Karl Erich Grözinger. Die erste jüdische Universität in Berlin: Das Ringen um jüdische Bildung in Berlin vom 18.-20. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2023. 374 Seiten, EUR 54, ISBN 978-3-593-51700-1
Hochschule Hannover
Karl Erich Grözinger hat in aufwändiger Archivarbeit die Geschichte der Veitel-Heine-Ephraimschen Lehranstalt (VHELA) in Berlin freigelegt und damit einen wichtigen Meilenstein jüdischer Bildung in Erinnerung gerufen und für weitere Forschungen zugänglich gemacht. Dies ist von besonderer Bedeutung, weil die VHELA außer einigen Experten bisher kaum bekannt sein dürfte. Manche kennen vielleicht das Ephraim-Palais in Berlin, welches einst zum Stiftungsvermögen der ersten jüdischen Universität gehörte. Die VHELA orientierte sich an „Universalität“ bzw. am Humboldt’schen Begriff der Universität als der „Gesamtheit der Wissenschaften“. Sie war „säkular“ und unterschied sich in ihrer Konzeption von anderen Bestrebungen, die eher partikularistische Bildungsideale verfolgten, aber auch von der späteren Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, die in Berlin von 1872–1942 existierte. Im Hintergrund der Diskussion um jüdische Bildung ging es um Fragen jüdischer Identität und einer Assimilation, die zum Teil nur als Verlust dieser Identität gedacht werden konnte. Verständlicher wird das im Titel erwähnte „Ringen um jüdische Bildung“ als Teil eines umfassenderen „Kampfes um Anerkennung“, den die Juden in Preußen bzw. überall in Deutschland zu führen hatten, nämlich den Kampf um rechtliche, soziale und kulturelle Gleichstellung.
Grözinger beginnt nach dem Vorwort in einem ersten Kapitel mit einer Einführung und wirft einen ersten Blick auf die Geschichte der mühevollen Aufrichtung einer jüdischen Universität in Preußen, die der Aufklärung und Rationalität verpflichtet war. Er liefert einen chronologischen Abriss der Geschichte der VHELA und berichtet von den Hoffnungen, Schwierigkeiten und Rückschlägen, die mit ihrer Errichtung verbunden waren und wie diese Hoffnungen schließlich während des Nationalsozialismus zunichte gemacht wurden. All das wird dann in den weiteren Kapiteln ausgeführt und mit Dokumenten belegt.
Das zweite Kapitel handelt von den rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen der Lehranstalt, also vom Testament des Stifters Veitel Heine Ephraim aus dem Jahre 1774 und den Stiftungen, die er und sein Sohn Ephraim Heine Ephraim eingerichtet hatten. Veitel Heine Ephraim (1703–1775) war königlich preußischer Hoffaktor, Hofjuwelier, Bankier und Münzmeister. Die Stiftungen wurden nach dem Vorbild von Konstruktionen des preußischen Adels als „Fideikommiss“ eingerichtet, also einer Art Familienstiftung, bei der ein bestimmter Teil der freien Verfügung durch die Erben entzogen und stattdessen „auf ewige Zeiten“ einem bestimmten Zweck gewidmet wird, hier nämlich der Einrichtung eines jüdischen Lehrhauses, eines Beth-ha-Midrasch.
Das dritte Kapitel behandelt die Anfänge und ideologische Ausrichtung dieses Beth-ha-Midrasch. Grözinger stellt Veitel Heine Ephraim als jemanden dar, der wie sein König Friedrich der Große ein Freund der Aufklärung war, sich aber gleichzeitig seiner jüdischen Tradition verpflichtet fühlte. Seine Beziehungen zu Lessing und zu Mendelssohn werden erwähnt. Es wird sogar die skurrile Geschichte von seiner versehentlichen Finanzierung der Drucklegung eines „geraubten Mendelssohn-Manuskripts“ erzählt. Es handelte sich dabei um einen Kommentar zu den „Worten der Logik“ von Maimonides. Dieser Kommentar konnte erst in der dritten Auflage unter dem Namen von Moses Mendelssohn erscheinen, weil ein Student ihn zwischenzeitlich „entwendet“ hatte.
