überblick über die 29 Beiträge tragen die Autoren den verschiedenen politischen
Korrektheiten Rechnung: Es fehlt die Beschäftigung mit nicht-weißen jüdischen Gemeinschaften;
Frauen sind in der Forschung noch unterrepräsentiert; es besteht eine „Ashkenormativity“, das Werk ist eurozentriert, was, wie die Herausgeber selbst vermuten, für ein in
Europa (Deutschland) entstandenes bzw. veröffentlichtes Kompendium zu erwarten ist;
nicht behandelt werden jüdische LGBTQ-Gruppierungen, Behinderte und vor allem das
Phänomen der Armut in der globalen jüdische Gemeinde.
Das hier vorgestellte Judentum ist, so die Herausgeber, im wesentlichen rabbinisches
Judentum. Ihr Ziel ist, den nicht zu überschätzenden Beitrag der jüdischen Religion
zur globalen Geschichte und Kultur zu vermitteln und die „lachrymose theory“ zu vermeiden, die das Judentum vor allem als eine Abfolge von Katastrophen betrachtet.
Für die Einzelbeiträge (Bd. 1: 12 Kapitel, Bd. 2: 10 Kapitel, Bd. 3: 7 Kapitel) ist
jeweils eine kurze Inhaltsangabe (mit ein paar Worten zum jeweiligen Autor) vorgesehen.
Insgesamt sind diese Zusammenfassungen sehr aufschlussreich, und es werden bereits
hier viele Begriffe und Fachausdrücke erklärt. Bei dieser Gelegenheit sei hier gleich
eine Kritik formuliert. Es wäre wünschenswert, a) ein gemeinsames Register für alle
3 Bände zu haben und nicht nur eines für jeden Einzelband und b) ein Glossar wichtiger
Fachausdrücke. Die Auswahl zu treffen, mag zugegebenermaßen schwierig sein. Abgesehen
davon sind die Registereinträge nicht vollständig.
Der 1. Band soll im Folgenden besonders ausführlich besprochen werden, vor allem,
weil er den historischen „roten Faden“ bildet, zu dem die beiden anderen Bände Erläuterungen
und Präzisierungen liefern. Die Ausführungen zum zweiten und dritten Band fall sodann
entsprechend kürzer aus.
Band I
Hermann Lichtenberger („Judaism, Hellenism, and the Maccabees“) beginnt (fast) am Anfang, nämlich mit dem Hellenismus und seinen frühen Gegnern,
den Makkabäern.(Leider hat sich bei der Angabe der Bibelstelle, die hellenismos zum ersten Mal als polemische Bezeichnung gebraucht, ein Fehler eingeschlichen –
es handelt sich um 2 Makk 4.13 und nicht um 2 Makk 2.13.) Dieses Kapitel beschäftigt
sich vor allem mit dem Verhältnis zwischen der griechischen (hellenistischen) und
der jüdischen Kultur und räumt mit der Meinung auf, dass es sich dabei um Gegnerschaft
gehandelt habe. Die Verwendung von mehreren Sprachen, die Übersetzung der Septuaginta
(in der Koiné!) u. a. zeigen, dass das Judentum in Palästina hellenistisches Judentum
ist. Josephus, Philo und andere schreiben ihre Werke auf Griechisch.
Die Gegner aus der anderen „Richtung“, den anderen Schatten, um Erich Gruen zu zitieren, beschreibt Natalie B. Dohrmann („Jews in the West: From
Herod to Constantine the Great“). Die Römer haben nicht nur interne Probleme, sondern
auch Schwierigkeiten, die jüdische Provinz zu befrieden. Nach der Herrschaft des Herodes
und seiner unmittelbaren Nachfolger beginnt, was Dohrmann als run-up to the War bezeichnet, sozusagen die Vorbereitung für den Krieg, was fast klingt, als habe es
nur noch diesen kriegerischen Ausgang gegeben. Wir begegnen erstmals der schillernden
Persönlichkeit des Flavius Josephus, der sich nicht entscheiden kann, wem er nun die
Schuld für den Ausbruch des Krieges geben soll.
Die Autorin zweifelt daran, dass das Jahr 70 n. Chr. für die Juden tatsächlich eine
Zeitenwende darstellte, denn Tempel seien auch vorher schon zerstört worden. Doch
ein paar Seiten weiter zeichnet sie doch ein desolates Bild der Wüstenei, die Titus’
Armeen hinterlassen haben. Dennoch bleiben viele Strukturen bestehen, zumindest bis
zum Bar-Kochba-Aufstand. Dann allerdings ist der Weg frei für eine schriftzentrierte
rabbinische Form des (Diaspora-) Judentums.
Lee Levines Kapitel „The Resilience of Jews and Judaism in Late Roman-Byzantine Eretz Israel“ steht im Zeichen des neuen Blicks der Forschung auf die Stellung der Juden im römischen
und byzantinischen/christlichen Reich. Viele Stimuli seien vom Christentum ausgegangen,
das noch keineswegs so geeint war, wie die Kirche dies gern gewollt hätte. Der vom
Autor gebrauchte Begriff der Resilienz wird uns noch öfter begegnen. Gelegenheit,
die Fähigkeit zur Resilienz unter Beweis zu stellen, gab es für die Juden denn auch
genug.
In diesem Beitrag wird erstmals die Kairoer Genizah erwähnt und ihre unschätzbare
Bedeutung für die Forschung hervorgehoben. Sie ist denn nach Ansicht des Autors ein
weiterer Beweis für die Resilienz und die Kreativität der Juden.
Geoffrey Hermann („Judaism in Babylonia“) schreibt ein fast als „ruhig“ zu bezeichnendes
Kapitel über das Judentum in Babylonien bis zum Auftauchen des Islam. Zwischen dem
persischen Zoroastrismus und dem jüdischen Talmud sowie den entsprechenden Praktiken
scheint es viele Verbindungen gegeben zu haben, fast könnte man von einer „convivencia“
avant la lettre sprechen. In der Sassanidischen Epoche erscheinen die Rabbinen als wichtigste intellektuelle
Kraft für das Judentum. Hermann macht uns mit einigen Fachausdrücken im Zusammenhang
mit dem Talmud vertraut, was immer sehr willkommen ist.
