Julian Timm. Der erzählte Antisemitismus: Das Narrativ der ,Jüdischen Weltverschwörung‘ von seinen literarischen Ursprüngen bis heute. Wallstein, 2023. 431 S., EUR 39, ISBN 978-3-8353-5313-8, Open Access: https://doi.org/10.46500/83535313

Franka Marquardt 
Pädagogische Hochschule, Fachhochschule Nordwestschweiz
franka.marquardt@fhnw.ch

Julian Timms 2023 erschienene, aber bereits 2020 an der Universität Kassel verteidigte Dissertation Der erzählte Antisemitismus könnte aktueller nicht sein. Die Arbeit untersucht das Narrativ der ,Jüdischen Weltverschwörung‘, so der Untertitel, von John Retcliffe bis zur Reichsbürgerbewegung und damit die Vor- und Nachgeschichte der wohl wirkmächtigsten Variante dieses Mythos, der 1924 erschienenen Protokolle der Weisen von Zion. Im Vorwort der Studie liefert der Autor selbst nach, was die Brisanz seiner Arbeit seit ihrer Fertigstellung noch einmal erhöht: die „antisemitische[n] Verschwörungserzählungen“, die „nach Ausbruch von Covid-19 nur ein paar Wochen oder gar Tage auf sich warten“ liessen, die documenta fifteen im Sommer 2022 „mit eindeutig antisemitischen Elementen“, der Anschlag auf die Synagoge in Halle zu Jom Kippur 2019 sowie eben jene sog. Reichsbürgerbewegung, die erst in den letzten Jahren durch Polizeirazzien und Gerichtsprozesse ins allgemeine Bewusstsein gelangt ist (9 f.). Auf den grassierenden Antisemitismus, der sich seit Ausbruch des Gaza-Kriegs im Oktober 2023 weltweit wieder Bahn bricht, konnte Timm bei Erscheinen seines Buches noch nicht eingehen; vor diesem Hintergrund scheint seine Arbeit umso dringlicher.

Im Zentrum der Untersuchung steht eine Erzählung Herrmann Goedsches, besser bekannt unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe. Dessen kleine, nur rund 40 Seiten umfassende Schauergeschichte Auf dem Judenkirchhof in Prag erscheint innerhalb seines ersten Biarritz-Romans 1868, also am Vorabend der gesetzlichen Gleichstellung der Juden, und enthält nahezu alle Ingredienzen ,klassisch‘ antisemitischer Verschwörungstheorien. Wie Norman Cohen bereits 1967 gezeigt hat, kann der Judenkirchhof auch für die Protokolle der Weisen von Zion als „Vorform“ und „Grundlage“ gelten.1 Retcliffe werde aber dennoch, so Timms zentrale These, „in der Forschungsliteratur rund um die Protokolle […] schnell als trivialer Schriftsteller von Hintertreppenromanen abgetan, dessen Texten man sich auf Grund der schlechten literarischen Qualität stets nur in ein paar Zeilen“ widme (23). Die Studie nimmt sich vor, dies nun gründlich zu ändern.

Die gut 400 Seiten lange Arbeit gliedert sich in acht Hauptkapitel, die sich inhaltlich um fünf Aspekte gruppieren lassen. Die ersten beiden, zusammen bereits knapp ein Drittel der Studie umfassenden Kapitel sollen in guter Dissertationsmanier die methodischen Grundlagen legen, auf denen die Untersuchung aufbaut. Die Arbeit geht dabei von Anfang an aufs Ganze: Nach einem groben Abriss der Forschungsgeschichte zum Antisemitismus allgemein stellt sich Timm die Frage, „ob die hier eben vorgestellten Theorien sich auch auf den literaturwissenschaftlichen Bereich anwenden lassen“ (48). Dass dem so sei, belegt er im Wesentlichen anhand eines kurzen Überblicksaufsatzes von Mark H. Gelber (2016) sowie einigen wenigen Beiträgen aus dem von Klaus Michael Bogdal, Klaus Holz und Matthias N. Lorenz herausgegebenen Sammelband Literarischer Antisemitismus nach Ausschwitz (2007).2 Andere Arbeiten „aus dem literaturwissenschaftlichen Bereich“, vor allem solche, die sich konkreten Textauslegungen widmen, sucht man bei Timm vergebens. Weder Martin Gubsers frühe Untersuchung Literarischer Antisemitismus bei Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts noch Norbert Mecklenburgs Fontane-Studien, Yahya Elsaghes Analysen zu Thomas Mann oder Matthias N. Lorenz’ Arbeit zu Judendarstellungen und Ausschwitzdiskurs bei Martin Walser,3 um nur einige der wichtigsten Beiträge zu nennen, werden bei Timm auch nur aufgeführt, obwohl alle diese Schriftsteller auf die ein oder andere Weise auch bei ihm zur Sprache kommen.

