Monika Amsler. The Babylonian Talmud and Late Antique Book Culture. Cambridge: Cambridge University Press, 2023. XIII, 280 Seiten, GBP 85, ISBN 9781009297332, Open Access: https://doi.org/10.1017/9781009297349
Universität Wien
Das Buch, eine überarbeitete Dissertation (Universität Zürich 2018, betreut von Christoph Uehlinger und Michael Satlow), bietet einen innovativen Zugang zur möglichen Entstehung des babylonischen Talmud aus dem Vergleich mit spätantiker literarischer Produktion (siehe dazu jetzt auch den von der Autorin herausgegebenen Band Knowledge construction in late antiquity. Trends in classics. Supplementary volumes 142. Berlin: De Gruyter, 2023).
Amsler sieht den Talmud als spätantike Kompilation, „a book assembled according to an elaborate plan that followed upon a period of sorting excerpts according to keywords“ (8). So wie spätantike griechische und lateinische Autoren, die A. ausführlich und wörtlich zitiert, auf der Basis zahlreicher Exzerpte aus ihrer Lektüre, die sie mit Stichworten versahen, schließlich ein neues Werk kompilierten, so hätten die Rabbinen kurze Texte und private Notizen auf Holztäfelchen, Ostraka oder Streifen von Pergament oder Papyrus festgehalten, die später in einer Art Bibliothek gesammelt wurden. Dieses Material wurde dann sortiert, exzerpiert und nach Schlüsselbegriffen geordnet. Da das Werk der Mischna folgen sollte, wurde diese in Lemmata unterteilt, denen Schlüsselbegriffe zugeordnet wurden; „commentaries were crafted with the material yielded through the keywords… the composers had to add editorial notes in order to connect the pieces. Questions, objections, and clarifications seem to have been quick strategies for solving these problems. Lengthy excerpts such as stories were taken apart when needed and rearranged. Names could easily be exchanged or added as another means to create connectivity through association“ (10).
Der so geschaffene Talmud sei innerhalb der spätantiken Literatur „a commentary in form, an encyclopedia in content, and a symposiac work in its literary mode“ (17, cf. 37). Da Kommentare nicht an den Rand des Textes geschrieben wurden – dieser war dafür einfach zu schmal –, hatte ein Kommentator große Freiheit, einzelne Abschnitte breit zu behandeln, andere zu übergehen oder zusammenzufassen. „In many ways, the talmudic conversation reminds one of the staged symposia of Athenaeus and Macrobius, who created characters to attend their banquets and placed excerpts from other authors into their mouths, either as attributed speeches or as direct remarks“ (45).
Aus dem Vergleich mit spätantiken Schriften schließt A., dass nicht, wie traditionell angenommen, Generationen von Gelehrten an der Redaktion des Werkes beteiligt waren: „a single person… would have been capable of composing a work the size of the Talmud (and more!) during their lifetime… the size of the Talmud seems to suggest a composition from written excerpts rather than oral tradition“ (74f.). Aus dem Vergleich mit antiker Literatur sei anzunehmen, dass „the person in charge of the project was assisted by educated servants, family members, students, or copyists, as need be“ (94). Dazu habe der „composer“ des Bavli v. a. auch palästinische Traditionen exzerpiert und das Material in brauchbare Einheiten verschiedenen Umfangs zerlegt, manchmal auch größere Einheiten als Ganzes übernommen und mit Stichwörtern versehen. „Throughout, it appears that the composers of the Babylonian Talmud both depend on the Palestinian Talmud and constantly demonstrate their independence from it… this literary behavior points to a chronological proximity of the works rather than the opposite“ (104f.). Da es im Bavli keine arabischen Lehnwörter oder arabische Syntax gibt, sei eine Datierung nach der arabischen Eroberung ausgeschlossen; Aramäisch sei dann völlig verschwunden. „Texts authored by post-talmudic rabbinic sages (Geonim) were exclusively written in Arabic by the eighth century. This would point to a terminus ad quem for the composition of the Talmud in the early seventh century“ (123; dass gaonäische Responsa oder auch die She’iltot des Rav Achai Gaon großteils aramäisch sind, ist A. offenbar nicht bekannt). Dass der Bavli den Yerushalmi nie erwähnt, sei dadurch zu erklären, dass „the Palestinian Talmud was too recent to be considered a work of antiquarian authority“ (129). Die Schlussfolgerung lautet: „Given that the Talmud could have been composed within a single man’s lifetime… it follows that the Babylonian Talmud might have been completed before the middle of the fifth century“ (130f).