Einiges aus diesem Kapitel findet sich auch im folgenden Beitrag „Jews and/under Islam:
650-1000 CE“ von Phillip Liebermann. Mehrere Auswanderungswellen sind der Grund für
die Präsenz von Juden auf der arabischen Halbinsel. Mohammed hat sich mit verschiedenen
Aspekten der jüdischen Religion auseinandergesetzt oder vielmehr auseinandersetzen
müssen. Wir erfahren vieles über die staatliche Organisation, aber auch über das Alltagsleben
im Hijaz. Nach den Quellen zu urteilen war die Integration der Juden in die islamische
Gesellschaft weitgehend gelungen. Es kommt wohl zu hybriden Identitäten, was der Autor
mit heutigen Gesellschaften vergleicht: politisch gehört man einem Staat an, dessen
(offizielle) Religion man aber nicht übernimmt. Der Autor beschäftigt sich auch mit
der Abspaltung der Karäer, die mit den Muslimen einige Vorstellungen teilen, vor allem,
was die heiligen Texte betrifft.
Die jüdische Geschichte bewegt sich zunehmend nach Westen und in Robert Chazans Beitrag
„Judaism in the Middle Ages: 1000-1500“ entwickeln sich der wenig interessante christliche
und jüdische Westen, aber auch der „zurückgebliebene“ Norden zu neuen wichtigen Kräften.
Ein vom Autor häufig gebrauchtes Wort ist vitalization, wobei nicht ganz klar wird, woher diese Vitalisierung kommt und worin sie letztendlich
besteht. Ein paar Anhaltspunkte gibt es doch: Christliche Eroberungen und die Niederlassung
von Juden in Nordeuropa, die keineswegs konfliktfrei verlief. Wichtige Etappen sind
Speyer und Mainz im 11. Jahrhundert, wobei der große Bibelkommentator Rashi in Mainz
bereits „Vorarbeit“ geleistet hat. Das Ergebnis ist eine die südeuropäischen Gemeinden
an Größe übertreffende jüdische Gemeinde in Nordeuropa.
Die erwähnten Spannungen wachsen sich in der Folge zu Ausschreitungen gegen die Mainzer
Juden aus. Diese flüchten nach Speyer, wo sie vom Bischof mit offenen Armen empfangen
werden. Er hat verstanden, wie nützlich die Juden in Handel und Wirtschaft für die
Stadt sein können. Der Gegensatz zwischen bischöflicher und/oder obrigkeitlicher Unterstützung
vs. Feindlichkeit der Bevölkerung beherrscht auch die folgenden Jahre. Ein wichtiger
Aspekt ist dabei das Zinsverbot für Christen, was zu Folge hatte, dass der Geldverleih
bekanntermassen von den Juden übernommen wurde.
Der Autor sieht in der Tatsache, dass die nordeuropäischen Juden trotz aller Widerstände
zu einem wichtigen Teil des Judentums wurden, einen der Gründe, die es ihren Nachfahren
erlaubt haben, zu „größeren Höhen“ (greater hights) aufzusteigen. Stichwort: Resilienz.
In Südeuropa verläuft die Entwicklung nicht in derselben Weise. Die jüdischen Gemeinden
sind schon lange Teil der jeweiligen Gesellschaften und das Verhältnis zwischen den
Bevölkerungsgruppen bleibt relativ stabil und konfliktfrei. Die Mischung aus jüdischen,
islamischen und christlichen Einflüssen führt zu einer kulturellen Blüte. Die Konfliktlinien
verlaufen jetzt eher innerhalb des Judentums, was der Autor an der Person des großen
Intellektuellen Moses Maimonides aufzeigt.
Das christliche Zinsverbot beginnt nun auch in Südeuropa seine Auswirkungen zu zeigen
und führt zu Spannungen. Neu ist, dass die Kirche versucht, ihre Gläubigen von den
Juden zu trennen, wobei es zu Missionierungsversuchen kommt.
Die Pest von 1348 ist vielleicht die erste Katastrophe, für die man Schuldige sucht
und auch findet – die Juden. Die Ausschreitungen gegen die Juden von 1391 können von
den weltlichen Autoritäten nur bedingt eingedämmt werden, was vor allem für Spanien
gilt. Es gibt nun zum ersten Mal „falsche“ Christen, d. h. Juden, die in ihrer Not
zum Christentum konvertierten und im Grunde nie als vollwertige Mitglieder der christlichen
Gemeinde galten. 1492 werden die Juden schließlich aus Spanien vertrieben.
Interessant ist die vom Autor präsentierte Unterscheidung zwischen Motivation und
Rechtfertigung in Bezug auf diese Entscheidung der katholischen Könige. Letztere war
offensichtlich – man misstraute den falschen Christen, die weiterhin Kontakt zu ihren
ehemaligen Glaubensbrüdern und -schwestern hielten. Die Motivation – so heutige Forschungsergebnisse
– war der Wunsch nach einer homogenen Bevölkerung. Auch das eine prägende Erfahrung
für die Nachkommen der mittelalterlichen Juden.
Joseph M. Davis („Judaism During and After the Expulsions: 1492-1750“) sieht den Beginn
der langen Vormoderne, die immerhin mehr als 250 Jahre bis zur von Moses Mendelssohn
angestoßenen jüdischen Aufklärung dauert, ambivalent – die Situation der Juden bleibt
gleich und doch besteht Interesse und Offenheit für Neues: neue Synagogen sehen Raum
für die Frauen vor, das Bilderverbot wird in Frage gestellt (Rembrandt porträtiert
den Amsterdamer Rabbiner), der Buchdruck wird genutzt. Andere Tendenzen tauchen auf,
um ebenso schnell wieder zu verschwinden. Eine Periode des Übergangs. Sie beginnt
mit der schon erwähnten Vertreibung der Juden aus Spanien. Auch Davis diskutiert die
Gründe, ohne jedoch die von Chazan vorgestellte Motivation zu erwähnen.
