Carl S. Ehrlich und Sara R. Horowitz, Hg.Jewish Studies on Premodern Periods: A Handbook. De Gruyter, 2023. XII + 323 Seiten, EUR 189.95 , ISBN 978-3-11-041939-9

A. Judith Göppinger 
Hebräische Universität Jerusalem
AgnesJudith.Goeppinger@mail.huji.ac.il

Inhalt

Anmerkungen

Das Handbuch zu Jüdischen Studien oder Jewish Studies in der Vormoderne geht aus einem Symposion hervor, das die Gründung des Jewish Studies Center in New York 1989 feierte. Der Band widmet sich der vergleichsweise jungen Wissenschaftsdisziplin Jewish Studies und vor allem der Wissenschaftsgeschichte innerhalb dieser Disziplin: was hat sich in den letzten knapp 40 Jahren in der Erforschung verschiedener jüdischer Themen getan? Welche Trends und Entwicklungen sind zu verzeichnen? Welche Prognosen werden für die Zukunft abgegeben?

In der Einleitung legt der Mitherausgeber Carl S. Ehrlich dar, welcher Struktur die in dem Handbuch gesammelten Beiträge folgen: epochale Linien untergliedern das Handbuch, die um thematisch-methodische Schwerpunkte ergänzt werden. Die Epocheneinteilung folgt der geläufigen Einteilung des Faches (Erster Tempel, Zweiter Tempel, Rabbinische Zeit, Mittelalter), auch wenn Ehrlich zurecht darauf hinweist, dass diese letztendlich immer etwas willkürlich erfolgt. Die ergänzenden Schwerpunkte decken nahezu alle Bereiche des geisteswissenschaftlichen Arbeitens ab: sozialwissenschaftliche („social scientific“), literaturwissenschaftliche („literary-critical“), religionswissenschaftlich-theologisch-philosophische („religion, theology, thought“) und visuell-materielle („art, architecture, archaeology“) Themen und Methoden finden sich in den Beiträgen wieder.

Den ersten grossen Block des Handbuches bilden die Beiträge, die sich mit der Zeit des 1. Tempels auseinandersetzen. Mary Joan Winn Leith („Biblical Israel“) zeigt deutlich auf, wie sehr archäologische Funde und Analysen zu einem umfassenderen Verständnis der Schriften aus der Zeit des 1. Tempels betragen, in korrigierender, ergänzender oder bestätigender Weise: so ist weder von einer streng monotheistischen Ausrichtung vor der Zeit des Exils in Babylon auszugehen noch von einem feststehenden geographischen Gebilde Israel. Sie kommt so zu dem nicht nur für ihren Untersuchungsgegenstand gelten Schluss: „We must be content with maybes and probabilities“ (19). Konrad Schmid („Hebrew Writings and Literary Works“) widmet sich den von Leith bereits angesprochenen schriftlichen Zeugnissen. Da die wichtigsten Texte nur als Kopien von Kopien vorliegen (27) und aus späterer Zeit stammen, weist Schmid auf die Bedeutung kritischer Quellenarbeit hin. Er stellt drei essentielle Arbeitsschritte heraus, die trotz der fragmentarischen und komplexen Überlieferungslage dazu führen können, die frühesten, aus der Zeit des ErstenTempels stammenden Schichten aus den Texten herauszuschälen: 1. Der jeweilige Text wird in Beziehung zu Deuteronomion gesetzt, das einen einigermassen sicheren Referenzpunkt bildet. Alles, was dem deuteronomischen Text nicht entspricht, wird von Schmid als früher verstanden. 2. Historische oder archäologische Anhaltspunkte in den Texten sind zu überprüfen – Städte, deren Gründungen oder Zerstörungen, dienen dabei als Ausgangspunkte. 3. Die umstrittenste Methode ist eine Datierung aufgrund linguistischer Phänomene; die kann, das unterstreicht Schmid, keinesfalls ohne andere Methoden angewendet werden, denn biblisches Hebräisch weise nur auf eine theologische Perspektive, nicht auf einen Abfassungszeitraum hin und es besteht eine grosse Lücke in der hebräischen Überlieferung, die sich vom 6. bis ins 2. Jahrhundert v. Chr. erstreckt. Beth Alpert Nakhai („Revisiting Iron Age Israel: New Archaeological Approaches“) geht besonders detailliert auf die neuen, vor allem technologischen Möglichkeiten ein, die das Feld der eisenzeitlichen Archäologie in Israel/Palästina in den letzten drei Dekaden erheblich verändert haben. Zudem haben sowohl methodische als auch geopolitische Veränderungen neue Möglichkeiten geschaffen, die heute oft als selbstverständlich gelten. Nakhai führt diesen thematischen Wandel, der sich zunehmend mit der Geschichte einzelner Dörfer, dem Haus und Haushalt, Frauen und Kindern oder Alltagskultur wie -religion befasst,1 auch darauf zurück, dass sich das Personal in der Forschung verändert hat. Statt vornehmlich männlichen Forschern mit theologischem Hintergrund wird das Feld von zunehmend mehr weiblichen oder aus anderen Disziplinen stammenden ForscherInnen geprägt. Den Abschluss der Sektion zum 1. Tempel bildet der Beitrag von Ronald Hendel („Religion, Theology, and Thought in the First Temple Period: The Great and Little Traditions“). Hendel stützt sich stark auf das Konzept eines internen religiösen Pluralismus; zwischen der Religionsauffassung des „Staates“ und den Familien beziehungsweise Privathaushalten müsse unterschieden werden. Das zeige sich schon an der Verortung des Kults in Jerusalem oder eben in den einzelnen Privathäusern und an den entsprechenden Autoritäten, den Familienoberhäuptern oder den Priestern. Diese häusliche „little tradition“ sei dabei wesentlich schnelleren und vielfachen Veränderungen unterworfen, die „great tradition“ verharre hingegen länger. Hendel zeigt diesen Sachverhalt überzeugend am Ketef Hinnom der Priester auf, den er als ursprünglich „kleine Tradition“ sieht, der es in die „grosse“ schafft.