So dringlich literaturwissenschaftliche Perspektiven innerhalb der Antisemitismusforschung nach wie vor sind, um Pionierarbeit handelt es sich bei diesem Zugang nicht. Warum es nach Timm „zunächst befremdlich wirken“ könnte, sich den Ursprüngen des Mythos einer ,jüdischen Weltverschwörung‘ „auf literaturwissenschaftlichem Wege zu nähern“ (16), bleibt daher unklar. Tatsächlich „befremdlich“ ist hingegen das recht schlichte Textverständnis, das dem langen Methodenkapitel zu Grunde zu liegen scheint. So fragt sich Timm etwa, ob wir bei der Beschäftigung mit literarischem Antisemitismus nicht vor „dem legitimatorischen Problem“ stünden, „es nicht mit unmittelbaren, ausschließlich wirklichkeitsreferenten Aussagen zu tun zu haben und somit vor der Frage, ob sich Antisemitismustheorien auch auf bewusst als Fiktion verfasste Texte (und andere Kunstwerke) anwenden lassen“. Anders offenbar als allen anderen Textsorten kann „fiktionale[n] literarische[n] Texte[n]“ nach Timm „nicht ohne weiteres bescheinigt werden […], eine dezidiert antisemitische Botschaft zu vermitteln, wie es etwa bei Propaganda der Fall ist“ (48 f.). Dass sich jedoch das ,Problem‘ der „Botschaft“ keineswegs nur bei der Deutung literarischer Texte stellt, dass es sich auch mit der ,Wirklichkeitsreferenz‘ von Sprache überhaupt etwas komplizierter verhält als hier dargestellt, und dass sich die Grenze zwischen ,fact‘ und ,fiction‘ wohl auch in der „Propaganda“ – um nur diese eine, besonders diffuse Textsorte zu nennen, die Timm der ,fiktionalen Literatur‘ hier gegenüberstellt – nicht ganz so einfach ziehen lässt, wäre aus genuin literaturwissenschaftlicher Perspektive an sich kaum eine Frage.

Im Anschluss daran geht Timm noch einen Schritt weiter und wendet sich gleichsam den letzten Dingen der Literaturwissenschaft zu. In etwas umständlich überschriebenen Unterkapiteln – „Die antisemitische Imago des fiktiven Juden“ (I.2), „Klar über Fiktion und über Tatsachen reden können“ (I.3), „Gegenständlichkeit fiktiver Dinge: Ontologische Bestimmungsversuche“ (I. 4) – geht es um nichts Geringeres als das Verhältnis von „Fiktion und Tatsachen“ (61), um die Notwendigkeit, einen Text „zu decodieren“, um ihn „zu verstehen“ (77), oder gar um „den ontologischen Status fiktionaler Orte und Personen“, die „nur in einer Diegese existieren und trotz aller in die reale Welt verweisenden Referenzen nicht in der realen Welt aufzufinden“ seien (75). Obwohl Timm die üblichen Verdächtigen der Kulturtheorie herbeizitiert, also etwa Sigmund Freud, Hannah Arendt, Theodor W. Adorno oder auch John Searle, kommt auch bei diesen Überlegungen nicht viel mehr als eine Reihe vorwissenschaftlicher Allgemeinplätze heraus. Dass beispielsweise „Bilder[] von etwas oder jemandem […] nie deckungsgleich mit der Realität“ (55), mithin „Fiktion und Tatsachen zwei unterschiedliche Dinge“ seien, auch wenn „Fiktion […] auf vielfältige Art und Weise mit der Wirklichkeit korrespondiert“ (61), dass es sich – auch sprachlich etwas sperrig – bei „Literatur […] um kulturelle Artefakte“ handle (59) oder „[u]nser Welt- und Selbstkonzept […] nicht nur rational, sondern auch stark emotional vorgeformt“ sei (83), helfen in dieser Form weder der Literaturwissenschaft noch der Antisemitismusforschung ernsthaft weiter. Vielmehr verheddert sich Timm selbst zunehmend im „ontologischen Status“ seines Gegenstands, wie sich an einer besonders seltsamen Entscheidung mit weitreichenden Folgen ablesen lässt: In der gesamten Arbeit will Timm „fiktionale[] Juden […] von real existierenden Jüd:innen“ stets durch Kursivierung unterscheiden (15, Anm. 4). Das ist sprach- und repräsentationstheoretisch allerdings leichter gesagt als getan ist, müsste eine solch reinliche Scheidung doch für schlichtweg alles gelten, was literarisch hervorgebracht wäre.

Nach knapp 130 Seiten stösst Timm dann zu den eigentlichen Textanalysen vor, die er in Anlehnung an einen Vorschlag Klaus Michael Bogdals in drei Kategorien einteilt. John Retcliffes handfest antisemitische Schauergeschichte gehört selbstverständlich zur „explizit und intendiert antisemitische[n] Literatur“,4 während Michael Endes Jugendbuch Der Wunschpunsch (1989) bei Timm für einen „fährlässigen oder unbewussten Gebrauch antisemitischer Elemente“ steht,5 Steven Soderberghs Film Kafka (1991), Walter Mehrings 1929 erschienenes Drama Der Kaufmann von Berlin und Umberto Ecos Roman Der Friedhof in Prag von 2011 schliesslich für „literarische Werke, die sich kritisch oder dekonstruktivistisch“, so Timm nach Bogdal, zur langen Geschichte der Judenfeindschaft verhalten (30 f.).6 Im achten und letzten Kapitel wechselt die Untersuchung noch einmal das Genre und stellt eine „literarische Reportage“ ins Zentrum. Anhand von Thomas Ginsberg Die Reise ins Reich – unter Reichsbürgern (2018) will Timm abschliessend zeigen, dass „[v]om Judenkirchhof bis heute […] das Narrativ der Jüdischen Weltverschwörung ungebrochen“ sei (408).

