Efrat Gal-Ed, Simon Neuberg und Daria Vakhrushova, Hg. Der ganzen Welt benachbart. Anthologie jiddischer Essays. Düsseldorf University Press, 2023. 417+xxxi Seiten, EUR 39.95, ISBN 978-3-11-078291-2
Universität Basel
Was geschieht, wenn man der ganzen Welt benachbart ist? Ist das ein Fluch oder ein Segen? Die Wahl dieses Titels für eine Anthologie jiddischer Essays bringt mit sich das Bild einer mondänen Nation, die jenseits von einem eng begrenzten Territorium lebt. Die gemeinsame Sprache derjenigen, die Nachbarn der ganzen Welt sind, ist Jiddisch. Was bedeutet dieser merkwürdig ausgegrenzte Zustand für das literarische Leben in einer Sprache, die zwar überall gesprochen wird, aber dennoch nirgendwo eine offizielle Landessprache ist? Was ist jüdische Kunst? Und was ist jiddische Literatur? In wiefern darf und kann sie sich als weltliche jüdische Literatur von der Weltliteratur unterscheiden? Und dann bleibt an inneren Angelegenheiten etwa noch die spezifischere Frage, wie die jiddische Literatur dem Hebräischen gegenüberstehen soll?
Anhand von 69 Essays von 35 verschiedenen Autorinnen und Autoren werden Diskussionen und Auseinandersetzungen hauptsächlich aus jiddischen Periodika dargestellt. Der Essay als eigenes Genre, das (anders als die eigentlichen Bücher) den Alltag so vieler Leserinnen und Leser prägte, wird hier zurecht zelebriert. Und wie eben schon der Titel der Anthologie verrät, werden dabei die Grenzen der literarischen Topographie der jiddischen Literatur gesprengt und erweitert: War zur Zeit der Klassiker die Rede von einer Konkurrenz zwischen Warschau und Vilnius oder von dem Zentrum in Odessa, so reihen sich nun weitere Erscheinungsorte in Europa ein wie Kaunas, Moskau, Kiew oder Riga. Und über der See ist ja bekanntlich New York. Die Zentren sind nicht mehr bloss in einer Stadt konzentriert, sondern erstrecken sich über ganze Länder, sodass Dovid Bergelson (1884-1952) in seinem Artikel über die literarischen Zentren, von dem polnischen, dem amerikanischen und dem sowjetischen Zentrum spricht.
Dieser Band ist der sechste in der Schriftenreihe „Jiddistik: Edition & Forschung“ und legt wiederum Texte in standardisierter Orthographie vor. Auch hier folgen Texte biographischen Umrissen der Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Er ist in fünf Kapitel gegliedert: das erste beinhaltet Manifeste und Gegenmanifeste aus den Jahren 1919 bis 1930. Im zweiten Kapitel folgen Reflexionen zu Kunst und Poesie aus den Jahren 1911 bis 1931. Im dritten erzählen Autorinnen über ihren eigenen Weg und Werdegang in die Literatur. Das vierte Kapitel „über jiddische Literatur und Kultur“ ist sechsfach unterteilt. Hier reihen sich Texte aus den Jahren 1863 bis 1931 aneinander zu der Debatte bezüglich der Sprachenfrage und dem Verhältnis zum Hebräischen. Es ist das einzige Kapitel, in dem auch Texte, die vor der russischen Revolution von 1905 erschienen sind, vorkommen. Thematisiert sind dort das Programm die Kiewer «Kulturliga», die Frage nach den Zentren der jiddischen Literatur, der Notwendigkeit eines Literaturkongresses sowie den Perspektiven der jiddischen Literatur. Das Kapitel endet mit Texten des verdienstvollen Literaturkritikers Shmuel Niger (1883-1955) über die Relation der jiddischen Literatur zur Weltliteratur. Das letzte Kapitel besteht ausschliesslich aus Essays der Dichterin Kadye Molodovski (1894-1975). All dies wird sehr übersichtlich in dem ausführlichen Vorwort des Buches beschrieben.