Die zweite grosse Sektion zur Zeit des Zweiten Tempels setzt sich zusammen aus Beiträgen von Steve Mason („Second Temple Studies: The Past, the Present, and the Future of the Ioudaioi“), Eileen Schuller („Second Temple Literature and Texts“), Benjamin D. Gordon („The Archaeology of the Second Temple Period in Judea: New Discoveries and Research“) und Angela Kim Harkins („Changes in the Study of the religion, Theology, and Thought in the Second Temple Period : A Reappraisal of the Teacher of Righteousness“). Steve Mason legt zu Beginn dar, was sein Beitrag leisten soll: 1. Den Erfolg beziehungsweise das Wachstum der Jewish Studies nachzeichnen, 2. eine Debatte anregen, wo an den Universitäten Jewish Studies verortet werden sollen (sind sie doch häufig zwischen Stuhl und Bank, an vielen Fakultäten gleichzeitig oder an einer vollkommen andersartigen angesiedelt), und 3. die wichtige Debatte einer angemessenen Übersetzung von ioudaios/iudaeus/yehudi ins Englische aufgreifen.2 Auch Eileen Schuller zeichnet die wichtigsten Veränderungen und Neuerungen in Feld der Literatur und Quellentexte nach. Sie zeigt besonders anschaulich anhand von verschiedenen Gruppierungskategorien (beispielsweise Chronologie oder Sprache) die Stärken und Schwächen der jeweiligen Kategorie auf – wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Texten aus der Zeit des Zweiten Tempels sollte folglich niemals nur eine Kategorie in Betracht ziehen. Benjamin Gordon kritisiert den nach wie vor anhaltenden „conservation bias“, der die Konservierung vor allem römischer Artefakte bevorzugt gegenüber Funden persischer oder hellenistischer Zeit. Obwohl sich die archäologische Forschung zunehmend auch neuen Artefakten (beispielsweise Samen und Pflanzen) widmet, betont Gordon die Notwendigkeit einer kombinierten Forschungsarbeit von Archäologie und Text. Angela Kim Harkins konzentriert sich vor allem auf die Funde in Qumran und die Forschungen zum „teacher of righteousness“. Anhand dieser spezifischen Forschungsdiskussion kann Harkins zeigen, wie sich innerhalb der Forschung die Sicht auf und das Verständnis von Theologie durch die Analyse der Qumran-Rollen massgeblich verändert hat.

