Maren R. Niehoff. Judentum und Hellenismus: Lucas-Preis 2022. Herausgegeben von Birgit Weyel. Übersetzungen von Daniel Schumann und Matthew Chaldekas. Mohr Siebeck, 2024. 122 S., EUR 29, ISBN 978-3-16-163536-6
Universität Regensburg
Mit einer Reise durch die Biographie und das Werk des Rabbiners und Gelehrten Dr. Leopold Lucas (1872 Marburg an der Lahn – 1943 KZ Theresienstadt) beginnt das Buch von Maren R. Niehoff über die fruchtbare Begegnung von Judentum und Hellenismus, einem dynamisch sich wandelnden Austauschprozess. Und in der Tat ist eine Reise durch Lucas’ Biographie und Werk die beste Einführung in das wissenschaftliche Werk der mit dem Lucas-Preis ausgezeichneten Judaistin und Literaturwissenschaftlerin Niehoff (Max Cooper Professorin an der Humanistischen Fakultät der Hebräischen Universität in Jerusalem). Nicht nur, weil es um die Entwicklung und Pluralität des Judentums, sondern auch um die Entfaltung des Antisemitismus in Deutschland geht. Nachdem die Autorin die vielfältige Rezeption des Werks von Lucas über das Judentum in Deutschland und in Israel (laut Gershom Scholem ein passiver Beitrag ohne die Besonderheit der jüdischen Mystik zu berücksichtigen) dargestellt hat, setzt sie ihr eigenes Zeichen in den Jewish Studies, indem sie den Versuch unternimmt, die deutsche Forschung mit der Judaistik in Israel auf der Grundlage antiker jüdischer Quellen zu verknüpfen.
Im Zentrum der kreativen Begegnung des Judentums mit der Hellenisierung habe laut Niehoff die Schirmherrschaft Alexanders des Großen und seiner Nachfolger gestanden, als Griechisch die liturgische Sprache des hellenistischen Judentums war. Das hellenistische Judentum sei ein „Vorbild für jüdische Gemeinden“ und habe selbst im modernen Staat Israel eine gewisse Rolle gespielt, wenn beispielsweise Ministerpräsident David Ben Gurion die hebräische Übersetzung der Werke von Philon forderte. Den Auftakt machte die Habilitation von Martin Hengel in Tübingen. Shaye Cohen kritisiert, dass Hengel den Gegensatz zwischen spiritueller christlicher Kirche und legalistischer Synagoge betonte. John Collins indessen habe den wesentlichen Unterschied der hellenistischen Wirkung auf die jüdische Diaspora einerseits und das Judentum in Palästina andererseits betont – eine Differenzierung, die bei Hengel unberücksichtigt geblieben sei. Außerdem, so Niehoff, würden bei Hengel die Hauptvertreter des hellenistischen Judentums kaum namentlich erwähnt.
Wegen der Hybridität des Hellenismus haben griechische Autoren der Kaiserzeit begonnen, ihre Werke in latinisiertem Griechisch zu verfassen. An dieser Stelle scheint mir sinnvoll klarzustellen, dass Flavius Josephus und Philon ihre Werke nicht ausschließlich in latinisiertem Griechisch verfassten. Das Studium der Gesetze gehörte nach Niehoff zum Kulturerbe aller Menschen im Römischen Reich und wurde sowohl im griechischsprachigen als auch im hebräischsprachigen Judentum gefördert. Auch die Erklärung des mosaischen Rechts sei von der bunten Vielfalt der griechisch-römischen Traditionen und Rechtsdiskurse geprägt worden. Im zweiten vorchristlichen Jahrhundert stehe eher das Dreieck Rom, Alexandria und Palästina im Vordergrund durch die intensiven Austauschprozesse mit dem Hellenismus, wie sich durch griechisches Vokabular der rabbinischen Literatur mit römischem Anstrich beweisen lasse. Sprachwissenschaftliche Befunde weisen auf die zunehmende Verdichtung von Austauschprozessen mit dem Hellenismus hin. Die Rabbiner hätten sich rein sprachlich als eine hellenistische Elite mit engen Kontakten zur griechisch-römischen Umwelt erwiesen.