Die Kapitel vier und fünf behandeln die Jahre 1834 bis 1846, in denen es einen „Plan zur Neugestaltung der Stiftung als evangelisch-theologisches Stift mit Stipendien für Theologiestudenten“ gab und weiter das Scheitern dieses Planes, nämlich „das Ende der Christianisierungsphase“ der VHELA. König Friedrich Wilhelm IV. bewilligte 1834 auf Drängen inzwischen getaufter Stiftungsverwalter („Fiduziarien“) die Umwandlung des Legates in ein christliches Stipendienprogramm. Dies war aber, wie sich später herausstellte, nach preußischem Recht nicht möglich und konnte nach einem Rechtstreit mit der Stiftung abgewendet bzw. rückgängig gemacht werden.
Das sechste Kapitel beinhaltet dann die Wiederherstellung des ursprünglichen Stiftungsgedankens und so die „Umwandlung in eine eigenständige jüdisch-akademische Lehranstalt“ ab 1854. Knapp 20 Jahre vor der Gründung der „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ entstand also die VHELA und kann so mit Fug und Recht als „die erste jüdische Universität in Berlin“ bezeichnet werden.
Das siebte und achte Kapitel beschreiben dann das spannende „Ringen um die Jüdische Bildung“, nämlich die konzeptionelle Auseinandersetzung zwischen Leopold Zunz und Moritz Steinschneider auf der einen Seite und Abraham Geiger auf der anderen. Grözinger bezeichnet diese Hochschulkontroverse als „innerjüdischen Kulturkampf“. Wir haben hier den dramatischen Kern des Buches. Die Arbeiten von Zunz und Steinschneider, ihre Entschlossenheit und Unerschütterlichkeit sind beispiellos. Sie sorgten, wie Heinrich Heine es ausdrückte, erstmals für die „Vermittlung des historischen Judentums mit der modernen Wissenschaft“.
Das neunte Kapitel ist eine Art Chronik der VHELA ab 1856 und enthält dezidierte Angaben über die Dozenten, Studenten und die Bibliothek. Das Renommee, welches sich die Lehranstalt erwerben konnte, strahlt bis in die Gegenwart hinein. Zunzens Motto hatte sich bewahrheitet: „Der Gedanke ist mächtig genug, ohne Anmaßung und Unrecht über Anmaßung und Unrecht zu siegen“.1
Das zehnte Kapitel handelt kurz und knapp vom traurigen Ende der VEHLA durch Inflation und Nationalsozialismus.
Shulamit Volkov hat einmal geschrieben, dass nach der Shoah die Geschichte rückwärts geschrieben werden müsse. Das ist nun in Bezug auf die erste jüdische Universität in Berlin geschehen. Grözinger hat in aufwendiger Arbeit alles zusammengetragen, was in den Archiven über die VHELA aufzufinden war. Ich möchte Grözingers Arbeitsweise als Archäologie des Wissens bezeichnen. Er hat die VHELA aus dem Schutt geborgen und ihre Ruinen freigelegt. Eine Basis ist entstanden, auf der aufgebaut werden kann.
Das Buch über die erste jüdische Universität ist ein Muss für Bibliotheken. Andererseits ist das Buch für Nichtspezialisten nicht einfach zu lesen. Wie ich anfangs erwähnte, sollte das „Ringen um jüdische Bildung“ als Teil eines umfassenderen „Kampfes um Anerkennung“ gelesen werden.
Die rechtliche Anerkennung wurde den Juden in Preußen zunächst zugestanden (APL II, 11, § 2 ff).
Veitel Heine Ephraim nutzte die Aufstiegsmuster die ihm die ständische Gesellschaft bot. Er machte eine glänzende Karriere in der königlichen Finanzverwaltung. Er wurde von Friedrich dem Großen zur Mittelbeschaffung für den Siebenjährigen Krieg und als Pächter der Münzstätte in Leipzig eingesetzt. Aus dem Krieg ging Preußen als europäische Großmacht hervor. Die für den Krieg benötigten Mittel wurden durch „Münzverschlechterung“ beschafft. Das heißt, den dort geprägten Münzen wurden die Edelmetalle entzogen, was bald darauf in Sachsen und Polen zu Finanzkrisen führte. Über die verschlechterten Münzen sagte man: „Von außen schön von innen schlimm, von außen Fritz, von innen Ephraim“. Der König wurde für den Kriegserfolg geehrt, aber seine Mittelbeschaffer wurden kritisiert und gerieten unter „Auswärtigen miß Credit“(sic!) (vgl. S. 70).