Die dritte, vorletzte Sektion setzt sich mit der rabbinischen Zeit auseinander, die von den HerausgeberInnen vom Mittelalter getrennt wird. Robert Brody („The Study of Classical Rabbinic Literature in the Last Quarter-Century“) gibt einen umfangreichen, dennoch gut lesbaren und knapp gehaltenen Überblick über die Forschung zur klassisch rabbinischen Literatur – worunter Brody Mischna, Tosefta und halachische Midraschim versteht. Er konstatiert dabei zwei grosse Strömungen: vor allem in den USA stehen kulturell-religiöse Fragestellungen im Zentrum, in Israel hingegen wird vornehmlich philologisch-textkritisch gearbeitet. Zwischen diesen beiden Polen befinden sich die ForscherInnen aus Europa, Kanada und anderen Ländern. Steve Fine („Rabbi Akiba 3D: Artifact, Text, and the Recent History of Judaism in Late Antiquity“) beschäftigt sich mit Artefakten und Texten aus sowie der aktuellen Forschung zum Judentum in der Spätantike. Insbesondere die archäologischen Funde der letzten 30 Jahre hätten die Wissenschaft zum spätantiken Judentum bereichert und auf neue Wege gebracht, die durch Texte kontextualisiert wurden. Auch Fine plädiert für eine Kombination aus textbasierter und archäologischer Forschung. David Kraemers („Rabbinic Religion and Thought“) Beitrag schliesst die Sektion ab mit einem Überblick über die Entwicklungen innerhalb der Forschung zu rabbinischer Religion und rabbinischem Denken („thought“). Kraemer stellt insbesondere eine Veränderung in der Textarbeit fest: statt die rabbinischen Schriften als „accurate record of the beliefs and opinions of the sages whose teaching they claimed to preserve“ zu sehen (199), werden heute „its self-serving qualities, its originally oral status, the chronological distance of the world it ‚represents‘ and preserves“ in den Blick genommen (S. 210).

Judith R. Baskins („Medieval Jewish Social History: Three Areas of Gender-Concious Research“) Aufsatz eröffnet die Sektion zum Mittelalter. Sie stellt drei grosse Felder einer „gender-concious research“ dar: Geschlechterbeziehungen in ihrer Darstellung in der Kairoer Genizah, das (Alltags-)Leben von JüdInnen im mittelalterlichen Aschkenaz und die möglichen Lesarten von weiblichen Charakteren in Märtyrerchroniken und Gedichten aus Nordafrika. Für Baskin zeigt sich der Wandel, den die Jewish Studies in den letzten dreissig Jahren erfahren haben, vornehmlich am Einfluss der Geschlechtergeschichte. Martin I. Lockshin („A Retrospective Look at the Modern Study of Medieval Jewish Bible Commentaries“) entwirft für die LeserInnen eine Retrospektive auf die Erforschung und Analyse mittelalterlicher Bibelkommentare; ein Feld, das in besonders engem Zusammenhang mit der Entwicklung der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert steht. Lockshin zeichnet vor allem Nehama Leibowitz’ Studien zu den Lesarten der Bibelkommentare für den fundamentalsten Wandel verantwortlich; er zeigt diesen Wandel anhand des Beispiels von Rashis Bibelkommentar auf. Jüdische Kunst und Architektur finden im Beitrag von Vivian B. Mann („The New in Medieval Jewish Art and Architecture“) Beachtung. Die Farbbilder von guter Qualität machen es leicht, ihren Ausführungen zu folgen. Auch in diesem Bereich, obwohl es sich um ein sehr junges Feld handelt, das gerade einmal eine Generation an ForscherInnen aufweisen kann, zeigen sich die jüngeren und jüngsten Grabungen, vor allem in Spanien und Deutschland als wahre Fundgrube für die WissenschaftlerInnen. Der letzte Beitrag, der sich schon mit der Frühen Neuzeit auseinandersetzt, stammt von Eric Lawee („Scholarship in Recent Decades on Jewish Religion and Thought in Medieval and Early Modern Times: Changing Paradigms, New Perspectives, Future Prospects“). Speziell im Fokus steht der „cultural turn“ sowie das Problem der Periodisierung (wann trennt sich die Moderne von der Vormoderne), das sich noch dadurch verschärft, dass die übliche Epocheneinteilung den Vorstellungen des christlichen Humanismus folgt. Lawee diskutiert zudem knapp die neuen Theorien und Werkzeuge der Forschung, die zu einem zunehmend dynamischen Diskurs führen (beispielsweise Fragen nach Genre, „agency“ beziehungsweise Handlungsmacht, Wissenstransmission oder Grenzüberschreitungen).