Die Vertreibungen breiten sich in ganz Westeuropa aus, und es fehlt nicht der Hinweis
auf Luthers unerträgliche Judenschriften, die ganz wesentlich zu Vertreibungen in
Deutschland beigetragen haben. Das Ergebnis ist ein Rückgang der jüdischen Bevölkerung
in Westeuropa mit einem Tiefpunkt um das Jahr 1570, als es nur noch wenige Städte
mit einer nennenswerten jüdischen Gemeinde gibt. Hier beginnt nun der Exodus vieler
Juden nach Osteuropa und vor allem in das Osmanische Reich. Und wieder kann man mit
dem Autor von einer Recovery of Judaism sprechen. Die Tolerierung der Juden in Westeuropa wird wieder möglich. Interessant
ist die Tatsache, dass Juden, angesichts der Unmöglichkeit einer Verständigung zwischen
Katholiken und Protestanten, als weniger stubborn angesehen wurden.
Die wichtigsten Aspekte des sich nun entwickelnden Early Modern Judaism sind der Buchdruck und die damit einhergehende Alphabetisierung der jüdischen Bevölkerung.
Der Besitz von Büchern war nicht mehr den Wohlhabenden vorbehalten. Dies gilt im Übrigen
auch für die Frauen.
Die Epoche bringt bekannte Figuren hervor wie den Kabbalisten und Autor des Schulchan Aruch, Joseph Karo (1488-1575), der von einer göttlichen Stimme (der göttlichen Mutter)
zur Emigration nach Israel aufgefordert wird. Im palästinischen Safed lassen Karo
und etwas später Isaac Luria (1534-1582) die Mystiker der Spätantike „wiederauferstehen“,
was im Laufe der nächsten Jahrzehnte viele große jüdische Gelehrte nach Safed und
Jerusalem zieht. (Der Kabbala ist in Bd. II ein eigenes Kapitel gewidmet.) Beherrscht
wird das 17.Jahrhundert durch die Namen Baruch de Spinoza (1632-1677) und Sabbatai
Zwi (1626-1676). Ersterer steht – so Davis – für die Krise des jüdischen Rationalismus,
letzterer für die der jüdischen Mystik. Beide wurden aus der jüdischen Gemeinschaft
ausgeschlossen und ihr Leben und Schicksal zeigt die damalige Unvereinbarkeit von
Rationalismus und Judentum. Für die Synthese verweist uns der Autor auf Moses Mendelssohns
Werk Jerusalem, das 1781 erscheint.
Wie so häufig in der Geschichte des Judentums ist auch diese Epoche theologischer
Spannungen zugleich eine Zeit der Stabilisierung und des Wachstums der jüdischen Gemeinden.
Inzwischen werden die deutschen Juden als reich angesehen, während viele Juden Osteuropas
(Polen) zu den Armen zählen. Auch die jüdische Gemeinde in Israel wächst (wieder).
Das Zentrum der (jüdischen) Welt ist Amsterdam, wo auch viele jüdische und vor allem
jiddische Werke gedruckt und veröffentlicht werden.
Zeitgleich mit der Neuveröffentlichung von Moses Maimonides’ Führer der Unschlüssigen (1740) verbreitet sich an den „Rändern“ Polens eine neue Bewegung unter der Führung
von Israel ben Eliezer alias Baal Shem Tov. Es handelt sich um die Chassiden, die
jedoch, wie der Autor betont, erst in der Moderne wirklich wichtig werden. Neben ihren
Ansichten zur göttlichen Immanenz legten die Chassidim Wert auf die Freude. „Jeder
Tag scheint ihnen ein Feiertag“, beklagen die Gegner. Sie leben nach den Vorgaben
des Schulchan Aruch und sprechen Jiddisch.
Davis und der Autor des folgenden Kapitels Dominique Bourel („Modern Judaism: 1750-1930“)
bedienen sich der Jahreszahl 1750, die als Beginn der sogenannten Sattelzeit angesehen
wird, um den Übergang von der (jüdischen) Vormoderne zur (jüdischen) Moderne zu definieren.
Das 18. Jahrhundert sieht einen starken Anstieg der jüdischen Bevölkerung in Europa,
von ca. 700000 um 1700 bis 9.5 Millionen im Jahr 1935. Und hier gibt es bereits eine
dunkle Vorschau auf 1945: 3.8 Millionen Juden leben dann noch in Europa.
Wichtige Stationen dieses Wegs in die Moderne sind die jüdische Aufklärung (Haskalah)
mit Moses Mendelssohn, die Konsolidierung des Chassidismus, die Wissenschaft des Judentums, die Debatten zwischen Orthodoxen und Reformern und das Aufkommen des Zionismus. Diese
Aspekte gelten auch für die Ostjuden, denen der Autor ein eigenes Unterkapitel widmet.
Moses Mendelssohn übersetzt die Bibel ins Hochdeutsche und trifft sich mit der lutherischen
Ansicht, dass die Menschen, in die Lage versetzt werden müssen, die Bibel in der Sprache
der Gesellschaft zu verstehen, in der sie leben (wollen). Er propagiert Gewissensfreiheit,
und es finden sich bei ihm erste Ansätze zu einer Trennung von Religion und Staat.
Vieles ändert sich in Europa, in Deutschland halten jüdische Frauen (Henriette Herz,
Rachel Varnhagen, Fanny Hensel) Salon und schaffen so einen „halb-neutralen“ Raum,
in dem sich Juden und Nichtjuden austauschen können. Dieser Austausch ist dann auch
eine der Charakteristiken der jüdischen Moderne – Juden sind nicht mehr Möchtegern-Christen,
sie sind in der nicht-jüdischen Kultur angekommen.
Es gibt viele verschiedene Strömungen im Judentum, aber auch viele Gemeinsamkeiten.
Auch in diesem Kapitel ist wieder die Rede von den Chassidim, die sich gegen den orthodoxen
Rigorismus und zugleich gegen Assimilierung wenden – mit Erfolg.