Kern- und Herzstück der Arbeit ist also die Untersuchung von Retcliffes Judenkirchhof, dem als „entscheidende[m] Knotenpunkt antisemitischer Fiktionskorpora“ (131) gleich drei Kapitel gewidmet sind. Für die Analyse wählt Timm eine eher ungewöhnliche Präsentationsform: Retcliffes an sich gut zugängliche Erzählung wird hier noch einmal vollständig abgedruckt und passagenweise kommentiert; der Text soll „in seiner Gänze dokumentiert“ werden, wobei „jede Wendung wissenschaftliche Aufmerksamkeit“ verdient habe (131). Das Verhältnis von Text zu Kommentarteil – nicht sehr viel mehr als 1:1 – lässt allerdings bereits ahnen, was die Lektüre schnell bestätigt: Statt wissenschaftlicher Kontextualisierungen und philologisch exakter Erläuterungen „jede[r] Wendung“ erhält man vorwiegend Inhaltsparaphrasen und freihändige Textkommentare. So bedarf es zum Beispiel keiner allzu subtilen Deutungsmanöver, um festzustellen, dass das „Motiv“ der aufgehäuften Grabsteine im Judenkirchhof „durchaus etwas Romantisches und Düsteres“ habe (138), „die Zeichnung des krankhaften Pförtners mit schwarzer Zunge und roten Augen“ dem „Stilelement des Morbiden“ zugeschlagen werden könne (139) oder die Wortwahl ,zetern‘ „nicht mit Würde assoziiert ist, sondern im Gegenteil mit einem unangenehmen Laut, welcher ungerechtfertigte Wut, Ärger und Unzufriedenheit ausdrückt“ (176). Anderes durchaus Interessantes und Erklärungsbedürftiges wird hingegen übergangen: Zur Funktion biblischer Reminiszenzen bei Retcliffe, etwa das goldene Kalb oder der brennende Dornbusch, merkt Timm lediglich an, dass sich „[b]iblische Anspielungen“ verschwörungstheoretisch „insofern“ besonders eigneten, „als sie einerseits seit Jahrhunderten allseits bekannt sind und anderseits ebenso lange hermeneutisch ausgelegt wurden“ (141). Dass im Judenkirchhof „historisch nur zum Teil belastbare[] Daten und Fakten“ (139) zu finden sind, wird zwar en passant festgestellt, aber nicht näher ausgewiesen, die Mischung aus beidem also auch nicht als Interpretationsaufgabe erkannt. Ebenso merkt Timm zwar an, dass das „Bild der schönen Jüdin“ auch bei Retcliffe „dem Bild des hässlichen Juden konträr gegenüber [sic]“ stehe (180), die antisemitischen und gendertheoretischen Traditionslinien, die sich in diesem kulturhistorisch sattsam belegten „Bild“ kreuzen, werden aber nicht einmal angedeutet, geschweige denn unter Einbezug einschlägiger Forschungsliteratur verfolgt.7 Nicht zuletzt das bemerkenswerte Detail, dass ausgerechnet die Karl-May-Gesellschaft Retcliffes Werke im Rahmen der „Bibliothek digitaler Reprints der klassischen Abenteuerliteratur“ ins Internet gestellt hat (132, Anm. 1), hätte im Rahmen einer Arbeit zur Reichweite vermeintlicher Trivialliteratur sicherlich mehr Aufmerksamkeit verdient als nur einen versteckten Hinweis in den Fussnoten. Auch angesichts der seltsamen Tatsache, dass bei Retcliffes Rabbinerverschwörung nur elf der Zwölf Stämme Israels hervortreten, fällt Timm nichts ein: Eine „sinnvolle Erklärung dafür“, dass der Stamm Gad übergangen wird, gebe „die Erzählung nicht her“ (225).

Was „die Erzählung“ in Timms Augen dann aber doch ,herzugeben‘ scheint, sind seltsam forcierte Aktualisierungen. In Anbetracht jener elf Unterwanderungspläne, die die Rabbiner bei Retcliffe schmieden, erstellt Timm eine Stichwortliste. Von „1. Börse“ bis „11. Presse“ will er sich „[b]ei der hermeneutischen Ausdeutung der einzelnen Punkte […] darauf beschränken, die jeweiligen Ausführungen auf ihre Aktualität hin lediglich zu illustrieren und damit gleichzeitig zu zeigen, wie die dahinterstehenden Narrative auch heute noch als Pseudoerklärungen für verschiedene Missstände dienen“ (201). So wird beispielsweise das Stichwort „Grossgrundbesitz“, den die Verschwörer „in die Hand Israels“ geben wollen (204), eher assoziativ mit Rainer Werner Fassbinders Die Stadt, der Müll und der Tod in Verbindung gebracht, mit einem Stück also, das in den 1980er Jahren im Mittelpunkt einer hitzigen Diskussion just zu dessen antisemitischem Gehalt stand, worauf Timm dann aber ausdrücklich nicht näher eingehen will (205). Zum Angriff auf christliche Kirchen und Schulen, wie sie Retcliffes Rabbiner planen, fallen Timm die Diskussionen um „das Auf- und Abhängen von Kruzifixen in Klassenzimmern“ ein, vor allem aber wie allgemein „wichtig“ es sei, mit der „alten Weitergabe von Erziehungsidealen zu brechen“ – vielleicht eher mit der Weitergabe von alten Erziehungsidealen? –, wie es ja auch „Theodor W. Adorno in seinem nicht hoch genug einzuschätzenden Rundfunkvortrag ,Erziehung nach Ausschwitz‘ sehr deutlich gemacht“ habe (209). Auch der Sprung vom Stichwort ,Militär‘ – im Judenkirchhof ruft der Stamm Isaschar zur Unterwanderung des „Militärstandes im Volk“ auf (230) – zu rechten Netzwerken in der Bundeswehr und dem Streit um die Wehrmachtsausstellung in den 1990er Jahren erscheint kaum zwingend und wird auch nicht näher erläutert, „illustriert“ laut Timm aber wohl auch ohne Erläuterung die „Aktualität“ auch dieses „Punkt[es]“ (212). Und so weiter. Ihrerseits ,illustriert‘ Timms Liste vor allem das Vorgehen der Studie besonders anschaulich: statt gründlichen Analysen liefert sie auf weite Strecken freie Assoziationen, statt philologischer Feinarbeit liest man viel Paraphrase, anstelle von Argumenten in solider Kenntnis der Forschungsliteratur werden angestrengt Brücken in die Gegenwart geschlagen, die Kontinuitäten suggerieren, aber nicht belegen. Die hehren Absichten sind erkennbar, die Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens bei dieser Vorgehensweise hingegen oft nicht.