Die Auswahl von Texten aus einer doch sehr weiten Zeitspanne ist nicht leicht – die Frage nach den Kriterien für die Zusammenstellung stellt sich beim Lesen von selbst. Sehr deutlich scheint hier die Entscheidung getroffen worden zu sein, keine Texte von Klassikern zu verwenden. Es ist dies eine durchaus nachvollziehbare Entscheidung, alleine schon aus dem Grund, dass diese Texte meistens leichter zu erreichen als andere sind. Es ist auch anzunehmen, dass Leute, die im Stande sind, die Texte auf Jiddisch zu lesen, mit dem essayistischen Werk der Klassikern schon einigermassen vertraut sind. Angesicht der Tatsache aber, dass einige ihrer Zeitgenossen, etwa Dovid Frishman (1859-1922) oder Asher Ginzberg (1856-1927), doch zur Sprache kommen, fällt ihre Abwesenheit umso deutlicher auf. Omnipräsent (auf eine geradezu literarische Art, indem er selber nicht zu Wort kommt) scheint über allem die Figur von Khayim Nakhmen Byalik (1873-1934) zu schweben, dessen Referat in Berlin 1931 das Kapitel zur Sprachenfrage anregte.
Während ein grosser Teil der Beiträge zum ersten Mal in standardisierter Orthographie neu erscheint, sind einige der Texte, etwa das Manifest der Introspektivisten aus New York, in der Forschungsliteratur schon wohlbekannt und sogar in andere Sprachen übersetzt worden. Inhaltlich passen aber alle Texte sehr gut zueinander. Um so erfreulicher ist daher das sehr variierte und sorgfältig ausgewählten Korpus von Autoren und (soweit historisch möglich) Autorinnen.
Bei einer solchen breiten Auswahl ist es nicht überraschend, dass die Texte sich in ihrer poetischen Kraft sehr unterscheiden, oder vielmehr – in Anlehnung an den wunderschön rhythmischen Beitrag von Dovid Frishman in diesem Band, der die Kunst als den paradiesischen Baum des Lebens versteht – scheinen eine ganze Anzahl Texte eher zu den Früchten des Baums der Erkenntnis zu gehören (insofern als die Politik dort ihren Ursprung hat), während andere mit der prallen Saftigkeit der Früchte von dem Baum des Lebens, mit individuellen Sprachbildern und Dichtungen prangen. Und jenseits der Theorie beweist die Mehrheit der Texten, dass sogar die kreuzweise Züchtung von diesen Bäume möglich ist.
Wo die Unterscheidung dennoch klar zu sein scheint und die Poesie deutlich überwiegt, ist im Kapitel „vegn zikh aleyn“, in welchem die Bahn der literarischen Arbeit geschildert wird. So erzählt beispielsweise Khave Rozenfarb (1923-2011), dass in den Lagern «neben anderen Epidemien» sich auch das Schreiben verbreitete. Sogar in Auschwitz gab es Leute, die weiter schrieben. Das Problem, schreibt sie, begann danach, mit der Enttäuschung über die physisch zerstörte Welt wie auch die Gleichgültigkeit, mit der die Überlebenden empfangen wurden. Sie selber konnte nach dem Krieg nicht mehr schreiben. Erst die Klänge eines Liedes von Edit Piaf riefen bei ihr die Wörter wieder auf und danach auch eigene Melodien, sodass sie es doch wagte, ihren Text an die Zeitschrift, aus der ihr Vater ihr vor dem Krieg vorgelesen hatte – bezeichnenderweise war dies keine andere als die „Tsukunft“ – zu schicken. Mit dem Versand dieses Textes wurde sie ihrer Aussage nach neu geboren. Die Nachbarschaft mit der Welt trägt in den eindrücklichsten Beiträgen dieses Abschnitts, etwa demjenigen von Avrom Sutzkever, auch einen physischen, naturverbundenen und sehr sinnlichen Charakter.
Ein wenig irritierend ist hier jedoch die Wahl des Textes von Itzik Manger. Da geht es um die Bedeutung des Wortes «mentsh», was Manger durch einen Vergleich zwischen der deutschen und der jiddischen Kinderliteratur zu zeigen versucht. Die quasi moralische Überlegenheit des jüdischen Kindes zeichnet sich durch sein Mitgefühl und Reue aus. Irritierend dabei ist nicht nur die heute eher anachronistische Vorstellung von der Kinderwelt, sondern auch die adressierte, mehrheitlich wohl nicht jüdische Leserschaft des Sammelbandes. Anders als die zwei anderen Beiträge von Manger in diesem Band, in welchen gerade die bereichernden Einflüsse von anderen Literaturen auf seine eigene durchaus humanistisch geprägte Lesebiografie deutlich beleuchtet werden, erschwert es dieser Vergleich, selbst wenn er nach dem Zweiten Weltkrieg emotional nachvollziehbar ist, die Feinfühligkeit dieses Dichters zu spüren.