Nach einem kurzen Exkurs in die Welt des Ostjudentums – Polen als Geburtsstätte verschiedener
jüdischer „Ideologien“, wie der Autor sie nennt, Russland als jüdische Katastrophe
– wendet sich Bourel einem besonders wichtigen Aspekt der jüdischen Moderne zu, nämlich
der Verwissenschaftlichung des Judentums. Die Bedeutung der jüdischen Religion und
der jüdischen Kultur soll wissenschaftlich untermauert werden, und man versucht auf
diese Weise den aufkommenden Antisemitismus zu bekämpfen und der jüdischen Gemeinschaft
mehr Geltung zu verleihen. Leider gelingt es den Vorkämpfern wie Leopold Zunz, Zacharias
Frankel, Abraham Geiger oder Moritz Steinschneider nicht, diese Wissenschaft auch
in den universitären Lehrplänen zu verankern. Und so wird 1872 die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums gegründet, wobei man sich am Modell der deutschen Universität orientiert.
In der Mitte des 19. Jahrhundert macht das europäische Judentum den Sprung über den
Atlantik. Die Wissenschaft drückt den neuen wissenschaftlichen Instituten für das Judentum in Amerika ihren
(deutschen) Stempel auf. Die Auseinandersetzungen zwischen Orthodoxen und Reformern
in Deutschland werden in Amerika von denselben Akteuren weitergeführt.
In Europa „nationalisieren“ sich die Juden in den jeweiligen Ländern und es gibt typische
Berufe, die von Juden gewählt werden. Aber auch immer wieder widersprüchliche Situationen:
Juden sind in der Paulskirche präsent, schreiben die Weimarer Verfassung (Hugo Preuss,
1860-1925) oder vertreten Deutschland auf der internationalen Bühne (Walter Rathenau,
1867-1922). Rathenaus Ermordung betrachtet Bourel sehr richtig als logische Folge
des spätestens zu Beginn des 19. Jahrhundert aufkeimenden Antisemitismus, und er erinnert
an die Hep hep-Unruhen, den Antisemitismus-Streit und die Schrift Der Sieg des Judentums von Wilhelm Marr (1879). Die Zahl der jüdischen Soldaten wird begrenzt, was bedeutet,
dass die Emanzipation der Juden nicht überall erreicht ist, was auch für Frankreich
gilt, wie die Dreyfus-Affäre (1894-1906) zeigt.
Ein Mann, der die antisemitischen Tendenzen früh erkennt und entsprechend reagiert,
ist Theodor Herzl (1860-1904), der heute als Begründer des Zionismus gilt, wobei man
die Vorarbeiten der frühen Zionisten wie Moses Hess (1812-1875) und Leo Pinsker (1821-1891)
nicht außer Acht lassen darf. Auf dem ersten Zionistenkongress in Basel (1897) ist
Herzls Vorstellung, dass es nur ein einiges jüdisches Volk gibt, noch positiv gewendet,
die Nazis nützen sie für ihr Vorhaben, die Juden als Volk auszulöschen.
Für die Errichtung eines Judenstaats (Herzl 1896) wird Palästina als Land der Väter ausgewählt. Die Juden in Deutschland
fühlen sich je länger, je weniger in Sicherheit, und die lange Reihe von Zionistenkongressen
ist, so der Autor, eine Chronik der Vorbereitungen für einen jüdischen Staat. Die
Balfour-Deklaration von 1917 ist dann ein wichtiger Schritt hin zu der Gründung Israels
1948.
Bourel beendet seinen Beitrag verhalten. Moderne sei real, und eine moderne Welt ohne
Juden nicht vorstellbar. Auch er spricht, ohne sie zu benennen, von Resilienz. Diese
sei möglich, weil das Judentum älter sei als Christentum und Islam und es so das Zusammenleben
mit anderen in jeglicher Form früh gelernt habe. Vielleicht ist es tatsächlich wie
unter Geschwistern – die Ältesten lernen, sich immer wieder neu auf unbekannte Situationen
einzustellen.
Das Wort Holocaust hat vor einiger Zeit (wieder) Schlagzeilen gemacht, nachdem es von dem notorischen
Holocaust-Leugner Mahmoud Abbas in einer Pressekonferenz gegen Israel verwendet wurde.
Michael Berenbaum ruft in seinem Beitrag „The Holocaust and Anti-Semitism“ die verschiedenen
alternativen Bezeichnungen in Erinnerung – Shoah, Churban oder schlicht The Destruction of the European Jews. Auch was zum Holocaust geführt hat, wird von Berenbaum dargelegt, wobei er klar macht,
dass die Nationalsozialisten dem schon lange bestehenden religiösen Antisemitismus
und dem politischen Antisemitismus den rassistischen, gegen die Juden als Rasse, hinzufügten,
was dem Antisemitismus eine neue Dimension gab. Es wird allerdings nicht klar, ob
die drei Stränge zusammengeführt wurden oder ob der religiöse Antisemitismus am Ende
des 19. Jahrhundert zu einem rassischen/rassistischen mutierte.
Wir erhalten interessante Einblicke in die Versuche verschiedener jüdischer Gruppen
(Zionisten, Orthodoxe), sich – zum Teil zu Lasten anderer (jüdischer) Gruppen – mit
den Nazis zu arrangieren.
Im Jahr nach dem 50. Jahrestag des Attentats auf die israelische Olympiamannschaft
in München ist es interessant zu erfahren, dass der damalige IOC-Präsident Avery Brundage,
der die Spiele trotz des Todes der Sportler weiterlaufen ließ, bei den olympischen
Spielen 1936 in Berlin jüdische Sportler aus den USA von den Wettkämpfen ausschloss.
Berenbaums Beitrag ist naturgemäß sehr ausführlich und behandelt alle wichtigen Aspekte
dieser Epoche bis zu den Nürnberger Prozessen. Er streift auch die Frage nach dem
Genozid, ein Wort das von dem polnisch-jüdischen Amerikaner Raphael Lemkin (1900-1959)
geprägt wurde.
Wie geht die globale Gesellschaft mit dem Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg
um? Der Autor beleuchtet die Haltung der Kirchen, den Antisemitismus in Nordamerika
und in Europa und auch die Versuche, europäische Juden zur Emigration zu überreden
(B. Netanjahu nach dem Attentat auf den Pariser Hypercacher Supermarkt 2015).
Ein letzter Abschnitt ist den Überlebenden und ihren Traumata sowie der Erinnerungskultur
gewidmet.