So fördern auch die folgenden Kapitel, die Retcliffes Judenkirchhof in mehrfacher Hinsicht kontextualisieren wollen, im Ganzen wenig Neues zu Tage. Die selbstverständlich massiv antisemitischen Leselenkungen durch den Kommentarteil, wie sie bei einem Wiederabdruck 1924, also im Erscheinungsjahr der Protokolle, im Deutschen Volksverlag vorgenommen werden (Kap. III.2), überraschen nicht, schliesslich handelt es sich um den Haus- und Hofverlag Alfred Rosenbergs. Die traditionsreichen judenfeindlichen Versatzstücke, aus denen sich Retcliffes Geschichte insgesamt zusammensetzt, werden bei Timm identifiziert, aber nur oberflächlich kontextualisiert. Das Motiv der ,Rabbinerverschwörung‘ ist, wie Timm ausführt, bereits im 12. Jahrhundert belegt, die Ahasver-Legende mindestens seit 1602 (296), während der „Anti-Christ-Mythos“ sogar auf die neutestamentlichen Schriften zurückgeht, genauer gesagt auf 1. Joh 2,18, wobei es sich allerdings nicht, wie Timm angibt, um das Johannesevangelium (301), sondern um den 1. Johannesbrief handelt. Auch die Erkenntnis, dass „die Protokolle nicht ohne den Judenkirchhof erklärbar sind“, so die Überschrift des Kapitels V.4 (307), fügt dem Stand der Forschung seit Norman Cohen nichts Nennenswertes hinzu.

Umso gespannter ist man auf das VI. Kapitel der Arbeit, das allein mit Fragestellung und Textkorpus tatsächlich Neuland betritt. Michael Endes Wunschpunsch aus dem Wendejahr 1989 ist wie so viele Kinder- und Jugendbücher bislang kaum einmal Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen geworden und erst recht nicht ins Blickfeld der Antisemitismusforschung geraten (317). Zu zeigen, dass hier für beides durchaus Anschlussmöglichkeiten zu finden sind, ist ein grosses Verdienst der Arbeit. Allein die Idee birgt potenziell Sprengstoff, handelt es sich bei Michael Ende doch um den Autor gleich mehrerer Bestseller der deutschen Kinder- und Jugendliteratur: Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer, Momo und Die unendliche Geschichte stehen in jedem halbwegs gut sortierten Kinderzimmerregal. Mag Endes Silvestererzählung Der Wunschpunsch auch weniger bekannt sein, liessen sich nachgewiesene Spuren des Antisemitismus darin ja auch an die sehr aktuelle Diskussion um seine wohl berühmtesten, durch die Augsburger Puppenkiste ins kollektive deutschsprachige Gedächtnis gelangten Geschichten um Jim Knopf anschliessen, die soeben in einer von vermeintlich postkolonialem Ballast gereinigten Version erschienen sind.8 Auch für die literaturwissenschaftliche Antisemitismusforschung wäre es natürlich ein Gewinn, wenn einmal mehr die subtilen Wirkungsweisen der Judenfeindlichkeit an besonders versteckten und zudem besonders weit verbreiteten Stellen gezeigt werden könnten.

Seine steile These formuliert Timm zunächst angemessen vorsichtig in Frageform: „Der Wunschpunsch – eine Transformation des Judenkirchhofs?“ (Kap. VI). Im Raum stehen also nicht Spuren des Antisemitismus, wo man ihn bislang nicht vermutet hat, sondern sogar die Möglichkeit textgenetischer Abhängigkeiten. Einen reisserischen Kurzschluss von Endes letztem Buch auf den Autor insgesamt als ausgemachtem Antisemiten will Timm redlicherweise vermeiden. Nicht Ende selbst oder auch nur sein Gesamtwerk stehen hier zur Debatte, sondern „die vermutlich unbewusste Tradierung antisemitischer Stereotype und Narrative“, die es nun in seinem Silvestermärchen „aufzudecken“ gelte (315).

Im Rahmen dieses überzeugend abwägenden Vorgehens trägt Timm tatsächlich sehr bedenkenswerte Indizien zusammen: Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch, so der vollständige Titel, erzählt einmal mehr vom grundsätzlichen Kampf zwischen Gut und Böse und damit von einer Konstellation, die sich im Lauf der Kulturgeschichte einer judenfeindlichen Besetzung immer wieder nachdrücklich angeboten hat. Bei Ende erscheint das Böse in Gestalt des Zauberers Beelzebub Irrwitzer und seiner Tante, der Hexe Tyrannja Vamperl. Ihre Namen zeigen es bereits überdeutlich an: Irrwitzer und Vamperl sind des Teufels, der eine zudem ein ,mad scientist‘, die andere eine gleichsam blutsaugende Kapitalistin. Irrwitzers Physiognomie lässt in der Tat aufhorchen: Eine „Hakennase“, eine „Brille mit blitzenden Gläsern“ und abstehende Ohren (332, WP 9)9 gehören fraglos ins Arsenal antisemitischer ,Judenbilder‘.10 Dass Irrwitzer zudem, wenn auch unter vielem anderen, einen „Leitfaden für Brunnenvergiftungen“ im Bücherschrank stehen hat (WP, 24 f.), stellt in dieser Konstellation den wohl handfestesten Hinweis dar, dass Ende unter anderem auch in die Mottenkiste judenfeindlicher Mythen gegriffen hat. Wenn man sich die Belege im Kontext genauer anschaut, scheint es sich dabei um eine Art Beifang des grenzenlosen Mythensynkretismus zu handeln, aus dem der gesamte Wunschpunsch zusammengemischt ist: Vom Acheron über Pyriphlegeton bis zum Styx, von „Onkel Zerberus“ über Medusa bis Nero und Pluto, vom diffus sokratischen „Schierlingstee“ bis zum manifest orientalistischen Schlangenbeschwörer, vom biblischen „Sodom-und-Gomorra-Gymnasium“ bis zum zoroastrischen „Ahriman-College“ kommt bei Ende schliesslich alles vor (WP, 138, 82, 87, 101, 110, 78).

