Friederike Heimann. In der Feuerkette der Epoche: Über Gertrud Kolmar. Berlin: Jüdischer Verlag, 2023. 462 Seiten, EUR 28, ISBN 978-3-633-54318-2

Laura C. S. Alt 
Universität Basel
laura.alt@unibas.ch

Friederike Heimann legt mit der Biografie, die zum 80. Todestag Gertrud Kolmars im Jahr 2023 erschienen ist, ein ambitioniertes Projekt vor. Heimann nähert sich der deutsch-jüdischen Dichterin und ihrem Werk von vielen Seiten an: Sie analysiert Prosa und Gedichte, beschäftigt sich mit Briefwechseln und fotografischen Quellen, unternimmt Streifzüge zu prominenten intellektuellen ZeitgenossInnen wie Walter Benjamin und besucht für Kolmar prägende Orte in Deutschland und Frankreich. Die Ausgangslage für ihre Erkundungen bilden die eigene Dissertation sowie Arbeiten von Regina Nörtemann, Johanna Woltmann, Stefanie Schüler-Springorum und Tamara Or. Aber auch die Beschäftigung anderer SchriftstellerInnen wie Esther Dischereit mit Gertrud Kolmar bezieht Heimann in ihre Überlegungen mit ein.

Den Beginn der deutsch-jüdischen Literatur datiert Friederike Heimann auf das Wirken Heinrich Heines, in dessen Werken zugleich auch schon „deren unauflösliche Widersprüchlichkeiten“ zutage träten (S. 21). Das erzwungene, gewaltvolle Ende dieser Literatur, das Scheitern der Annäherung und damit verknüpfter Hoffnungen verkörpert für Heimann keine DichterIn so sehr wie Gertrud Kolmar. Jene „existenzielle Spannung“ im Werk und damit die Bedeutung der Dichterin für die deutsch-jüdische Literaturgeschichte hervorzuheben, ist das Anliegen der vorliegenden Biografie (S. 22). Das Ziehen dieser Linie – oder ,Feuerkette‘ (Arendt) – von Heine zu Kolmar erklärt, warum die ,Epoche‘ im Titel der Biografie über die Lebensdaten Kolmars (1894–1943) hinausgeht. Beschrieben werden ab dem frühen 19. Jahrhundert die jüdische Emanzipationsgeschichte im späteren Deutschland, die Migrationsgeschichte der Familie Chodziesner und auch literarische Traditionen und Einflüsse im deutschsprachigen Raum. Auch für die Lebenszeit der Dichterin wird der jeweilige historische Kontext, insbesondere der zunehmend spürbare Antisemitismus sowie sich verschlimmernde Einschränkungen und Verfolgung von Heimann dokumentiert und mitgedacht. Die Rolle von Hilde Benjamin, der Vertrauten Kolmars, Ehefrau von deren Cousin Georg Benjamin und späteren Justizministerin der DDR, führt Heimann zuletzt zur Rezeptionsgeschichte der Dichterin im späteren 20. Jahrhundert und der Veröffentlichungsgeschichte ihres Werkes. Hilde Benjamin hatte das Typoskript von Das Wort der Stummen (1933, veröffentlicht 1977) vor der Zerstörung gerettet und nach langer Zeit wiedergefunden, woraufhin sie eine Veröffentlichung anstiess.

Gertrud Chodziesner wuchs im Berliner Westend in einer wohlhabenden bürgerlichen Familie auf und konnte so eine höhere Schulbildung erreichen. Sie teilte diese ,Berliner Kindheit um 1900‘ (Benjamin) mit ihren Geschwistern, aber auch dem Cousin Walter Benjamin, mit dem nach der Jugendzeit ein loser Austausch fortbestand. Ende der 1920er Jahre verhalf er ihr mit Empfehlungen zu einigen Veröffentlichungen von Gedichten in Zeitschriften (S. 85, 169). Für Heimann stellt die Familie, die aus dem ehemals polnischen Chodzież (bis 1919 unter preussischer/deutscher Herrschaft ,Colmar‘) nach Berlin gekommen war, einen Prototyp deutsch-jüdischer Akkulturationsgeschichte dar (S. 107-116). In der Generation Kolmars habe das Judentum zunächst eine untergeordnete Rolle gespielt, wie auch für den Vater, der als Rechtsanwalt den sozialen Aufstieg geschafft hatte – die Grossmutter habe die Rolle der „Hüterin des jüdischen kulturellen Erbes“ ausgefüllt (S. 115).