Der Beitrag „Zionism and the State of Israel“ von Martin Kloke wiederholt zunächst
einiges, was schon von Bourel zum Thema Zionismus präsentiert wurde. Er geht insofern
darüber hinaus, als er die britische und amerikanische Haltung zum Zionismus näher
beleuchtet und auch das Sykes-Picot-Abkommen behandelt. Dazu gibt es eine der wenigen
Karten in diesem Buch.
Kloke stellt die mit der Aufteilung des Nahen Ostens nach dem Ersten Weltkrieg verbundenen
Probleme, aber auch die jeweiligen Interessen der Siegermächte vor. So steht beispielsweise
Churchill dem Zionismus positiv gegenüber, er will sich jedoch gleichzeitig nicht
gegen die Araber stellen, wobei hinter allem – natürlich – die Verteidigung britischer
Interessen steht. Churchill optiert für eine Zwei-Staaten-Lösung.
In den 1920er Jahren sieht sich Israel mehreren Einwanderungswellen (Aliyoth) aus
Europa gegenüber – die vorläufig letzte findet zwischen 1932 und 1938 statt. Bemerkenswert
ist die Tatsache, dass Amerika bereits 1924 einen Einwanderungsstopp für Juden beschlossen
hatte, was polnische und deutsche Juden dazu veranlasste, sich in Israel niederzulassen.
Erstere sind aufgrund ihrer Erfahrungen gegen eine heterogene Gesellschaft und für
eine härtere Gangart gegen die Araber. Diese wiederum sind häufig aufgeschlossen für
nationalsozialistische Ideen und arbeiteten an deren Verbreitung.
Das Kapitel über die verschiedenen Teilungspläne für Palästina (hier noch eine Karte
zum Teilungsplan der UNO von 1947) zeigt – wie das vorhergehende –, welche schillernde
und weitgehend unmoralische Rolle vor allem Großbritannien in diesem Zusammenhang
spielte. Bemerkenswert ist im Übrigen auch die Devise, die sich der Staat Israel bei
seiner Gründung im Mai 1948 gibt, kurz bevor die Arabische Liga ihren Angriff gegen
ihn startet: „Nicht in Europa, aber aus Europa“.
Kloke behandelt die verschiedenen (verfassungs)rechtlichen Probleme Israels, eines
Landes, das bis heute keine Verfassung hat, da Orthodoxe und Liberale sich mit ihren
Vorstellungen unversöhnlich gegenüberstehen. Doch die Institutionen funktionieren
ebenso wie in anderen demokratischen Ländern, die starke Stellung des Militärs unterscheidet
Israel jedoch von vielen (europäischen) Ländern.
Viele Brüche kennzeichnen die israelische Gesellschaft. Zwischen den europäischen
Ashkenazim – Immigranten der ersten Stunde – und den Mizrachim und Sephardim aus den
arabischen Ländern bestehen ähnliche kulturelle und sozio-ökonomische Unterschiede
wie zuvor zwischen westeuropäischen und osteuropäischen Juden. Problematisch ist das
Verhältnis zwischen orthodoxen und säkularen Juden, und die Demographie zeigt, dass
die orthodoxen Juden bald die Mehrheit bilden werden.
Die weithin bekannte Entwicklung der Versuche, Frieden zu schaffen (Gründung der PLO,
Regierungen unter Nasser und Sadat u. a.), wird von Kloke ausführlich beschrieben,
ebenso wie die Anfänge der Siedlerbewegung. Der Autor beschreibt innerhalb weniger
Seiten zweimal mit denselben Worten die Überzeugung Israels, dass die Araber unfähig
zum Frieden seien, weshalb man Fakten schaffen musste.
Nach 1967 nimmt der Zionismus unter dem Einfluss von Gruppen wie dem Gush Emunim (Block der Getreuen) eine nationalistische, messianische Färbung an, die Bibel ist
Leitfaden für alle Bereiche des Lebens.
Der Autor sieht Israel an einem Scheideweg zwischen Demokratie und Autokratie und
doch stellt er fest, dass Israel mächtige Freunde hat, wie die USA und Deutschland.
Viele Staaten haben sich Israel angenähert, andere hingegen sehen in Israel einen
Vorposten des US-Imperialismus oder ein Apartheids-Regime.
Wie viele andere unterscheidet auch Kloke nicht zwischen Antisemitismus und Kritik
an Israel und stellt die Frage, ob wir es lediglich mit einer Änderung der Etiketten
zu tun haben. Diese Ansicht entspricht der deutschen Staatsräson in Bezug auf Israel.
Doch gibt Kloke zu, dass die Friedensbemühungen von beiden Seiten kommen müssen.
Es wurde bereits erwähnt, dass die Jewish Studies vor allem in den USA betrieben werden, und so ist es nur folgerichtig, dass sich
ein Beitrag mit dem Judentum in Amerika befasst. Deborah Dash Moore macht in „Judaism
in America“ noch einmal einen Zeitsprung zurück ins 17. Jahrhundert, als eine Gruppe
von 23 aus dem brasilianischen Recife geflüchteten jüdischen Männern, Frauen und Kindern
sich in New Amsterdam, dem späteren New York, niederlassen. Der Streit zwischen dem
Gouverneur Peter Stuyvesant und der Niederländischen Ostindienkompanie darüber, ob
man diese „Fremden“ im Land dulden will, geht schließlich zugunsten der Juden aus.
Diese sind Nachkommen der spanischen oder portugiesische Conversos.
Viele bleiben nicht in New Amsterdam, aber die wenigen, die bleiben, legen sozusagen
den Grundstein für die jüdische Gemeinde in Nordamerika, bildlich zu sehen an der
Errichtung der ersten Synagoge.
In der Folge gibt es starke Spannungen zwischen den sephardischen und den aschkenasischen
Gruppierungen; sie sprechen auch nicht die gleichen Sprachen – Ladino oder Jiddisch.