Auch Irrwitzers Tante Tyrannja lässt mindestens von Ferne Elemente antisemitischer Figurenzeichnungen beinahe buchstäblich anklingen: Sie ist „klein“ und „fett“, dazu „über und über mit Schmuck und Juwelen behängt, sogar ihre Zähne waren ganz aus Gold, mit blitzenden Brillanten als Plomben. […] Auf ihrem Kopf saß ein Hut von der Größe eines Autoreifens, an dessen Krempe hunderte von Geldstücken klimperten“ (338, WP, 69). ,Klein‘, ,fett‘ und geldgierig mit einem Hang, Reichtümer hemmungslos zur Schau zu stellen: Zumindest teilt Tyrannja Vamperl diese Eigenschaften mit zahlreichen antisemitisch gezeichneten Juden und gerade auch Jüdinnen der Literatur- und Kulturgeschichte.11 Ob das aber reicht, sie „ebenso wie Irrwitzter unzweifelhaft in eine[] Tradition antisemitischer Darstellungen“ einzureihen (339)? Dafür fehlt wohl doch noch ein etwas spezifischeres Detail, an dem sich ein eindeutig antisemitisches Vorzeichen festmachen liesse. Timm meint, dies in Tyrannjas Hexenhut gefunden zu haben. Dieser habe nämlich, so Timm, „eine nicht von der Hand zu weisende Ähnlichkeit mit den sog. Judenhüten […], die Juden auf mittelalterlichen Darstellungen als solche kennzeichneten. Dazu passt auch die angegebene Farbe: ,Schwefelgelb war nämlich ihre Lieblingsfarbe‘“ (338 f.; WP, 69).

Philologisch genau genommen, ist die Farbe des Hutes nun aber keineswegs ,angegeben‘, sie bildet im Text vielmehr eine Leerstelle. Zwar besteht Vamperls „Garderobe“ tatsächlich „aus einem schwefelgelben Abendkleid mit allerhand schwarzen Streifen, sodass sie wie eine überdimensionale Hornisse aussah“, zum Hut wird in diesem Zusammenhang aber gerade nichts Genaueres gesagt. Ausserdem lässt Timm beim Zitieren zwei entscheidende Details stillschweigend unter den Tisch fallen: Zum einen steht der nachgeschobene Satz zu Tyrannjas Farbvorlieben in Klammern, zum anderen ist das Pronomen darin kursiviert: „(Schwefelgelb war nämlich ihre Lieblingsfarbe)“ (WP, 69). Syntaktisch und graphisch korrespondiert die Angabe dadurch mit Irrwitzers kurz zuvor angegebener Lieblingsfarbe, die ebenfalls in Klammern eingeführt wird: „(Giftgrün war die Lieblingsfarbe des Geheimen Zauberrates)“ (WP, 9). Irrwitzers Farbvorliebe dient aber auch für Timm vor allem „zur atmosphärisch magischen Gestaltung des Wunschpunsches“ (334), die allerhöchstens, so könnte man seine Überlegungen weiterführen, über ihre teuflischen Assoziationen vermittelt von Ferne auch zur Farbpalette der Judenfeindschaft gehört. Wäre nun aber Tante Vamperls Hut tatsächlich gelb, würde er vom Erwartbaren, dem standardisiert schwarzen Hexenhut so auffällig und zudem in eine antisemitisch in der Tat stark belastete Richtung abweichen, dass damit das gesamte Eigenschaftsensemble der Hexe in ein anderes Licht gerückt würde. Mit einem auffällig gelben Hexenhut auf dem Kopf befände sich die einschlägig geschmückte Kapitalistin ja tatsächlich in der unmittelbaren Nähe der meist gelb gezeichneten Judenhüte auf mittelalterlichen Darstellungen. Dass der Wortlaut der Stelle dies aber eben nicht hergibt, erweist Timms Lektüre einmal mehr als ungenau und forciert, wodurch das Vertrauen in Vorgehen und Resultate weiterhin unnötig erschüttert wird.

Denn man könnte ja tatsächlich, wenn man nur subtiler und in Kenntnis der Forschungsliteratur argumentieren würde, den Punkt geltend machen: Der intrikate, inzwischen aber vollkommen verblasste Zusammenhang zwischen Juden- und Hexenhut lässt sich durchaus rekonstruieren, wie es etwa Naomi Lubrich akribisch getan hat.12 Weil er inzwischen aber eben so gänzlich verblasst ist, taugt er kaum dazu, jede Bilderbuchhexe als antisemitische Figurenzeichnung zu entlarven. Es gäbe jedoch durchaus Fragestellungen, in die sich auch diese Beobachtung einpassen liesse. Als Mosaikstein im Rahmen einer Studie zu standardisierten Figurationen ,des Bösen‘ und ihren Verquickungen mit der langen Geschichte der Judenfeindschaft etwa wären auch die antisemitischen Splitter in Endes Silvestergeschichte fraglos von Interesse. So könnte man mit Blick auf Timms an sich ja sehr interessante Entdeckungen bei Ende vielleicht sagen, dass die Arbeit hier zwar den richtigen Spürsinn erkennen lässt, aber die falschen Fragen stellt und dadurch zu zweifelhaften Ergebnissen kommt. Mit den durchaus anschlussfähigen Versatzstücken antisemitischer ,Judenbilder‘, die ihren Weg auch in Michael Endes umfassend mythensynkretistische Geschichte gefunden haben, werden Irrwitzer und Vamperl zwar gewiss nicht „als jüdische Figur gekennzeichnet“ (339), die langlebigen Residuen des Antisemitismus noch in ihrer blassesten Form aber selbst da sichtbar, wo man von einem insgesamt antisemitischen Gehalt des Textes redlicherweise nicht sprechen kann.