Die formale rechtliche Gleichstellung der Juden in Preußen wurde nach und nach zurückgenommen. Das zeigte sich besonders in der Phase, in der versucht wurde, die VHELA zu christianisieren und in ein Stipendienprogramm für protestantische Theologen zu verwandeln. Dieser Plan wurde von König Friedrich Wilhelm IV. abgesegnet, dem Preußenkönig, der den berühmt/berüchtigten Spruch an der Kuppel des Berliner Stadtschlosses installieren ließ, in dem es heißt, dass „in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf der Erden und unter der Erde sind“. Die aufgeklärte Formel Friedrichs des Großen, der zufolge in seinem Lande „jeder nach seiner Façon selig werden“, also Religionsfreiheit genießen sollte, wurde damit vollends konterkariert.
Auch die Einrichtung eines Fideikommisses orientierte sich an Vorbildern des preußischen Adels. Fideikommisse standen schon sehr früh in der Kritik, weil sie primär dazu eingesetzt wurden, ständische Privilegien zu sichern. Mittel und Boden wurde gebunden um Adelsrenten zu erwirtschaften. Dabei wurde die volkswirtschaftliche Entwicklung gehemmt und die ostelbische Landbevölkerung in Gutsuntertänigkeit gehalten. In den Ephraim‘schen Stiftungen wurden die Mittel allerdings nicht mit Gewinnerzielungsabsicht eingesetzt. Sie waren traditionell als „milde“ Stiftungen gedacht. Das machte die Manager des Fideikomisses zwar zeitweise nervös, die Gemeinwohlorientierung blieb aber gesichert. Damit kann das Schicksal der Ephraim‘schen Stiftungen heute stellvertretend für zahlreiche gemeinnützige jüdische Stiftungen in Deutschland stehen, deren Schicksal noch nicht ausreichend erforscht wurde. Ein großer Bestand ethisch ausgerichteter Wohlfahrts- und Bildungskultur ging damit verloren.
Ausgehend von der Humboldtuniversität, also in Sichtweite des königlichen Stadtschlosses mit dem Kuppelspruch „Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie…“, machte sich in den Jahren 1870 und 1880 ein neuer „universitärer Antisemitismus“ breit, der das Umfeld der VEHLA prägte. Er erreichte Höhepunkte mit Treitschke und dem antisemitischen Hofprediger Stoecker. Infolge des universitären Antisemitismus wurde beispielsweise der Neukantianer Hermann Cohen aus Marburg vertrieben und gelangte an die neugegründete „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ (1872–1942). Dort lehrte er zusammen mit Leo Baeck und anderen, die an der VEHLA ausgebildet wurden.
Durch das akribische Bibliografieren und Datieren antiker jüdischer Quellen gelang es Zunz und Steinschneider die Wissenschaft des Judentums zu etablieren. Hierdurch konnte Gershom Scholem später rückblickend formulieren: „Wir haben die Möglichkeit durch Versenkung in wissenschaftliche Tatbestände das Ganze aus dem Kleinsten zu reorganisieren und zu rekonstruieren.“2 Inzwischen sind die jüdischen Quellen neben der griechischen und römischen Überlieferung als gleichberechtigte Bestandteile westlicher Kultur und Zivilisation anerkannt. In der deutschen Öffentlichkeit werden regelmäßig die jüdisch-christlich Grundlagen beschworen. Wenn man allerdings fragt, worin diese bestehen, zucken die Menschen mit ihren Schultern. Es bleibt also weiterhin das drängende Problem zu lösen, wie das Expertenwissen von der „Wissenschaft des Judentums“ seinen Weg in Mitte der Gesellschaft finden soll.