Wichtiges Zentrum des amerikanischen Judentums wird Charleston. Auch hier verläuft
nicht alles friedlich, doch sind es diesmal Generationenkonflikte. Junge Juden verlangen
Reformen. In der Mitte des 19. Jahrhundert kommt es zu mehreren Einwanderungswellen,
die das amerikanische Judentum grundlegend verändern. Die Autorin lenkt den Blick
auf die Situation der Frauen, die sich, angestoßen u. a. von Rebecca Gratz (1781-1869),
bewusst werden, dass auch sie das Judentum mitgestalten können.
Die diversen Gruppierungen innerhalb des Judentums kommen zu keinem Konsens, wobei
sich bei der sogenannten Pittsburgh Plattform zeigt, dass die Bruchlinie zwischen
reformerischen zentraleuropäischen Juden und traditionalistischen osteuropäischen
Juden verläuft.
Ein „neues Amerikanisches Judentum“ (a new American Judaism, D. Moore) wird mit den ‚neuen Amerikanern‘, den native born, geboren. Dazu gehört auch der NCJW (National Council of Jewish Women), der mit seinen
Ideen und Praktiken auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Stellung der Frauen jüdische
Einwanderinnen aus Europa anzieht.
In New York, dem unbestrittenen Zentrum amerikanisch-jüdischen Lebens, kommt es 1905
zu Gründung des American Jewish Committee (AJC), das sich um die Rechte und Belange
der Juden auch außerhalb Amerikas kümmern will.
In der Zwischenkriegszeit gründet der Reformer Mordecai M. Kaplan (1881-1983) die
Society for the Advancement of Judaism (SAJ). Für ihn ist das Judentum nicht einfach eine Religion, sondern besteht aus
vielen anderen Elementen, wie Literatur, Kunst und Musik. Die Juden sind ein Volk,
aber keine Nation; sie müssen sich in zwei Zivilisationen zurechtfinden, der jüdischen
und der amerikanischen. Nach Moores Ansicht wären Kaplans Ideen auch für Traditionalisten
anschlussfähig, doch mit seiner Ablehnung der Auserwähltheit des jüdischen Volks überschreitet
er eine rote Linie. 200 Jahre nach Spinoza wird auch er im Juni 1945 kurz exkommuniziert
und sein Sabbath Prayer Book (1945) verbrannt.
Nach dem Krieg bilden sich drei Gruppen im amerikanischen Judentum heraus: Moderne
Orthodoxe, Konservative und Reformer. Moore beschreibt anschaulich die Probleme der
„eigentlichen“ Orthodoxen, die vielfach vor dem Nationalsozialismus geflohen waren
und versuchten, die alte Welt wiedererstehen zu lassen. Dem „American Way of Life“
konnten sie nichts abgewinnen.
Der Generationenkonflikt der späten 1960er Jahre entspricht der Entwicklung in vielen
europäischen Ländern. Dies gilt auch für den Feminismus und die Anerkennung von Homosexualität.
Viele „old-lined Jews“ erkennen, dass ein Jude nicht unbedingt weiß sein muss. Kurz,
in ihrer Diversität und Multikulturalität gleichen die amerikanischen Juden der Gesellschaft,
in der sie leben.
Zusammengefasst: nach Moores Ansicht leben die Juden jüdische Leben, ohne sich an
jüdische Vorschriften zu halten. Er macht dies an der Tatsache fest, dass amerikanische
Juden mit den Juden in aller Welt, vor allem aber in Israel, vernetzt sind. Ob das
ein Kriterium ist, sei dahingestellt.
Kerstin Armborst-Weihs liefert im Beitrag „Judaism in Europe after the Second World
War“ eine Tour d’Horizon der Situation der Juden Europas, wobei sie auch die Sowjetunion
miteinbezieht. Erstaunlich, aber offenbar unvermeidlich, war die Fluchtbewegung der
sogenannten Displaced Persons von Ost nach West, und zwar vor allem nach Deutschland und Österreich. Diese Menschen
haben erst Anfang der 1950er Jahre die Möglichkeit, nach Israel oder Amerika auszuwandern.
In der Sowjetunion existiert seit den früheren 1930er Jahren die autonome Oblast Birobidschan
an der chinesischen Grenze. Doch dies ist – auch geographisch – nicht ausreichend,
um die jüdische/jiddische Kultur und Sprache aufrechtzuerhalten. Die Situation der
Juden ist bis zu Gorbatschows Perestroika von Antisemitismus und staatlichen Schikanen
geprägt. In zwei Wellen wandern viele Juden nach Israel und Amerika aus. Nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion entwickeln sich die Jewish Studies auch in Russland mit Schwerpunkt auf der Aufarbeitung des Holocausts.
In Polen finden sich die wenigen Überlebenden zwischen allen Fronten wieder und werden
von den verschiedenen Seiten (von Kommunisten und ihren Gegnern) als Sündenböcke missbraucht.
Erst ab den 1980er Jahren verbessert sich die Situation. Armborst-Weihs versäumt es
nicht, auf die Opferkonkurrenz hinzuweisen – bis in die 1990er Jahre fokussierte man
sich auf das Leiden der Polen und/oder der Katholiken. Seit 2014 präsentiert ein Museum
in Warschau die bewegte und verflochtene Geschichte der polnischen Juden.
In Ungarn müssen die Juden bis zum Fall des Kommunismus warten, um von offizieller
Seite Entschuldigungen und auch Entschädigungen zu erhalten.
Der Abschnitt über Deutschland befasst sich mit der zögerlichen Normalisierung der
Beziehungen zwischen den Nachkriegsdeutschen und den Juden sowie mit den innerdeutschen
Fluchtbewegungen und der Ankunft der sogenannten Kontingentflüchtlinge aus der Sowjetunion
im vereinigten Deutschland.
Die Autorin behandelt die Situation der Juden in Deutschland ebenso neutral wie die
in anderen (europäischen) Staaten, was man vor allem als deutsche Leserin nicht erwartet.
Der (mehr oder weniger) latente Antisemitismus ist kein Thema.
Großbritannien ist zwar nicht direkt vom Holocaust betroffen, dafür aber von den Spannungen
im Mandatsgebiet Palästina. Britische Juden engagieren sich vor allem für die sowjetischen
Juden und deren Recht auf Emigration.
