Tamás Turán. Ignaz Goldziher as a Jewish Orientalist: Traditional Learning, Critical Scholarship, and Personal Piety. Berlin: De Gruyter Oldenbourg, 2023. 298 S., EUR 114,95, ISBN 978-3-11-074010-3
Universität Wien
Tamás Turán ist Assistenzprofessor am Institut für Minderheitenstudien im Zentrum für Sozialwissenschaften an der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest, Ungarn und hat zahleiche Publikationen zu jüdischer Religion, Kultur und Geschichte verfasst. Er präsentierte bereits 2012 auf einer Konferenz zu Ignaz Goldzihers (1850–1921) Identität als Wissenschaftler und Jude; sein Beitrag erschien 2016 unter dem Titel „Academic Religion: Goldziher as a Scholar and a Jew“ im daraus resultierenden Tagungsband.1 Die vorliegende Monographie Turáns folgt der Struktur des eben erwähnten Artikels und vertieft dessen zentrale Themen und Thesen.
Im Vorwort weist Turán darauf hin, dass er das Privileg gehabt habe „to learn from great scholars from all walks of Jewish and academic life in Hungary and elsewhere, who grew out of the same Hungarian soil“. Diese Wissenschaftler standen im Spannungsfeld zwischen der religiösen und akademischen Welt, so wie Goldziher auch; in dieser Reihe nennt Turán ebenfalls seinen Vater, Pál Turán, dem er die vorliegende Monographie widmet. Pál Turán (1910–1976) wird als einer der bedeutendsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts in Ungarn gesehen. Im Vorwort macht der Autor seine persönliche Bindung als jüdischer Ungar zu seinem Untersuchungsthema Ignaz Goldziher transparent.
Das rezensierte Werk besteht aus neun Kapiteln mit dem Ziel, die Dynamiken zwischen Goldzihers persönlicher Frömmigkeit, traditionellem Lernen sowie kritischer Wissenschaft zu untersuchen (17). Eingangs und am Ende geht Turán näher auf die Biographie Goldzihers ein, in den vier zentralen Hauptkapiteln setzt er sich mit der Wissenschaft sowie der spannungsgeladenen Weltsicht Goldzihers auseinander. Dabei beginnen die vier Kapitel jeweils mit dem Attribut „Zwischen“ und zeigen, dass sich Goldziher nicht ohne weiteres bestimmten Polen zuordnen lässt (siehe Kapitel 4: „Between Education and Scholarship“; Kapitel 5: „Between Islamic and Jewish Law“; Kapitel 6: „Between Historicist ‚Science of Religion‘ and Ethnography“; Kapitel 7: „Between Tradition and Reform“). Für Turán trägt Goldziher Facetten von „an oriental Jew and a western Jewish scholar-intellectual, a Jewish pietist and a crypto-Muslim“ (15). Den Unterkapitel mit der Erläuterung zu den Zielen seiner Arbeit betitelt Turán mit „Fleeing from God to God: the Purposes of this Book“ und bezieht sich damit auf die wissenschaftliche Flucht Goldzihers (12–24) vom Judentum zum Islam (und vice versa). Dabei bleibt Goldziher seiner Vorstellung von Monotheismus treu; eine Konversion zum (protestantischen) Christentum kommt für den frommen Goldziher nicht in Frage – auch nicht, um eine Professur zu bekommen.
Für Turán ist Goldziher kein (doppelter oder vielfach) Marginalisierter, sondern steht vielmehr für „positive Jewish and Hungarian identities around conservative liberal values“ (10). Dabei verweist Turán auch auf Goldzihers „subjective sense of social inferiority“ (11) und seine Zerrissenheit zwischen jüdischen Gruppen in Ungarn, einerseits entfremdet und andererseits emotional verbunden (13). Religiöse Entwicklung und Fortschritt in Judentum und Islam bilden gemäß den Untersuchungen Goldzihers zentrale Aspekte (20), und sie bieten eine ungewöhnliche und vergleichende Perspektive von Judentum und Islam (237). Goldzihers Erfahrung sowie Positionierung im Kampf zwischen progressiven und konservativen Kräften des neunzehnten Jahrhunderts im zentraleuropäischen Judentum beeinflussen erheblich sein Wirken und Schreiben (17, 20).
Turán unterscheidet zwei Arten von Goldziher-Biographien: einerseits die „career oriented“ und andererseits die „more subjective“, letztere hauptsächlich gespeist aus dem Tagebuch Goldzihers (5). Hier formuliere Goldziher „harsh complaints“ (6) über seine Arbeit als Sekretär der Jüdischen Gemeinde Budapest, sein jüdisches Umfeld, aber auch über das unaufrichtige Verhalten des ungarischen Bildungsministers zur (von dessen Vorgänger) versprochenen Professur. In Ungarn erfahren Jüdinnen und Juden „negative prejudices based upon their Jewishness“ (8). Goldziher spielt dabei – als ein in seiner Tradition verwurzelter und zugleich reformorientierter Jude – eine besondere Rolle. Für Goldziher sind Normen Leitwerte, die sowohl im Judentum als auch Islam umgesetzt werden müssen (103).
Während Goldziher in seinem Privatleben von schweren Schicksalsschlägen heimgesucht wird, darunter vor allem der Selbstmord seines Sohnes Max, floriert sein akademisches Leben international: zahlreiche Rufe an renommierte Universitäten und Auszeichnungen sowie ein Preis vom König von Schweden zeugen davon (6). In seiner Heimat Budapest erhält er sehr spät eine Professur und wird dennoch mit Folgendem zitiert: „Wissenschaft hat kein Land, aber der Wissenschaftler dagegen hat sein Land“ (234); das passt zu Goldzihers Bemühungen zur kulturellen Selbstbestimmung der Magyaren (238) und seine Positionierung gegen eine Assimilierung.