Im Verlauf der 1910er Jahre legte Gertrud Kolmar ein Diplom als Fremdsprachenlehrerin ab und verschriftlichte erste literarische Ambitionen in Form von Gedichten. Während des Ersten Weltkriegs arbeitete sie als Briefzensorin in einem Kriegsgefangenenlager. Das so gewonnene Wissen wandte sie nach Kriegsbeginn 1939 selbst in Briefen etwa an ihre in die Schweiz emigrierte Schwester Hilde an, in denen sie Nachrichten in Zitaten aus klassischen literarischen Werken oder Umschreibungen versteckte. Für Friederike Heimann wird die Analyse von Kolmars Briefen aus dieser Zeit so zuweilen zu einer Aufgabe der Dechiffrierung, die auf Hypothesen angewiesen ist (vgl. bspw. S. 416f.). Zunächst geht Heimann jedoch weiter auf die Jugend der Dichterin ein: Gertrud Kolmars Vater Ludwig Chodziesner bemühte sich um die Verlegung des ersten Bandes ihrer Lyrik. Gedichte erschien 1917 im Egon Fleischel Verlag, unter dem vom Vater gewählten Namen Gertrud Kolmar statt Chodziesner, was Heimann als Ausdruck seiner Nähe zum Deutschen interpretiert, die sich auch in seiner Kriegsbegeisterung 1914–18 gezeigt habe. Sie wurde so „von ihrem Vater zur deutschen Dichterin erklärt“ (S. 123). Unter diesem Namen wird Gertrud Kolmar bis ins Jahr 1935 ihre Lyrik veröffentlichen, bis ein Erlass der nationalsozialistischen Regierung es jüdischen KünstlerInnen verbot, Pseudonyme zu verwenden. Diese Zurückweisung als ,deutsche Künstlerin‘, die mit dem Verlust des deutschen Namens einherging, deutet Friederike Heimann als fundamentalen Bruch für Gertrud Kolmar, der sich in einem „damit einhergehenden Sprachverlus[t]“ geäussert habe (S. 363). Hinweise darauf gibt Kolmar selbst in Briefen und mit dem Verfassen des Zyklus German Sea sowie der Hinwendung zum „Gegenwort des Hebräischen“, das sie zunächst autodidaktisch lernte und ab 1939 mit ersten Übersetzungen und Dichtungsversuchen vertiefte (S. 392). Kolmars Umgang mit Sprache(n) und auch deren Bedeutung für die Erinnerung diskutiert Heimann vor allem unter Rückgriff auf die poststrukturalistischen bzw. postkolonialen Theorien Jacques Derridas und Homi Bhabhas (Kap. 6). Im Akt der Umbenennung nicht nur des polnischen Dorfes, sondern auch der Dichterin, erkennt Heimann koloniale Züge „eines imperialen deutschen Nationalismus“ (S. 123). Der gescheiterte Vermittlungsversuch des Jüdischen und des Deutschen wird als gescheiterte Übersetzung verstanden (S. 159). Letztere beiden Argumente werden jedoch von der Tatsache verkompliziert, dass es sich beim Deutschen um Kolmars Muttersprache handelte. Dennoch interpretiert die Biografin das Gedicht Die Aztekin (1920) als „eine sehr genaue Verarbeitung kolonialer wie patriarchaler Sichtweisen und Bewertungsmuster, sowie deren Auswirkungen auf eine weibliche Selbstwahrnehmung, die, obwohl anders und fremd, sich diesen dennoch nicht zu entziehen vermag, ja, die sich immer wieder dazu gezwungen sieht, um eine Geste des Widerstehens zu ringen“ (S. 160f.). Sieben Gedichte aus ,German Sea‘ von Helen Lodgers. Nach dem Englischen schrieb Gertrud Kolmar unter ihrem neuen Pseudonym 1934/35. Getarnt als Übersetzung, ist der Zyklus für Heimann Ausdruck von Kolmars zunehmender Entfremdung von der Muttersprache, die jedoch trotz ihrer Fremdsprachentalente und -kenntnisse notwendig für einen authentischen Ausdruck blieb. Diese innere Zerrissenheit des „Sprachproblems“ enthält eine weitere Ebene bei der Dichterin, die zuvor versucht hat, der so lange stummen Sprache des weiblichen Erlebens und Empfindens in genau jener Muttersprache einen Ausdruck zu verleihen (S. 255f.).

Topoi, die Kolmars Werk von der Frühzeit bis in die 1940er Jahre durchziehen und oftmals autobiografisch geprägt sind, umfassen Mutter-Kind-Beziehungen bzw. Kinderwunsch und Kindesverlust – explizit etwa in Die jüdische Mutter (1930/31, veröffentlicht 1965) –, Zivilisationsskepsis, oft ausgedrückt mit Natur- und Tierreferenzen wie im Zyklus Tierträume (1923–28, in Teilen veröffentlicht und kurz darauf zwangsvernichtet 1938), und immer wieder eine tiefe Auseinandersetzung mit einer von aussen zugeschriebenen und in der Folge selbst empfundenen Andersartigkeit und Fremdheit, etwa im Gedicht Die Aztekin von 1920 (Kap. 6, 8, 11).

