Rabbi Nachman von Breslav. Lobpreis und Lehrgespräche nach den Aufzeichnungen seiner Schüler, herausgegeben von Hans-Jürgen Becker. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2021. 496 S., EUR 39, ISBN 978-3-633-54307-6

Peter Szynka 
Hochschule Hannover
peter.szynka@hs-hannover.de

Das Verdienst des Herausgebers Hans-Jürgen Becker besteht darin, das Wissen über Rabbi Nachman von Breslav (1772-1810), des Urenkels des „Meister des Namens“, des legendären Baal-Schem-Tov sinnvoll ergänzt und vervollständigt zu haben. Bislang wurde unser Wissen über Rabbi Nachman wesentlich von Martin Buber geprägt, der die Geschichten des Rabbi Nachman (1906) in überarbeiteter Form herausgegeben hatte, und im Anschluss daran auch Die Legende des Baalschem (1908). In den Erzählungen der Chassidim die erst Jahre später (1949) erschienen sind, hat Martin Buber Nachman von Breslav und seinen Urgroßvater ausgeklammert. Auch Elie Wiesel berichtete in seinem Buch Chassidische Feier (1974) von den Erzählungen Nachmans und ordnet ihn den anderen wichtigen Persönlichkeiten chassidischer Frömmigkeit und deren Lehrhäusern inhaltlich und geographisch zu. Während es Buber und Wiesel eher darum ging, sich und uns Legenden zu erhalten und ihre Protagonisten zu erinnern, setzt sich Simon Dubnow in seiner Geschichte des Chassidismus auch historisch-kritisch mit dieser machtvollen Bewegung des osteuropäischen Judentums zwischen Orthodoxie (Mitnagdim) und jüdischer Aufklärung (Maskilim) auseinander. Unser Wissen blieb partikulär. Michal Brocke setzte sich in den 1980er Jahre daran, die Erzählungen des Rabbi Nachman zum ersten Mal aus dem Jiddischen und Hebräischen zu übersetzen, zu kommentieren und mit einem Nachwort zu versehen. Brockes Übersetzung enthält neben dreizehn Erzählungen und auch sieben kürzere Stücke, wohingegen Bubers Geschichten nur fünf Erzählungen beinhalten. Alle Erzählungen und Geschichten wurden nicht von Nachman von Breslav selbst schriftlich niedergelegt, sondern von seinem ergebenen Schüler Natan von Nemirow protokolliert. Dieser Stand des Wissens über Nachman von Breslav wurde nun im deutschsprachigen Raum von Hans-Jürgen Becker deutlich erweitert und durch die Übersetzung zweier weiterer Niederschriften aus der Feder von Natan von Nemirow ergänzt, dem „Lobpreis Rabbi Nachmans“ und der „Lehrgespräche Rabbi Nachmans“ ergänzt.

Der Lobpreis hat zwei Teile. Im ersten Teil wird in 27 Abschnitte über die Kindheit und Jugend des Meisters berichtet. Der zweite Teil behandelt in 36 Abschnitten den abenteuerlichen Verlauf einer Reise in das Land Israel und wieder zurück.

Die Lehrgespräche sind eine Sammlung von Fragmenten, Gedanken und Lebensweisheiten in denen eine Vielzahl von Themen und Gedanken angesprochen werden. Ein Beispiel findet sich am Ende dieser Rezension. Auch die Lehrgespräche sind in zwei Teile untergliedert. Der erste Teil beinhaltet eine erste Sammlung kleinerer Abschnitte (1-116). Im später veröffentlichten zweiten Teil (117-308) finden sich weitere kleine Stücke, die Natan von Nemirow unter folgende Zwischenüberschriften geordnet hat:

Lobpreis und Lehrgespräche sind vom Herausgeber mit insgesamt 996 Anmerkungen versehen, die auf Erläuterungen, Querverweise sowie auf Quellen hinweisen, die von Nachman von Breslav benutzt worden sind.

In der Einleitung fasst Hans-Jürgen Becker Biographisches über Nachman von Breslav zusammen, ordnet sein Leben und sein Werk geographisch und historisch ein und geht insbesondere auf sein Verhältnis zur jüdischen Aufklärung, der Haskala ein. Es folgen Anmerkungen zum Aufbau des Buches und zum kabbalistischen Hintergrund des Denkens von Rabbi Nachman, schließlich werden beispielhaft seine Gedanken zur Größe Gottes dargestellt. Zum Schluss werden Lesehilfen gegeben, die genauen Quellen genannt und Tipps zum Weiterlesen gegeben, einschließlich einer Sammlung von Internetquellen, „um einen Eindruck von der Vielfalt und den unterschiedlichen Zugängen“ (S. 42) zu ermöglichen, welche Anhänger und Gemeinden inzwischen weltweit dem Breslaver Chassidismus entgegenbringen. In diesem Zusammenhang behandelt der Herausgeber auch die ukrainische Stadt Uman in der er auch begraben liegt. Diese Stadt hat sich inzwischen zu einem großen, internationalen Wallfahrtsort entwickelt.