Frankreich verfügt heute über die weltweit drittgrößte jüdische Gemeinde und dies
obwohl aufgrund des sich ausbreitenden Antisemitismus seit den 2000er Jahren mehr
als 38000 Juden das Land in Richtung Israel verlassen haben.
In Italien braucht der Bruch mit der faschistischen Vergangenheit sehr lange, und
dies gilt auch für die Anerkennung der eigenen Verantwortlichkeit für das Schicksal
der Juden.
Auch in Spanien beginnt man erst in den 1960er Jahren mit der Gleichstellung der Juden.
Der Bau einer Synagoge in Madrid (1968) versetzt uns mehr als 450 Jahre zurück – es
ist die erste Synagoge in Spanien seit der Vertreibung der Juden 1492 – eine Gelegenheit
für den spanischen König, sich bei den Juden zu entschuldigen.
In Griechenland, wo die sephardische Gemeinde Thessalonikis völlig ausgelöscht worden
war, bestand der starke jüdische Wunsch, das Land zu verlassen. Seit 2015 gibt es
wieder eine Fakultät für Judaistik in Thessaloniki – auf einem ehemaligen jüdischen
Friedhof.
Wie Armborst-Weihs feststellt, war der Wiederaufbau jüdischer Gemeinden in Europa
nur mit Hilfe außereuropäischer jüdischer Organisationen möglich. Seit Mitte der 1980er
Jahre besteht eine Zusammenarbeit des European Council of Jewish Communal Services/Council of Jewish Communities mit den europäischen Institutionen.
Wie häufig in der neueren Geschichte des Judentums wird die Zukunft der europäischen
Juden ambivalent beurteilt: die einen sehen Auflösungstendenzen, vor allem aufgrund
der demographischen Entwicklung und von Assimilierungstendenzen, die anderen glauben
an eine jüdische – kulturelle – Renaissance und sind überzeugt, dass die Voraussetzungen
dafür noch nie so gut waren.
Die Autorin ist der Ansicht, dass der Prozess der Selbstentdeckung (self-descovery) der europäischen Juden nicht abgeschlossen ist, womit sie offensichtlich die Möglichkeit
eines dritten Wegs – neben Israel und Amerika – meint.
Fazit zu Band I
Es ist den Autoren tatsächlich gelungen, die lachrymose theory zu vermeiden. Wie schon bemerkt, mag das für deutsche Leserinnen und Leser überraschend
sein, gerade auch im Hinblick auf diverse Gedenktage – 50 Jahre Olympia-Attentat mit
den dazugehörigen Auseinandersetzungen über Schuld und Entschädigung – und das besondere
Verhältnis der beiden Staaten Israel und Deutschland zueinander. Das Gewicht liegt
auf der Resilienz, die bereits im 3. Beitrag für die spätrömisch-byzantinische Zeit
thematisiert wird, aber auch für andere Epochen gültig ist. Häufig wird darauf hingewiesen,
dass Niedergang und Neuanfang fast zeitgleich stattfinden. Dies mag allerdings auch
dem „Zeitraffer“ geschuldet sein, den ein geschichtlicher Überblick zwangsläufig einsetzen
muss.
Eine Möglichkeit, diesen anderen Blick auf die Geschichte des Judentums zu erklären,
ist die Tatsache, dass das Judentum in den USA letztlich als die Zukunft des Judentums
angesehen wird, nachdem jüdisches Leben in Europa so gut wie erloschen ist und wohl
auch nie wieder die frühere Blüte erreichen wird. In Amerika kann sich das Judentum
weitgehend unbelastet von der europäischen Vergangenheit weiterentwickeln und den
Blick nach vorne richten, was vielleicht der amerikanischen Lebensart mehr entspricht
als der europäischen.
Band II
Der 2. Band wendet sich an eine Leserschaft, die mit einigen Konzepten der jüdischen
Literatur bereits vertraut ist. Manche Beiträge sind denn auch hochkomplex, wie zum
Beispiel jener von Emanuel Tov („The Jewish Bible: Traditions and Translations“).
Er bietet einen sehr detaillierten Überblick über die verschiedenen Textüberlieferungen
(Masoreten, Qumran-Rollen, Septuaginta).
Ähnliches gilt für Michael Tillys Beitrag „Jewish literature in the Hellenistic-Roman
Period (350 BCE–150 CE), der sich mit der jüdisch-hellenistischen Literatur befasst
und dabei auch Philo und Josephus miteinbezieht. Ausführlich werden u. a. historische
Texte, Legenden und für den Lehrgebrauch verwendete Erzählungen aufgelistet. Der Autor
unterscheidet dabei zwischen Belehrungen bzw. Lehrwerken in narrativer Form (z. B.
den Aristeasbrief oder Joseph und Aseneth) und solchen in didaktischer Form (z. B. das Testament des Hiob oder das Buch Jesus Sirach). Tillys Anliegen ist es, mit diesen Texten die Konflikte zwischen jüdischer Tradition
und hellenistischer Kultur aufzuzeigen, aber auch die Heterogenität des antiken Judentums.
Herausgekommen ist ein schwer verdaulicher Beitrag, den nachzuarbeiten, einiges an
Literaturstudium erfordert.
Auch bei Günter Stemberger („Tannaitic Literature“) verbirgt sich hinter dem kurzen
Titel profundes Detailwissen über die Mischna – das erste literarische Erzeugnis der
Rabbinen –, Tosefta und die frühen Midraschim, die zusammengenommen die Basis für
das religiöse Leben ohne Tempel bilden.
Carol Bakhos („Amoraic Literature (ca 250–650): Talmud and Midrash“) bietet dankenswerterweise
viele Erklärungen von Begriffen, die man, wie schon bemerkt, gerne im Anhang sehen
würde. Die Autorin schlägt auch eine Definition von Midrasch vor, die als Grundlage für weitere Überlegungen zu diesem schwer greifbaren Konzept
dienen kann.
Weitere Beiträge befassen sich mit der Literatur der Gaonim und der Karaiten (L. Visotzky
und M. Zawanowska), mit mittelalterlicher Kommentar- und Gesetzesliteratur (J. Milgram),
mit aggadischer Literatur (R. Mikva), mit Piyyut (E. Hollender) und mit jüdischer
Liturgie (D. Marx). Ein eigener Beitrag befasst sich mit der jüdischen Mystik (E.