Gertrud Kolmar blieb als älteste Tochter allein mit ihrem alten und kranken Vater in Berlin zurück und hat sich, wohl aufgrund der zunehmenden Schwierigkeit, für ihn ein Visum zu erhalten, gegen die Emigration entschieden, als diese noch möglich gewesen wäre. Mit der nationalsozialistischen Verfolgung gewann das Judentum für sie eine neue Bedeutung. Kolmars Blick richtete sich fortan hoffnungsvoll, wenn auch ihrer eigenen Ausweglosigkeit zunehmend bewusst, nach Palästina (S. 376). Dennoch war das Judentum für sie zu einer „Quelle der Kraft gerade aus der Verfolgung heraus“ geworden (S. 403). Besonders deutlich zeigt sich diese Identifikation im Gedicht Wir Juden von 1933 (Kap. 12). Friederike Heimann erkennt im Spätwerk Kolmars und ihren Briefwechseln die Artikulation einer spezifisch jüdischen Ausprägung der ,inneren Emigration‘, die „zugleich einen Akt des Widerstands markiert“ (S. 391): „Sich ganz aus der äusseren Welt, der Wirklichkeit des Lebens zurückzuziehen, gleichsam vollkommen nach innen abzutauchen, um sich nicht mehr verletzen und demütigen lassen zu müssen“ (S. 404). Dies geschah vor dem Hintergrund des erzwungenen Verkaufs des Familienwohnsitzes in Finkenkrug im Jahr 1938 und des schliesslichen Umzugs in ein sog. ,Judenhaus‘ in Berlin, woraufhin Kolmar zu Zwangsarbeit in mehreren Fabriken verpflichtet wurde. Schon ab 1936 hatte ihr jedoch der Jüdische Kulturbund Zuspruch geben können, der ,Westender Kreis‘ literarisch Interessierter gab ihr lange zusätzlichen Halt. Und noch 1939/40 entstand die Erzählung Susanna (Kap. 2, 3). Im März 1943 wurde Gertrud Kolmar, kurze Zeit nach ihrem Vater, aus Berlin deportiert und in Auschwitz ermordet.

Dort, wo Gertrud Kolmar schweigt – etwa in ihrer Schaffenspause zwischen 1920 und 1927 während der Tätigkeit als Erzieherin – oder wo Friederike Heimann keine erhaltenen Briefe oder Lyrik Kolmars vorlagen, lässt die Biografin ZeitgenossInnen der Dichterin zu Wort kommen. Anhand von deren Tagebucheinträgen, Briefen, aber auch literarischen und philosophischen Werken wird ein Stimmungsbild der bürgerlichen jüdischen Bevölkerung nachvollzogen, das es erlauben soll, Überlegungen über die mögliche geistige und physische Situation Kolmars anzustellen. Unter den genannten sind Victor Klemperer, Lea Goldberg, Walter Benjamin oder auch ihre Schwester Hilde. Gerade die weitergehenden Bezüge und teils ausführlichen Exkurse zu Walter Benjamin, Sigmund Freud, Martin Buber, Gershom Scholem u. v. m. errichten eine gleichermassen intellektuell-literarische wie gefühlsmässige mentale Landkarte, in die Gertrud Kolmars Leben und Werk eingeordnet werden. Verknüpft mit den wiederkehrenden Themen ihrer Lyrik zeigt sich bei Friederike Heimann ein Bild Gertrud Kolmars als Dichterin mit einer von Brüchen gekennzeichneten Biografie, deren Schreiben um Variationen des Ausschlusses, der Fremdheit und Befremdung kreiste. Dabei nahm sie eine besondere Position im Spannungsfeld zwischen ihrer jüdischen Identität und Familiengeschichte einerseits und den Herausforderungen und Limitierungen als Frau andererseits ein. Analog zu ihrer Familiengeschichte ordnet Friedrike Heimann Gertrud Kolmars Leben und Lyrik schliesslich als Symbol und Ausdruck einer vergeblichen und gescheiterten Assimilation ein.

Die vorliegende Biografie richtet sich nicht nur an ein akademisches Publikum und liest sich flüssig. Die Sprünge in der Chronologie der geschilderten Ereignisse im Leben Gertrud Kolmars können zuweilen irritieren, dienen jedoch jeweils der Ausführung eines spezifischen Gedankens der Biografin oder widmen sich diachron etwa wiederkehrenden Themen in Kolmars Lyrik. Friedrike Heimann zeichnet damit ein umfängliches Porträt der deutsch-jüdischen Dichterin Gertrud Kolmar.