Als Textbeispiel verwendet A. mGit 7,1 (Stichwort qordiaqos) und den Kommentar dazu in bGit 67b-70b mit der darin verarbeiteten Sammlung einfacher Rezepte (diese sind im Anhang 219-235 mit anderswo im Bavli zitierten Rezepten sehr plausibel zu einer dem Bavli vorliegenden Rezeptsammlung rekonstruiert). Das Beispiel eignet sich bestens, die These von nach Stichworten verbundenen Exzerpten zu illustrieren; auch die hier über das Stichwort qordiaqos eingebaute lange Erzählung von Salomos Tempelbau mit Hilfe Ashmodais wird dadurch gut beleuchtet: „Like a typical late antique story, the narrative has a thematically compelling plot, while at the same time being divided into independent scenes or miniature stories… The story’s patterning further seems reflective of the writing surface on which it was composed… The tablets, each carrying a miniature story, could easily be detached, rearranged, tagged with a keyword, stored, and repurposed“ (155f). „Indeed, many stories in the Babylonian Talmud appear to have such templates in the Palestinian Talmud… Sasanid lore is replete with stories of human heroes fighting demons, and one of these stories is indeed a near-complete match to one of the miniature stories in the Gittin commentary on qordiaqos“ (161).
A. fasst die von ihr herausgearbeitete Vorgangsweise im Bavli (genauer wohl: Teilen des Bavli) gut zusammen: „There may be a wealth of different cultural influences in the Talmud, but the way in which they were analyzed, scrutinized, and matched with older traditions is clearly based on educational principles outlined in the progymnasmata. These… were adopted and translated freely by other language cultures, who detached them from their basis in Greek grammar and myth“ (176).
A. ist es sehr gut gelungen, literarische Methoden der klassischen Spätantike für das Verständnis des Bavli fruchtbar zu machen, die Anwendung vergleichbarer Methoden im Exzerpieren von Schriften, der Katalogisierung der Exzerpte und deren Verwendung bei der Schaffung eines eigenen Werks aufzuzeigen. Das von ihr gewählte Textbeispiel kann das sehr gut illustrieren und ist sehr lehrreich.
Für die Komposition vieler Abschnitte im Bavli kann man von A.s Zugang viel lernen und ist ihr Buch ein wichtiger Beitrag; ebenso hat ihre Annahme umfangreicher schriftlicher Vorstufen des Bavli viel für sich. Ihre These eines einzigen Autors/Kompilators (wenn auch mit Helfern) am Ende des Prozesses scheint dagegen höchst problematisch, v. a. auch ihre Frühdatierung des Bavli vor Mitte des 5. Jhs. (das traditionelle Verständnis von bBM 86a mit Rav Ashi und Ravina als Ende der hora’a, das Ravina um 500 datiert, würde ein so frühes Datum ausschließen); die Argumentation, das Aramäisch des Bavli würde für ein vor- bzw. sehr frühislamisches Datum sprechen, ist haltlos. Der Beitrag der Diskussionen im Lehrhaus und deren Bündelung auch schon in einzelnen Schulen (Nehardea, Pumbedita etc.) bzw. in Schülerkreisen einzelner Lehrer ist wohl nicht genügend beachtet. Wie schließlich ihre Methode mit den langen anonymen Passagen funktioniert, die Basis der heute verbreiteten These einer stammaitischen Redaktion sind, müsste sie auch erst im Detail belegen können.
Somit lässt sich zusammenfassen: Mit ihrer These der Entstehung des Bavli in seiner Gesamtheit wird Amsler wohl kaum viel Zustimmung erfahren; ihr ausführlich begründeter Vergleich literarischer Methoden der griechisch-römischen Spätantike mit der Redaktion großer Teile des Bavli ist dagegen höchst lehrreich und verdient breite Beachtung.