Den Abschluss des Bandes bildet ein Nachwort der Mitherausgeberin Sara S. Horowitz, das noch einmal zusammenfasst, was alle Beiträge des Bandes gemein haben, trotz der unterschiedlichen epochalen und fachlichen Spezialisierung. Die Veränderungen, die die Geisteswissenschaften in den letzten 30-40 Jahren geprägt haben, finden sich mit ebensolch fundamentaler Wirkung auch in der Geschichte der Jewish Studies. Zusätzlich eröffnen neue Technologien den ForscherInnen neue Möglichkeiten; allerdings weist Horowitz auch auf die Frage der Finanzierung hin: nicht selten ist Geld an eine bestimmte Stossrichtung der Forschung gebunden, was insbesondere für private StifterInnen gilt.

Grundsätzlich bietet der Band einen guten Überblick über die Forschungsgeschichte der Jewish Studies, ist also mehr ein Handbuch zur Wissenschaftsgeschichte des Fachs insgesamt als zu bestimmten thematischen Feldern selbst. Ein Quellen- und Autorenregister vereinfachen die Handhabung; die jeden Beitrag abschliessende empfohlene Literatur bietet ebenfalls einen guten Einstieg in die Forschung zum jeweiligen Gebiet, allerdings ist das massive Übergewicht englischsprachiger Literatur nicht zu übersehen. Dabei wird auch eine Chance verpasst, grundlegende Forschung aus nicht-englischsprachigen Ländern einzubeziehen – gerade im Feld der Jewish Studies sollte Forschungsliteratur auf Hebräisch nicht marginal bleiben. Lediglich zwei grössere Kritikpunkte sind der Rezensentin ins Auge gestochen: es ist und bleibt unklar, an wen sich das Handbuch richten soll. An Studierende? An ForscherInnen anderer Disziplinen? An WissenschafterlerInnen der Jewish Studies? Leider bleiben auch einige Begrifflichkeiten etwas unterkomplex in ihrer Verwendung: kann man tatsächlich einfach so von Religion sprechen? Oder von einem jüdischen Staat oder von Ethnizität in der Vormoderne (beispielsweise in den Beiträgen von Nakhai und Hendel)? Auch sollten Begriffe wie „Kristallnacht“ nicht mehr verwendet werden (wie im Beitrag von Mann, S. 261) – „Pogromnacht“ hat sich zu Recht in der (zumindest deutschsprachigen) Forschung als passenderer Begriff etabliert, um nicht den verharmlosenden Propagandasprache der Nationalsozialisten zu folgen.

Anmerkungen

  1. Nakhai (61) spricht von einem Shift von makro zu mikro, von urban zu rural, von Palast zu Haus, von Männern zu Frauen und Familien. Sie weist auf die Anerkennung der heterogenen religiösen Struktur einer clan- und familienbasierten Gesellschaft hin. Diese Trends finden sich in allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen.

  2. Mason selbst beschäftigt sich seit Jahren mit dieser Frage und hat, neben Danny Schwartz und Shaye Cohen, einige der wichtigsten Beiträge zu dieser Debatte verfasst.