Morlok).
Im Beitrag von Deliah Marx („Jewish Liturgy“) erfahren wir etwas über Musik (in der
Liturgie), die als Teil von (jüdischer) Kultur in den drei Bänden eindeutig zu kurz
kommt. Auch Ellisabeth Hollender behandelt diesen Aspekt in ihrem im Übrigen sehr
ausführlichen und kenntnisreichen Beitrag „Piyyut“ nicht.
Vieles in Band II. wiederholt sich. Man kann dies insofern positiv bewerten, als jeder
Autor und jede Autorin uns den jeweils eigenen Blickwinkel vermittelt. Zugleich zeigt
es aber auch die Grenzen eines derartigen Kompendiums.
Band III
Wie der Titel des Bandes (Culture and Modernity) bereits vermuten lässt, sind Themen
dieses Teils Moderne Kultur, Jüdisches Gesetz in der Gegenwart, Philosophie, Literatur,
Genderstudies und Feminismus sowie interreligiöser Dialog nach dem Zweiten Weltkrieg.
Joachim Schlör („Jewish engagemen(s) with Modern Culture“) befasst sich, ausgehend
von den Kurzdefinitionen „Moderne ist eine bewusste Abkehr von der Tradition“ und
„Kultur ist etwas anderes als Natur“ mit dem Verhältnis des Judentums zur Moderne.
Vieles erscheint einleuchtend oder selbsterklärend, so zum Beispiel, dass sich jüdische
Kultur immer auch in Relation zur nicht-jüdischen Kultur positioniert.Es stellen sich
jedoch die Fragen, in welchem Verhältnis (jüdische) Kultur zu (jüdischer) Religion
steht und welchen Stellenwert die Idee des Nationalen dabei hat. Vielleicht liegt
die Antwort in dem Zitat von Martin Buber – eine Verschmelzung von allgemeiner und
nationaler Kultur unter der Beteiligung aller. Doch würde eine vertiefte Diskussion
darüber, inwieweit Religion ein Teil einer Kultur ist oder aus der Kultur „ausgelagert“
werden kann, wohl den Rahmen eines derartigen Kompendiums sprengen.
Eine wichtige Frage steht am Ende: Ist der Holocaust Teil der modernen Kultur und
in welchem Maß hat die Moderne/Modernität die Menschlichkeit zerstört? Gibt es Hoffnung
auf ein wiedererstarktes jüdisches Leben in Deutschland? Die Antwort schien nach dem
Krieg in einer „Enteuropäisierung“ zu liegen. Doch schließlich entstand die Idee eines
neuen „Diasporismus“ – die Reaktionen des Judentums auf die Moderne können sich in
vielen Sprachen – nicht nur auf Hebräisch – und vielgestaltig ausdrücken.
Zu den Sprachen findet sich ein sehr interessanter Beitrag „Languages oft the Jews“
von Stefan Schreiner. Auch hier geht es wieder um Diaspora, und Schreiner zeigt auf,
wie nicht nur die Menschen der Diaspora „unterworfen“ sind, sondern auch die Sprache.
In den Ländern der Diaspora sprechen die Juden die jeweiligen Nationalsprachen und
oft kommt es zu hybriden Sprachformen. Nach der Gründung des Staates Israel endet
für die Einwanderer die Diaspora, die Sprache ist nun Hebräisch, aber es bleibt auch
eine Rediasporisation in Israel. Viele sprechen die Herkunftssprachen weiter. Und es gibt weiterhin eine Diaspora
außerhalb Israels, in der die Sprecher sich vom Hebräischen entfernen. Es stellt sich
die Frage, was eine Sprache zu einer jüdischen Sprache macht.
Schreiner lässt die verschiedenen „Mischungen“, die es seit den Anfängen des Judentums
gegeben hat und noch gibt, Revue passieren und muss die Frage schließlich offenlassen.
Eine Sprache wird nicht jüdisch, weil Juden sie sprechen, und eine eindeutige Definition
von jüdisch in Verbindung mit Sprache ist nicht möglich. Die Klassifizierung der von Juden gesprochenen Sprachen folgt
ideologischen Prinzipien, wie es für alle Sprachen der Fall ist.
Der Beitrag von Ottfried Fraisse zu „Jewish Philosphy and Thought“ ist noch einmal
ein historischer Abriss, der im 10. Jahrhundert mit Isaac Israeli beginnt und mit
Levinas im späten 20. Jahrhundert endet. Ein längeres Kapitel ist Al-Andalus und den
Philosophen des 11. und 12. Jahrhundert gewidmet, wobei der Fokus auf dem Werk des
Moses Maimonides liegt. Hier ist auch die einzige Stelle, an der Maimonides’ Übersetzer
Samuel ibn Tibbon mit seiner Familie erwähnt wird. Seine Bedeutung für die Jüdische
Philosophie und die europäische Kulturgeschichte ist unschätzbar. Erstaunlich, dass
Band I. des Kompendiums und auch Schreiners Beitrag in diesem Band ohne Erwähnung
dieser und anderer Übersetzerschulen „auskommen“.
Zusammenfassung
Insgesamt wirkt das Kompendium sehr neutral. Es ist eine Vorstellung der verschiedenen
Aspekte des Judentums, ohne vertiefte Diskussionen problematischer oder strittiger
Fragen. Die Autoren haben nicht nur die lachrymose theory vermieden, sondern sich auch bemüht zu zeigen, dass die alte Theorie von der Misanthropie
des Judentums nicht haltbar ist. Die Juden haben überall ihren Beitrag zur Kultur
der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft geleistet und diese dadurch bereichert. Sie haben
sich häufig angepasst und die Entwicklungen der Gesellschaften mit diesen durchlaufen.
Spannungen gibt es mindestens so häufig innerhalb des Judentums wie zwischen Juden
und Nicht-Juden.
Die kulturelle Bereicherung, wie sie einst Europa geprägt hat, – das wird nach der
Lektüre der drei Bände in bedrückender Weise klar – wird vielleicht für immer fehlen.