Seine an sich guten Ansätze unterläuft Timm auch sonst immer wieder durch methodische Sorg- und philologische Hemmungslosigkeit. Ähnlich assoziativ wie bei seinen Aktualisierungen in den Retcliffe-Kapiteln und genauso unpräzise wie seine Ausführungen zu Vamperls Hut geht er etwa bei der Ausdeutung des titelgebenden Adjektivs „satanarchäolügenialkohöllisch“ vor. Indem er vorausschickt, dass „die einzelnen Bestandteile“ dieses Wortes „[i]n der Konstellation mit dem Meta-Narrativ der Jüdischen Weltverschwörung […] durchaus antisemitisch“ seien (341), macht er sich eines klassischen Zirkelschlusses schuldig: Er setzt voraus, was erst noch zu beweisen wäre. Auch hier führt er seine Assoziationen in Form einer Stichwortliste auf, die als solche bereits oberflächlich angelegt ist und sich dann auch noch stellenweise als inhaltlich falsch erweist. Um nur die ersten drei Deutungsansätze zu zitieren:

– Satan: Die Juden sind des Teufels Kinder und praktizieren satanische Riten. (Luther)

– Anarchie: Die Juden planen jede Regierung zu stürzen oder zu unterwandern und die alte konservative Ordnung aufzuheben. (Protokolle)

– Archäologie: Der Plan ist so alt wie die Zwölf Stämme und der Ewige Jude. (Retcliffe) (341).

Wieder einmal verzichtet Timm auf präzise Belege, etwa für seine ja in der Tat aus der Geschichte der Judenfeindschaft herleitbare Verknüpfung der Juden mit dem Satan, wobei ihn seine lockeren Assoziationen rasch selbst in die Irre führen: Wäre er wenigstens seinem eigenen Stichwort „(Luther)“ genauer nachgegangen, hätte er schnell festgestellt, dass die Juden zwar auch bei Luther, zunächst aber beim neutestamentlichen Johannes „den Teufel zum Vater“ haben sollen (Joh 8,44). Diese „wahrscheinlich […] problematischste“ Stelle „im ganzen Johannesevangelium“13 lässt sich ohne eine gewissenhafte Rekonstruktion der vielen exegetischen Erklärungsversuche kaum recht einordnen. Es handelt sich hier fraglos um eine der Schlüsselstellen in der elenden Geschichte christlicher Judenfeindlichkeit, in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext aber vermutlich zunächst um eine Art innerjüdischer Polemik.14 Dass auch ,Anarchie‘ und ,jüdische Weltverschwörung‘ nicht recht zusammenpassen, mit Blick auf die Protokolle erst recht nicht, läge ohnehin auf der Hand, da Verschwörer ja eigentlich nie alle Herrschaft anarchisch abschaffen, sondern in aller Regel vielmehr an sich reissen wollen. Timms Assoziation der ,Archäologie‘ mit dem Stichwort „alt“ ist von vornherein zu unpräzise, um als Interpretationsansatz in Frage zu kommen. Da auch die knappen Hinweise zu potenziell antisemitischen Konnotaten der anderen Wortbestandteile – ,Lüge‘, ,genial‘, ,Alkohol‘ und ,Hölle‘ – nicht zu überzeugen vermögen, steht die abschliessende Behauptung, dass die „bisherige Analyse […] den Wunschpunsch als eine mit antisemitischen Stereotypen schwer belastete Erzählung“ ausweise (343), auf ausgesprochen tönernen Füssen.

Im nächsten Unterkapitel versucht Timm seine zentrale These vom Wunschpunsch als „Transformation“ des Judenkirchhof – ,Kontrafaktur‘ wäre vielleicht der bessere Begriff gewesen – durch eine synoptische Gegenüberstellung vermeintlich einschlägiger Stellen zu untermauern. Leider tritt die Dürftigkeit der Analogien dadurch nur umso deutlicher zu Tage. So lassen sich ein „Kirchhof“ (Retcliffe) und ein „Toter Park“ (Ende) kaum als zwingende Parallelstellen identifizieren, auch wenn sie beide gleichermassen von hohen Mauern umgeben sind, was ja in der architektonischen Natur der Sache liegt. Hier wie da, aber eben auch sonst sehr oft in der Schauerliteratur gibt es Geheimgänge, verschlossene Räume, labyrinthische Gassen, Untote und „weisse Gestalten“, zumal es sich bei Ende anders als bei Retcliffe nicht um verschwörerische Juden, sondern um „Bäume und malerische[] Buschgruppen“ handelt, die „dürre verkrümmte Äste in den Himmel“ recken (345). Auch die Mitternacht, fahles Licht oder der Topos des ,Lauschers an der Wand‘ sind viel zu weit verbreitet, als dass sich daraus plausible Abhängigkeitsverhältnisse konstruieren liessen.

