Es ist das Jahr der Pogromnacht, das Jay Geller einleitend in Momentaufnahmen der
vier Brüder Scholem ausleuchtet: 1938 schifft sich Gerhard zu einer Vortragsreise
nach New York ein, mit seiner Einwanderung nach Palästina 1923 nannte er sich Gershom
(„Fremder von dort“), und unter diesem Namen sollte er wissenschaftlichen Weltruhm
erlangen. Die beiden älteren Söhne von Arthur Scholem, die nach dem Tod des Vaters
den Berliner Druckereibetrieb fortgeführt hatten, wandern nach Australien aus: Reinhold,
der unverbesserliche deutsche Patriot, und Erich, der desillusionierte liberale Demokrat;
die Mutter Betty folgt ein Jahr später. Werner, einer der einflussreichsten Kommunisten
der Weimarer Republik, wird in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert und dort
zwei Jahre später ermordet.
Unterschiedlicher konnten die vier jungen Männer nicht sein, und doch zeigen alle
Schicksale charakteristische Reaktionen auf den Antisemitismus und spiegeln zwischen
Liberalismus, Nationalismus, Kommunismus und Zionismus das Spektrum wie die Spannungen
des deutsch-jüdischen Bürgertums im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. In seiner
Monografie Die Scholems lädt der amerikanische Historiker Jay H. Geller seine „Leser ein, dem Weg einer einzigen
Familie zu folgen“ (18), um sie exemplarisch in die Sozial- und Mentalitätsgeschichte
des deutschen Judentums in der Moderne in allen Um- und Aufbrüchen einzubetten: die
napoleonischen Reformen, das Toleranzedikt von König Friedrich Wilhelm II., der Erste
Weltkrieg, die jüdische Renaissance, die verschiedenen Richtungen des Zionismus, jüdische
Orthodoxie oder Reformtempel, Akkulturation oder Assimilation, Verfolgung, Vernichtung
und Exil.
Die Genealogie der Scholems beginnt mit dem Judenedikt 1812, das den Juden die staatsbürgerliche
Gleichberechtigung verschaffte, und so konnten schon zwei Söhne des Gründers der Familien-Dynastie,
der sich im gleichen Jahr in Glogau mit dem Namen Scholem Scholem eingetragen hatte,
aus der schlesischen Provinz in die preußische Metropole umsiedeln. Ein Enkel des
Urahns, Siegfried Scholem, gründete 1864 mit seiner Frau Amalie in Berlin-Schöneberg
eine Druckerei, die er nach seinem Tod 1901 den mittleren Söhnen Theobald und Max
hinterließ. Ihr erster Sohn Arthur Scholem (1863–1925) hatte bereits einen eigenen
Betrieb in Berlin gegründet, der zu einem wichtigen Organ der politischen Presse,
der jüdischen Buchdruckerkunst und des deutsch-jüdischen Verlagswesens wurde. Nach
Arthurs Ableben 1925 übernahmen die beiden ältesten Söhne Reinhold (1891–1985) und
Erich (1893–1965) das Geschäft, das Krieg, Inflation und Weltwirtschaftskrise überdauerte
bis zur Zwangsliquidierung 1938 durch das NS-Regime. Arthurs Ehefrau Betty Hirsch
(1866–1946) stammte aus wohlhabenden, gebildeten Kreisen mit religiöser Tradition,
und auch wenn die Familie wie viele deutsche Juden und Jüdinnen Weihnachten feierte,
verkehrte sie privat nicht mit Nichtjuden, und Gerschom Scholems Vorwurf, die Eltern
hätten sich „zur weitestgehenden Assimilation an die Lebensart der Umgebung“ angeglichen,
ignoriert den eigenen Briefwechsel mit seiner Mutter, der von jiddischen Redewendungen
und jüdischen Bezügen durchzogen ist. Betty Scholem hielt die streitbare Familie mit
Esprit und Diplomatie zusammen. In den zwanziger Jahren verwirklichten die Scholems
wie viele deutsche Juden ihr Judentum durch kulturelles, berufliches oder soziales
Engagement.
Ihre vier Söhne wurden im Abstand von zwei Jahren geboren und vertraten politisch
gegensätzliche Positionen. Reinhold war Mitglied der nationalliberalen Deutschen Volkspartei
(DVP) und des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Im Ersten
Weltkrieg wurde er mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet und zum Reserve-Offizier berufen.
100000 deutsche Juden kämpften im Ersten Weltkrieg, von denen etwa 12000 fielen. Doch
noch im australischen Exil blieb Reinhold ein deutscher Patriot, und Gershom Scholem
erzählt in seinen Memoiren, dass er auf die Frage seiner Frau, was er denn eigentlich
sei, geantwortet habe: „Ich bin Deutschnationaler. Was, sagte sie, und das nach Hitler?
Ich werde mir doch meine Anschauungen nicht von Hitler vorschreiben lassen, erwiderte
er“.1 Betty und Erich Scholem wählten die linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP)
und gehörten damit zum fortschrittlichen Spektrum des Liberalismus in der Weimarer
Zeit. Die beiden jüngeren Brüder Werner (1885–1940) und Gerhard (1897–1982) waren
vehemente Kriegsgegner, und während der Ältere wegen Majestätsbeleidigung belangt
wurde, entzog sich der Jüngste durch eine simulierte Geisteskrankheit dem Militärdienst.