Neben der Frage nach der Auswirkung der Polyterritorialität auf die Entfaltung der jiddischen Literatur, wie sie das Vorwort aufwirft, entstehen beim Lesen in dieser reichhaltigen Quellensammlung auch weitere Zusammenhänge und Fragestellungen. So beginnt der Band bestimmt nicht umsonst mit dem Titel: «Die Wege der jüdischen Malerei» (und nicht etwa der jiddischen Literatur). Auf die Frage, was überhaupt jüdische Malerei sei, wird im Text auch eine vermeintlich klare Antwort geben: jüdische Künstler arbeiten nicht mit Farben, sondern mit Tönen und Schichten. Da kommt Marc Chagall als Beispiel vor. Sein Werk, meinen Yisokher-Ber Ribak und Boris Aronson, die Verfasser dieses Textes, schöpft aus dem jüdischen Leben, die Farben und Nebentöne in seinen Bildern führen zu jüdischen Subjekten zurück. Die Idee von den Zwischentönen ähnelt der «dritten Seite von der Medaille», wie der jüdische Stil bei Yitskhok Likhtenshteyn, definiert wird: „Ein Stil, welcher zwischen verschiedenen Ländern und Völker schwebt. Ein Stil, der sich in keinem Hafen verankern kann. Ein lebenslustiger Stil“ (114). Auch in diesem Artikel wird Chagall als Beispiel und Vorbild genannt und erweckt damit den Eindruck, dass nicht mehr ein (vor dem Schreibtisch sitzender) Schriftsteller, sondern gerade ein (wahrscheinlich stehender und sich bewegender) Maler das neue Bild eines idealen Künstlers verkörpert. In einem Artikel, der 1924 in der Zeitschrift „literarishe bleter“ erschien, in der ja auch Marc Chagall in Bild und Wort mitwirkte, stellt Perets Markish unter dem Titel „«zwei Wirklichkeiten“ die Frage nach der Relation zwischen Kultur und Kunst. Die Literatur und die bildende Kunst scheinen dort gleichwertig zu sein. In diesem Sinne versuchte 1931 Debora Vogel aus Lemberg eine Theorie zur Poetik mit Analogien aus der bildenden Kunst zu formulieren. Sie schreibt zwar nicht jiddische Poetik, doch alle ihre Beispiele stammen aus der jiddischen Literatur, pochen unter anderem auch auf Leyels Schilderung der Metropole – New York und zeigen wiederum, wie mächtig und vielfältig die jiddische Literatur einst war.
Der letzte Beitrag des Bandes „die jiddische Literatur in einer Zeit verstärkter Assimilation“ von Kadia Molodovsky erschien in New York fünfzig Jahre nach der russischen Revolution. Hier ist nicht mehr die sprudelnde Kraft der Kunst und ihre Verbildlichung der benachbarten Umgebung zu spüren, sondern eine stille Rückkehr in die biblischen Bilder und deren Entfaltung. Moshe Dayan wurde von den Zeitgenossen als ein neuer Moses gesehen. Das Buch ist die Festung des jüdischen Volkes, dessen Figuren und Geschichten weiter funkeln. Die Kraft, ja die Überlebenskraft liegt nach Molodovsky allein in der Sprache.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hätte man das Erscheinen dieser Anthologie bestimmt als einen „Feiertag“ begrüsst. Gemäss dem revolutionären, avantgardistischen Geist der Texte klingt dieser Ausdruck vielleicht anachronistisch und etwas pompös, aber dennoch sollte dieser Band genau so begrüsst werden. Wieso? Alleine schon, weil viele von den Texten mit so viel Begeisterung, Idealismus und Hoffnung geschrieben wurden. Weil sie es ermöglichen, nicht nur Verbindungen zwischen Poetik und Geschichte, Ort und Text herzustellen, sondern auch persönliche Begegnungen zu beleuchten. Und weil sie viele diskursive Fragen mit sich bringen und die Notwendigkeit weiterer Forschung in diesem Gebiet auf Schritt und Tritt bestätigen.
Und trotzdem noch eine kleine technische Bemerkung: Zwar sind viele der originalen Texte digital in der Israelischen Nationalbibliothek leicht auffindbar, doch die wenigen Abbildungen im Buch sind hilfreich und wichtig. Es ist jedoch etwas schade, dass diese Abbildungen keinen tieferen Einblick in die jeweilige Orthographie gewähren. Denn die Orthographie verrät auch viel über die benachbarten Kulturen. Nimmt man sie wahr, kann auch die Distanz zwischen New York und Moskau genauer vermessen werden.