Das Rätsel der heterogenen Rezeption der Alexanderlegende könne nicht nach ethnischen Kriterien entziffert werden, wie die Beispiele Eratosthenes, Lukian und Flavius Josephus beweisen. Ob Alexander der Große zu Recht in der Forschung als „Symbol der griechischen Identität“ (35) zu bewerten ist, erscheint mir fraglich. Ich meine, dass er in diesem Sinne begann, aber schnell zum Symbol des Kosmopolitismus oder zumindest der griechischen Bildung und Kultur wurde. Letztere gehörten der ganzen Welt an und überschritten die Grenzen Griechenlands, um das Ideal der Weltoffenheit von Athen im Epitaphios des Perikles (Thuk. II 38, 41) zu demonstrieren. Alexander der Große diente den zeitgenössischen Kaisern als Spiegel und avancierte zur spektakulären Figur und Allegorie für die Begegnung zwischen Judentum und Hellenismus. Jüdische Kreise von Alexandria sahen Alexander, den „brutalen Eroberer“, eher negativ. Philon stellte den makedonischen König als einen primitiven Herrscher dar. Er habe auf die platonische Dichotomie zwischen Intellekt und Körper fokussiert. Zu einer Hymne auf die „wahre“ Freiheit des Menschen und dessen moralische Überlegenheit entwickelte sich die philonische Bearbeitung einer bekannten Überlieferung über den Konflikt zwischen Alexander und Kalanus (Über die Freiheit jedes Tüchtigen). Der indische Gymnosophist und Repräsentant der „barbarischen Philosophie“ (Niehoff) wurde besonders vom kynischen Philosoph Onesicritus verehrt. Kalanus gehörte zur Tradition des Diogenes, des Gründers der kynischen Philosophie, der souverän und unkonventionell die absolute Autorität der politischen Herrscher bezweifelte. Die Hinzufügung eines langen Exkurses über die jüdische Gemeinde der Essener weist darauf hin, dass Philon auf die kulturelle Nähe zwischen Indern und Juden abzielte. Im Werk Legatio ad Gaium würden die jüdischen Abgesandten mit dem indischen Gymnosophist und Gaius Caligula mit Alexander identifiziert, um eine zweite aktuelle politische Botschaft zu übermitteln. Philon habe Alexander den Großen als Werkzeug des Hellenismus instrumentalisiert, um die unterschiedlichen Aspekte der jüdischen Identität hervorzuheben. Die Entwicklung der Alexanderlegenden von Josephus und von Philon seien diametral entgegengesetzt, weil sie deren politische Selbstpositionierung im Römischen Reich, deren persönliche Erfahrungen und die Schicksale beider Autoren wie auch die Alexanderverehrung der römischen Kaiser widerspiegeln. Die römischen Kaiser versuchten, Alexander zu imitieren. Plutarchs positives Alexander-Bild sei auch von seinem privilegierten Status am kaiserlichen Hof beeinflusst.
In quantitativer Hinsicht enthält die rabbinische Literatur Palästinas und der babylonische Talmud achtundachtzig Erwähnungen von „Alexandros dem Makedonier“, den Begründer des Hellenismus. Ergebnis des Alexanderkultes bei den Rabbinen der Spätantike sei auch der Alexanderroman im dritten und vierten Jahrhundert nach Chr. Im Jerusalemer Talmud erscheine Alexander laut Rabbi Yona als ein maßloser „Pantokrator“ im Vergleich mit der Allmacht des jüdischen Gottes. Rabbi Zeira habe griechische Ausdrücke ins Hebräische transkribiert, um die Bedeutung der Bibelexegese zu seiner Zeit zu verankern. Die rabbinische Legende in Genesis Rabbah und Levitikus Rabbah bietet einen weiteren Aspekt der Interpretation der Alexanderkultur, die Parallelitäten zum „Paradebeispiel der Herrschaft“ in der Alexanderbiographie von Plutarch aufweist. Ihre Lehre sei, Alexander solle sich auf die Mitte seines Reiches konzentrieren, um die Kontrolle behalten zu können. Die Interpretation der Geschichte über den Streit um einen gefundenen Schatz auf einem verkauften Grundstück, ein Rechtsfall, der Kaiser Hadrian beschäftigte, beweise, dass die Rabbinen in Genesis Rabbah als Rechtsexperten die Alexanderlegende dynamisch reinterpretiert haben, um den Herrscher zu belehren, während die Rabbinen in Levitikus Rabbah sie nicht berücksichtigt haben. Dies könnte nach Niehoff die Ursache der Ambiguität in Genesis Rabbah sein.