Beide rebellierten gegen den Vater und die Brüder. Werner Scholem, Journalist und
Kommunist, wurde 1924 Abgeordneter im Reichstag und gehörte zum linken Flügel der
KPD, bis ihn Ernst Thälmann aus der Partei drängte. Werner verstand sich als Deutscher,
und Fragen der jüdischen Religion und Identität interessierten ihn nicht. Dennoch
vereinigte er in sich Judentum und Kommunismus, und so wurde er 1933 von den Nationalsozialisten
verhaftet und 1937 in das KZ Dachau deportiert, ein Jahr später nach Buchenwald, wo
er am 17. Juli 1940 ermordet wurde. Geller gelingt im siebten Kapitel eine sehr kompetente
und minutiöse Schilderung dieser politischen Biografie.
Das berühmtstete Familienmitglied war zweifellos der von seiner Mutter maßlos verwöhnte
Junior: Gerhard (Gershom), der als Mystikforscher und Religionshistoriker zu einem
der großen jüdischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts aufstieg. Mit dem ihm eigenen
Selbst- und Sendungsbewusstsein prophezeite er bereits dreiundzwanzigjährig seine
Zukunft als „Dr. phil., jüdischer Philosoph und dereinst Professor in Jerusalem“.
Er studierte Mathematik, semitische Sprachen und Philosophie, Hebräisch und Aramäisch
an den Universitäten Berlin, Jena, Bern und München, und seine Freundschaft mit Walter
Benjamin prägte ihn tief. Schon für den Vierzehnjährigen mit seinem Durst nach jüdischem
Wissen war die Geschichte der Juden (Heinrich Graetz) ein Erweckungserlebnis und motivierte
ihn zum Studium der hebräischen Sprache. Sein Selbstverständnis als Historiker bestimmte
auch seine Erforschung der biblischen und nachbiblischen Urquellen und seine Hinwendung
zum Kulturzionismus. Er legte sich eine betont jüdische Identität zu, und auch später
verwarf er als Gesellschaftskritiker die „deutsch-jüdische Symbiose“ vehement als
Selbsttäuschung und Selbstbetrug. 1922 wurde er an der Münchner Universität mit seiner
Dissertation über das frühkabbalistische Sefer ha-Bahir („Buch des Glanzes“) promoviert und begründete in der Folge eine neue akademische
Disziplin, die philologisch-historische Erforschung der jüdischen Mystik, die auch
die jüdische Identität erneuern sollte. Nach seiner Tätigkeit als Bibliothekar in
Jerusalem lehrte er nach der Eröffnung der Hebräischen Universität im April 1925 jüdische
Mystik, wo 1933 eine Professur für ihn geschaffen wurde. Das achte Kapitel von Gellers
Studie schildert kenntnisreich das Leben im Palästina der dreißiger Jahre: die Einwanderungswellen
(„Alijot“), die verschiedenen zionistischen Strömungen, die Konflikte zwischen Arabern
und Juden und die paramilitärischen Untergrundbewegungen. Gleichzeitig streift der
Autor Scholems Studien über die mystischen Hauptströmungen, über die Lurianische Kabbala,
den Sabbatianismus und den Chassidismus. Die Verbindungen zu Walter Benjamin und Hannah
Arendt werden am Rande erwähnt, ebenso wie die Freundschaft mit dem Philosophen und
Universitätsrektor Hugo Bergmann (1883–1975), der nach seiner Scheidung Gershoms erste
Frau Escha Burchardt (1896–1978) heiratete, während dieser seine junge Studentin Fania
Freud (1909–1999) zur Frau nahm. Schon in München war er einer Verwandten begegnet,
einer Nichte von Sigmund Freud, der hochbegabten Kinderbuch-Künstlerin Tom Seidmann-Freud
(1892–1930). So ergeben sich noch weitere Forschungsdesiderate wie z. B. die Beziehung
zwischen Scholem und der Freud-Familie.
Das Buch Die Scholems schließt mit dem großen Zäsur 1945, das Gershom Scholem dazu bewegt, jüdische Bücher
und Bibliotheken in der Tschechoslowakei und dem besetzten Deutschland zu retten und
sich für Dialog und Versöhnung in Europa einzusetzen. Im Alter von vierundachtzig
Jahren starb er am 21. Februar 1982 in Jerusalem.
Detailreich vermittelt Jay Geller die Familiengeschichte der Scholems vor dem Hintergrund
ihrer Zeitgeschichte in ihren verschiedenen Phasen in Deutschland und Palästina/Israel.
Der Anhang von 132 Seiten belegt ein gründliches Studium der wissenschaftlichen Literatur.
Die Lektüre ist leicht, doch hätte das Buch an Anschaulichkeit gewonnen, wenn mehr
Zitate von Gershom Scholem aus seiner Korrespondenz mit Betty, Benjamin, Arendt und
seinen Memoiren eingeflossen wären. Seine Autobiografie Von Berlin nach Jerusalem, dem Andenken seines Bruders Werner gewidmet, erschien 1977 im deutschen Original.
1982 (dt. 1977) folgte eine erweiterte hebräische Neufassung für die israelische Leserschaft
und zeigte im resignierten Rückblick des Alters veränderte Perspektiven, nicht zuletzt
auf den Zionismus. Als brillanter Stilist erzählt Gershom Scholem, nicht ohne Humor
und Ironie, von den Wegen jener schlesischen Judenfamilie, die in die Berliner Großstadt
zog und ihn unwiderruflich zu seinem Lebensziel nach Jerusalem bewegte, und so beendete
er seine Jugenderinnerungen 1977 mit dem Satz: „So kam Lenchen auf das Land.“2
Anmerkungen
-
Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 59.⬑
-
Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 220.⬑
Literatur
Scholem, Gershom. Von Berlin nach Jerusalem: Jugenderinnerungen. Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1977.