Die interessante Spur, die Timm im Wunschpunsch fraglos aufgenommen hat, muss man also quasi ohne ihn weiterverfolgen. Dabei zeigt sich auch, dass seinem Suchraster zuweilen entgeht, was durchaus in den fraglichen Zusammenhang gehören könnte. Anders als Tyrannja Vamperl selbst trägt beispielsweise ihre „schöne Schwester“ einen Namen (WP, 78), der sich auf Judenfeindlichkeit hin zumindest einmal abklopfen liesse, immerhin war Lilith die erste Frau Adams, mit der jüdische Apokryphen und Legenden sich einen Reim auf die zwei Schöpfungsgeschichten zu machen versuchten, die im Ersten Buch Mose von der Erschaffung der Frau erzählen (Gen 1,27 und Gen 2,22). Timm verpasst auch die „schlemihlierten Ektoplasen“, die in dem wissenschaftsparodistischen Kauderwelsch versteckt sind, mit dem dem magischen Wunschpunsch seine Zauberkräfte zugesprochen werden sollen (WP, 148). Mit der Anspielung auf die Schlehmihl-Figur greift Ende immerhin einen ursprünglich aus dem Jiddischen stammenden Namen auf, der einen Pechvogel, aber auch ein Schlitzohr bezeichnet, was immer wieder auch antisemitisch gewendet worden ist.15 Ebenso liesse sich Tyrannjas „Hexwelsch“ (WP, 157) mit der Gaunersprache Rotwelsch in Verbindung bringen, die nicht nur, aber eben auch eine antisemitische Spur durch die Literatur- und Kulturgeschichte zieht.16 Sofern man Endes Namen auf ihre antisemitische Anschlussfähigkeit hin prüfen will, müsste man nicht nur ,die Bösen‘ genauer anschauen, bei denen es, wie gesehen, auf dieser Ebene nicht allzu viel zu holen gibt: Deutlich ,jüdischer‘ als „Tyrannja Vamperl“ oder „Beelzebub Irrwitzer“ sind die Namen ihrer beiden Gegenspieler konnotiert. Während der Rabe Jakob, wenn man so will, einen unmittelbar als jüdisch identifizierbaren Namen trägt, wird der tatsächliche Name des hochstapelnden Katers erst spät enthüllt. Als Sänger nennt sich der Kater zunächst Maurizio di Mauro, um sich erst nach einer ganzen Weile als „einfach bloß Moritz“ zu erkennen zu geben (WP, 134). Es wäre zumindest zu überlegen, ob das Spiel mit Echt- und Decknamen, erst recht in Zusammenhang mit einem ,wahren Jakob‘, nicht mit der Geschichte jüdischer Namensfluchten im 19. Jahrhundert in Verbindung zu bringen wäre; bei Dietz Bering liesse sich nachlesen, dass Moritz ein sehr häufig gewählter Fluchtname für Moses, den vielleicht ,jüdischsten‘ aller Vornamen war.17 Auch Irrwitzers Grossvater Belial müsste man in diesem Zusammenhang noch einmal genauer nachgehen; Timm tut es nicht, macht aus Endes biblisch-hebräischer Schreibweise aber aus unerfindlichen Gründen einen griechisch geschriebenen ,Beliar‘ (337, vgl. WP, 79).18

Im „Fazit“ des Wunschpunsch-Kapitels lässt schliesslich auch Timm selbst ein gewisses Unbehagen an seinen Ergebnissen erkennen. Zum Schluss will er es lieber „offen“ lassen, ob „nicht doch von einem antisemitischen Gesamtkonzept der Erzählung gesprochen werden kann“ (357). Zu Beginn klang es noch deutlich vollmundiger: Der Wunschpunsch sei mit seinen „nicht wenigen antisemitischen Stereotypen und Narrativen […] ohne Zweifel als eine Form des literarischen Antisemitismus“ anzusehen (317), Endes Märchen mithin „eine mit antisemitischen Stereotypen und kleineren Narrativen schwer belastete Erzählung“ (343). Auch diese widersprüchlichen Tonalitäten innerhalb der Studie tragen nicht zum Vertrauen in ihre Vorgehensweise bei.

Die letzten beiden Kapitel der Arbeit bestätigen dann noch einmal diesen durchzogenen Befund. Hier geht es zum einen um Soderberghs Film und zum anderen um Mehrings und Ecos Texte, die exemplarisch für einen, mit Bogdal „kritisch-dekonstruktivistischen“ Umgang mit der kulturgeschichtlichen Omnipräsenz des Antisemitismus untersucht werden. Die Beispiele sind an sich gut gewählt, kommt Retcliffes Judenkirchhof in allen drei Werken doch im- oder explizit vor. Aber auch hier bleibt das Fazit dünn und in Teilen auch fragwürdig: Zwar machten sich Soderbergh, Mehring und Eco, so Timm, „um die Dekonstruktion antisemitischer Stereotype verdient“, entkommen seiner Einschätzung nach einem grundsätzlichen Dilemma aber nicht: „Eine Gegenerzählung, die im Grunde das Narrativ einer Jüdischen Weltverschwörung brechen soll, aber immer noch mit Verschwörern arbeitet […], löst noch kein Konzept auf, dass eine Welt verschwörungsgeleitet denkt. Das Narrativ, dass die Welt von unbekannten Oberen gelenkt wird, bleibt bestehen“ (386). Wenn aber ,Dekonstruktion‘ und ,Bruch‘ ihrerseits als Fortsetzung des Kritisierten kritisiert werden, wird es für ,Gegenerzählungen‘ aller Art natürlich insgesamt eng.