Turán konzentriert sich auf die Hauptforschungsthemen sowie -methoden Goldzihers in seinem frühen Lebensabschnitt und auf die Verbindung zwischen jüdischen und islamischen Bereichen. Seine Vorgehensweise begründet er damit, dass er „someone unqualified to assess professionally Goldziher’s achievements in central fields of his oeuvre“ sei (23). Hier stellt sich die Frage, ob er mit seinem fehlenden Zugang zu Hauptforschungsfeldern Goldzihers die islamwissenschaftliche Expertise meint. Eine explizite Verknüpfung von Judentum und Islam nimmt Turán in seinem fünften Kapitel („Between Islamic and Jewish Law“) und teilweise im siebten Kapitel („Between Tradition and Reform“) vor. In der Diskussion der jüdischen und islamischen Gesetze stellt Goldziher das Konzept des Consensus (ijmāʾ) als ein historisch-etabliertes Medium zur Reform heraus (111). Die Ähnlichkeit beider Religionen wird im Verständnis von Mündlichkeit (Hadith bzw. Sunna im Islam sowie mündliche Tradition bzw. Gesetz im Judentum) und Schriftlichkeit (Koran im Islam sowie Hebräische Schriften im Judentum) deutlich, die alle Lebensbereiche umfassten (120).
Judentum und Islam seien insofern voneinander zu unterscheiden, als dass letzterer ein Oberbegriff für ethno-religiöse Kulturen bilde und eine Zivilisation darstelle; dagegen sei das Judentum vielmehr eine (dogmatische) Religion, welche sich von der Tradition abgelöst habe, mit Wissenschaft und Zeitgeist nicht übereinstimme, so Goldziher nach Turán. Daraus wird die Kritik Goldzihers am Judentum und sein Ruf nach religiöser Reform deutlich. Goldzihers Reformbemühungen für das ungarische Judentum bleiben offenbar ohne Erfolg, so dass er seine Ideen zunehmend auf die islamische Religion überträgt. Turán merkt an, dass Goldziher mit seinen Reformideen für die islamische Kultur und Religion nur einen begrenzten Einfluss gehabt habe, da er als ungarischer Jude in Budapest geblieben sei (159–160). Ob dem so ist, müsste eingehender erforscht werden. Eine Möglichkeit dazu böte die bisher vernachlässigte Korrespondenz Goldzihers mit muslimischen Intellektuellen seiner Zeit, so z. B. Muḥammad Kurd ʿAli (1896–1953)2, ein syrischer Historiker und Journalist, bekannt für seine Reformagenda. Kurd ʿAli besuchte Goldziher in Budapest persönlich und letzterer wertschätzte ihn als einen „šayḫ (religiöse Autorität)“.3
Gerade angesichts der außerordentlichen Expertise Goldzihers in beiden Religionen und Kulturen als auch deren geschichtlicher Entwicklung, könnte eine stärkere komparative Perspektive ein tieferes Verständnis von Goldzihers Werken und Wirken ermöglichen, zumal dieser in seinen Werken oftmals zwischen Judentum und Islam, teilweise unter Miteinbeziehung des Christentums, vergleicht.
In einer Fußnote merkt Turán an, dass er von Professor David Weiss Halivni gehört habe, dass es einen Versuch gab, das Nahost-Tagebuch von Goldziher ins Englische zu übersetzen, was jedoch aufgrund „Goldziher’s flirting with Islam“ nicht umgesetzt wurde (30).
Das Werk von Turán leistet einen wichtigen Beitrag zur „Goldziherology“ (241). Es trägt vor allem dazu bei, dass ungarische (Primär)Quellen von und zu Goldziher sowie der jüdische Kontext Goldzihers viel stärker berücksichtigt und in ihren Verwicklungen miteinbezogen werden. Turán plädiert darüber hinaus für eine Neuedition des 1978 von Alexander Scheiber publizierten Tagebuchs von Goldzihers, bei dem er zahlreiche Mängel feststellt (248). Dem ist hinzuzufügen, dass eine Transkription des handschriftlichen Manuskripts von Goldziher, das oben aufgeführte Nahost-Tagebuch, ebenfalls notwendig erscheint, um wichtige Informationen und neue Perspektiven zum Denken und Wirken Goldzihers zu liefern.
Aus Goldzihers Fokus auf Consensus in Judentum und Islam kann schließlich mitgenommen werden, dass er besonders viel Wert auf Gemeinschaft und deren Reformpotential gelegt hat. Es würde sich lohnen, die von Goldziher konstruierte Consensus-Idee weiter zu erforschen – sie könnte einen tieferen Einblick in die religiösen und gesellschaftlichen Ideale Goldzihers geben sowie für den Zusammenhalt unserer heutigen Gesellschaft und deren Weiterentwicklung fruchtbar gemacht werden.
Tamás Turán, „Academic Religion: Goldziher as a Scholar and a Jew“, in Modern Jewish Scholarship in Hungary, hg. v. Tamás Turán und Carsten Wilke, 223–269 (Berlin: De Gruyter Oldenbourg, 2016), https://doi.org/10.1515/9783110330731-013.⬑
Siehe die Korrespondenz Goldzihers unter anderem mit Muḥammad Kurd ʿAli in den Archiven der Ungarischen Akademie für Wissenschaften unter http://real-ms.mtak.hu/view/collection/Goldziher_bequest.html.⬑
Scheiber Alexander, hg. Ignaz Goldziher. Tagebuch (Leiden: Brill, 1978), 82.⬑