Nachman von Breslav war ein charismatischer Führer und begnadeter Erzähler. Er zeigte große Verantwortung für seine Anhänger. Wie schon seine Erzählungen sind auch seine Lehrgespräche für seine Hörer Quellen der Hoffnung und der Kraft. Als Enkel des Baalschem Tov wurde er als Wunderkind und Zaddik angesehen. Gleichwohl schien er zunächst und immer wieder mit den an ihn gerichteten Erwartungen zu hadern. So wurde von ihm die erfolgreiche Vermittlung der Sorgen, Nöte und Gebete seiner Gemeinde an den Allmächtigen erwartet, zu dem ihm eine besondere Beziehung unterstellt wurde. Dies brachte ihm schon zu Lebzeiten die Kritik einiger Vertreter der orthodoxen Mitnagdim ein, die einen falschen Messianismus wie bei Sabbatai Zvi (1626-1676) oder gar Jakob Frank (1726-1791) befürchteten.

Zuletzt von Krankheit gezeichnet verließ er seine Gemeinde nachdem sein Haus abgebrannt war, und zog ins 100 Kilometer östlich gelegene Uman. Während seiner Krankheit hatte er Kontakt zu Vertretern der jüdischen Aufklärung, den Haskilim. Nachman war belesen und seine Lektüre umfasste neben der rabbinischen Überlieferung auch die mittelalterlichen Quellen der Kabbala von Issak Luria und wohl auch rationalistische Quellen, wie den Führer der Unschlüssigen von Maimonides (den er allerdings seinen Schülern verboten hatte zu lesen). An seinem Sterbeort Uman wollte er sich schließlich insbesondere für die Seelen der Opfer des Massakers von Uman (1768) einsetzen.

Natan von Nemirow war sein treuer und ergebener Schüler. Er sah seine Lebensaufgabe darin, die Worte seines Meisters zu überliefern. Für ihn stand Nachman in unmittelbarer Nähe zum Allmächtigen. Ein Erforscher des (späteren) Belser Chassidismus, Jiří Mordechai Langer, hat versucht, solch charismatische Verhältnisse mittels Freud’scher Begriffe aufzulösen und sein Bruder František Langer kommentierte ironisch, dass durch das Konzept des Zaddiks „Gebetserhörung wie Nachbarschaftshilfe“ erscheinen würde.1 Auch Simon Dubnow wirft in seiner Geschichte des Chassidismus (1931) einen kritischen Blick auf derlei Projektionen.2

Hans-Jürgen Becker ist zu verdanken, dass der Lobpreis und die Lehrgespräche endlich in deutscher Sprache zugänglich geworden sind. Von besonderer Bedeutung ist, dass er die Übersetzung nah am Originaltext gehalten und nicht literarisch bearbeitet hat. Zwar sind die Texte in ihrer Diktion gewöhnungsbedürftig, aber wir erhalten einen genauen Eindruck von den Verhältnissen und Bedingungen, unter denen sie entstanden sind. Dankbar kann man auch für die zahlreichen Anmerkungen und Querverweise sein, die das Buch zu einem unverzichtbaren Hilfemittel machen, sich weiter mit Nachman zu beschäftigen. Der Rezensent weiß jetzt genauer, woher der oft zitierte Spruch von Rabbi Nachman stammt, demzufolge „Nichts so ganz sei, wie ein gebrochenes Herz“. Ein gebrochenes Herz sei nämlich nicht mit Traurigkeit zu verwechseln, denn letzteres sei keine Krankheit des Herzens, sondern komme von der Milz (Lehrgespräche 41 und 42). Diese heute erstaunlich erscheinende Behauptung hatte tatsächlich in der antiken Humoralpathologie eine bedeutende Rolle gespielt und sich interessanterweise auch in talmudischen Quellen niedergeschlagen. Das alles und noch viel mehr können wir der Arbeit Beckers entnehmen.

Hans-Jürgen Becker ist 2024 in den Ruhestand getreten. Der Rezensent wünscht alles Gute.

Anmerkungen

  1. Langer, Die neun Tore, 26.

  2. Dubnow, Geschichte des Chassidismus, Bd. 2, 189ff. und 199ff.

Literatur

Dubnow, Simon. Geschichte des Chassidismus: in zwei Bänden. Übersetzt von A. Steinberg. Jüdischer Verlag, 1982 [Unveränderter Nachdruck der Erstausgabe Berlin, 1931].

Langer, Jiři Mordechai. Die neun Tore: Geheimnisse der Chassidim. Arco Verlag, 2013.