Das Römische Reich bot den idealen Schmelztiegel für eine endlose Fermentierung unterschiedlicher kultureller Einflüsse innerhalb des Dreiecks Alexandria, Rom und Palästina. Dies steht im Einklang mit den Vorzügen und Prinzipien der Forschung der Autorin, die für Toleranz und Inklusion statt Ausgrenzung plädiert. Als eine Schlüsselfigur sei Alexander der Große eine Inspirationsquelle für das Verschmelzen des hellenistischen und rabbinischen Judentums gewesen. Er symbolisiere das Individuum, das immer schaffte, seinen eigenen Weg im Labyrinth der historischen Entwicklungen zu finden und seine Identität zu definieren. In christlichen Kreisen habe die Alexanderlegende auch ihren Platz gefunden. Im Zusammenhang mit Daniels Prophetie erwähnte Origenes die politische Tradition der griechischsprachigen Juden, die dank eines Traums Alexanders eine privilegierte Stellung hatten. Der christliche Interpret der biblischen Texte habe das Christentum mit dieser politischen Alexanderlegende verbunden. Als Erben des Judentums konnten die Christen wegen ihrer besonderen Stellung im Römischen Reich nicht unterdrückt werden.
Matthew Chaldekas hat den englischsprachigen Vortrag ansprechend übersetzt. Der englische Text ist nicht immer mit der deutschen Übersetzung völlig identisch. In Einzelfällen gibt es Abweichungen vom Original. Bisweilen sind in der deutschen Übersetzung zusätzliche Elemente enthalten, die im englischen Original fehlen (78–79). Die Hinzufügungen liefern Klarstellungen und Details, die das Original bereichern. In einigen Fällen ist die englische Fassung jedoch prägnanter.
Die abschließende Rede von Birgit Weyel, Dekanin der Theologischen Fakultät, anlässlich der Verleihung des Lucas-Preises 2022 stellt die Geschichte dieser Initiative an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen dar. Maren Niehoff, so führt Weyel aus, sei mit diesem Preis wegen der Originalität und der Interdisziplinarität ihres Werks geehrt worden, ein Werk, das nicht die Exklusion, sondern die Toleranz und den Austausch bevorzuge. Leopold Lucas wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität im Jahr 1895 promoviert. Martin Hengel hatte seine Habilitation über Judentum und Hellenismus ebenfalls in Tübingen verfasst (1969). Damit nimmt die Universität Tübingen sowohl einen zentralen Platz im Schicksal von Lucas wie auch für die Entwicklung der Judaistik ein. An dieser Stelle sei auf die verheerenden Wirkungen des Antisemitismus und seiner Folgen während des Zweiten Weltkriegs verwiesen. Lucas verstarb infolge einer Lungenentzündung im KZ Theresienstadt im September 1943. Seine Frau Dorothea Lucas wurde im Oktober 1944 in Auschwitz ermordet. Weyel betont zu Recht, „wie sehr die christliche Theologie zum Antisemitismus beigetragen hat“ (109). Es ist angebracht, dass hier an die dunkle Vergangenheit der theologischen Fakultät der Universität Tübingen, die eine starke antisemitische Prägung hatte, heute erinnert wird. Es hat lange gedauert, bis man sich in Tübingen zu dieser Aufklärung durchringen konnte.