Ganz zum Schluss, als sich Timm jener Reportage aus dem Inneren der Reichsbürgerbewegung zuwendet, räumt er selbst ein, sich damit „aus dem literaturwissenschaftlichen Forschungsfeld heraus“ zu bewegen (387). Auch wenn er dabei wohl eher den Gattungswechsel im Blick hat, scheint es ihm hier in der Tat gar nicht mehr um einen wissenschaftlichen Zugang zum Text zu gehen, sondern um vermeintlich „direkte Einblicke in die Kommunikationsstrategien“ der fraglichen Szene. Timm nimmt die Reportage für bare Münze und vertraut auf die Autorität der Zeugenschaft: Schliesslich reiste Ginsberg, so Timm, „auf viele Treffen der Gruppierungen und traf sich mit Akteuren“ (388) – das scheint ihm zu reichen. Entsprechend setzt sich das Kapitel einmal mehr aus langen Zitaten zusammen, die eher aneinandergereiht als analysiert werden. Timm will damit abschliessend zeigen, „wie verschwörungstheoretische Weltbilder die unterschiedlichsten Formen annehmen und ihnen dennoch eine Sache gemeinsam bleibt: erzählter Antisemitismus“ (388). Dass es von Retcliffe bis zu den Reichsbürgern zweifellos genau so ist, glaubt man sofort; wie und wo sich das aber genau zeigt, aus welchen spezifischen Quellen die Texte, Filme und Bilder dabei jeweils schöpfen, welche kulturhistorischen Kontinuitäten sich daran ablesen lassen und wo sich vermeintliche Anschlüsse diesen entgegegenstellen, kurz, in welchen diskursgeschichtlichen Rahmen diese „unterschiedlichsten Formen“ denn je zu stellen wären, bleibt auch am Ende der langen Untersuchung weitgehend offen.

Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass es Timm seinen potenziellen Kritikerinnen und Kritikern schlicht zu einfach macht. Immer wieder verschenkt er gute Beobachtungen, indem er ihren historischen Zusammenhängen und literarischen Verästelungen gar nicht oder philologisch nur ungenau nachgeht und so die Fragen nicht findet, auf die seine Entdeckungen die Antwort sein könnten. Während die Retcliffe-Kapitel vor allem bereits Bekanntes oder recht Offensichtliches zusammentragen, greift Timm im aufregendsten Kapitel der Arbeit zu unnötig brachialen Mitteln: Statt Kontexte zu Endes Wunschpunsch freizulegen, werden Kurzschlüsse produziert, statt mögliche Gegenargumente mitzubedenken, bleibt potenziell Einschlägiges aussen vor, statt Ambivalenz zu benennen, wird Eindeutigkeit auch gegen die Textevidenz erzwungen. So verdienstvoll jede Beschäftigung mit den vielfältigen Erscheinungsweisen des Antisemitismus fraglos ist und so drängend die Analyse judenfeindlicher Verschwörungsmythen gerade im Moment leider wieder wird, so dringend wäre ihre wissenschaftliche Unangreifbarkeit. In der vorliegenden Form tut Timms Arbeit dem Forschungsgebiet nur bedingt einen Gefallen.

Anmerkungen

  1. Cohn, Protokolle, 35. Vgl. Timm, Antisemitismus, 24.

  2. Gelber, „Literarischer Antisemitismus“; Bogdal u. a., Literarischer Antisemitismus.

  3. Vgl. Gubser, Literarischer Antisemitismus; Mecklenburg, Theodor Fontane; Elsaghe, Thomas Mann; Lorenz, Judendarstellung und Auschwitzdiskurs. – Einschlägige Beiträge von Elsaghe und Lorenz wären sogar in Timms Referenzband zu finden gewesen, vgl. Bogdal u. a., Literarischer Antisemitismus.

  4. Bogdal, „Literarischer Antisemitismus“, 7.

  5. Bogdal spricht von einem „,fahrlässige[n]’ (unbewusste[n] oder bewusste[n]) Gebrauch von Stereotypen“, Bogdal, „Literarischer Antisemitismus“, 7.

  6. Bogdal nennt die dritte Möglichkeit etwas genauer „das bewusste, dekonstruierende (riskante) Spiel mit dem antisemitischen Sprach- und Wissensrepertoire“, Bogdal, „Literarischer Antisemitismus“, 7.

  7. Vgl. z. B. Ludewig, Jüdinnen; Grözinger, Schöne Jüdin; grundlegend auch nach wie vor Krobb, Schöne Jüdin.

  8. Vgl. Wagner, „Jim Knopf“.

  9. Endes Wunschpunsch wird im Folgenden mit der Sigle WP im Fliesstext nachgewiesen, und zwar nach der mit der Erstausgabe, die Timm vorgelegen hat, seitenidentischen 12. Auflage von 2016.

  10. Vgl. z. B. Gilman u. a., Schejne Jid; Schäfer, Judenbilder; Rohrbacher, Schmidt, Judenbilder; zur Brille als stereotypem Accessoire des ,jüdischen Intellektuellen‘ vgl. Bering, Die Intellektuellen, 132.

  11. Zur Schau gestellte grosse Brillanten sind etwa bei Thomas Mann, vor allem im Frühwerk fast so etwas wie ein Erkennungsmerkmal assimilierter Jüdinnen, vgl. Elsaghe, Imaginäre Nation, 193 f.; Krobb, Schöne Jüdin, 229 f.; Fischer, Fin de siècle, 235 f.

  12. Vgl. Lubrich, „Jewish Pointed Cap“.

  13. Wengst, Johannesevangelium, Bd. 1, 336.

  14. Vgl. z. B. Rengstorf, von Kortzfleisch, Kirche und Synagoge, Bd. 1, 34–41.

  15. Vgl. z. B. Encyclopedia Judaica, Bd. 6, 1381, s.v. ,Folklore‘.

  16. Vgl. Girtler, Rotwelsch, 23–25.

  17. Vgl. Bering, Name als Stigma, 238.

  18. Vgl. Karlström, „Belial“.

Literatur

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