Federico Dal Bo. Jesus in the Latin Talmud: Judaism and Christianity during the Disputation of Paris in 1240 and Other Transcultural Issues. Brill, 2024. 320 S., EUR 154,00, ISBN: 978-90-04-70159-5
Universität Wien
1238 oder 1239 legte ein jüdischer Konvertit namens Nikolaus Donin Papst Gregor IX. 35 Punkte vor, die gegen den Talmud sprachen. Infolgedessen hielt man 1240 in Paris eine Disputation ab, in der Nikolaus Donin gegen und vier Rabbinen für den Talmud argumentierten. Eine Folge dieser Auseinandersetzung war die Erstellung einer Sammlung von Zitaten aus dem babylonischen Talmud (ca. 2000), die man in Latein übersetzte. Diese Sammlung, genannt Extractiones de Talmud, wurde nacheinander in zwei unterschiedlichen Versionen vorgelegt. In der früheren Version folgten die übersetzten Zitate der Einteilung des Talmuds, in der späteren Version wurden diese und weitere Zitate in dreizehn Kapitel geordnet, die überwiegend auf Nikolaus Donins Anklagepunkte zurückgehen. Diese sowie weitere Texte, die mittel- oder unmittelbar mit der Disputation in Zusammenhang stehen, wurden im Rahmen des Projektes The Latin Talmud (https://webs.uab.cat/lattal/) von einem internationalen Forschungsteam kritisch ediert. Als Teil dieses Teams legte Federico Dal Bo in den vergangenen Jahren zahlreiche Arbeiten dazu vor. In der vorliegenden Monografie führte er diese Arbeiten, ergänzt um die Forschung anderer, in einem Band zusammen (S. X). Die Monografie umfasst acht Kapitel, ergänzt um eine Einleitung, eine Conclusio, zwei Appendizes, eine Bibliografie sowie einen Index.
In der Einleitung versucht Dal Bo zunächst den Prozess der Verschriftlichung des Talmuds nachzuzeichnen, um im Anschluss darzulegen, wer auf welche Weise und zu welchem Zweck die unterschiedlichen Übersetzungen der Talmudzitate ins Lateinische vorgenommen haben könnte. In Kapitel 1 untersucht Dal Bo die Extractiones aus literaturwissenschaftlicher Perspektive und arbeitet aus, wie in diesen die Talmudzitate einer „Re-Textualisierung“ unterworfen wurden, die auf unterschiedliche theologische Voraussetzungen zurückging. In Kapitel 2 befasst Dal Bo sich mit der Art und Weise in der die lateinischen Übersetzungen die, polemisch erzählte, Familiengeschichte Jesu aus talmudischen Zitaten (re)konstruierten. Kapitel 3 widmet Dal Bo im Besonderen einem Text aus bSanhedrin 43a, aus dem man im Lauf der Geschichte immer wieder versucht hat Aussagen zum Prozess Jesu herauszulesen. In Kapitel 4 behandelt Dal Bo einen Text aus bGittin 56b–57a, der von einer Bestrafung Jesu in der Hölle handelt, sowie neueste Forschungen dazu. In Kapitel 5 zeigt Dal Bo, wie man auf Seiten der Christen mit der Tatsache umging, dass der babylonische Talmud nicht nur in Hebräisch, sondern auch in Aramäisch abgefasst ist. In Kapitel 6 zeichnet Dal Bo nach, wie genau der berühmteste, jüdische Kommentator von Bibel und Talmud, Rabbi Salomo ben Isaak (Raschi, 1040-1105) über Spezifika seiner Zeit Bescheid wusste und wie sich dieses Wissen in den Extractiones widerspiegelt. Kapitel 7 widmet Dal Bo drei Talmudstellen, die sich mit der Figur des Engels Metatron befassen. Anhand dieser Textstellen zeichnet er nach, wie die Rabbinen auf die mystischen und metaphysischen Ansätze der Spätantike eingingen und wie man in den lateinischen Übersetzungen diesen Diskurs nachvollzog, ohne dabei den Diskurs unter den rabbinischen Gelehrten der eigenen Zeit (Tosafisten) zu kennen. In Kapitel 8 untersucht Dal Bo die lateinische Übersetzung eines kurzen Talmudkommentars von Raschi. Nach Dal Bo übertrug der lateinische Übersetzer das, was Raschi nur indirekt formuliert hatte, in klare Worte.
Dal Bos Ausführungen spiegeln sein umfassendes Wissen von der und über die jüdische und christliche Literatur ebenso wider wie seine außergewöhnlichen philologischen Kenntnisse. Aus einer Fülle von Quellen und Sekundärliteratur arbeitet Dal Bo sich zu Schlussfolgerungen vor, die facettenreich und komplex sind und in jedem einzelnen Fall zum Nachdenken anregen. Das folgende Beispiel steht in dieser Hinsicht stellvertretend für den gesamten Text:1
In Kapitel 3 analysiert Dal Bo einen Text aus bSanhedrin 43a. In diesem Text wurde der hebräische Ausdruck קרוב למלכות (qarov le-malkhut) auf Jesus bezogen (145). Dal Bos englische Übersetzung des Talmudtextes lautet: „he [had] close [ties] with the government.” In einer Fußnote ergänzt Dal Bo dazu „the Roman government”, hält aber auch fest, dass das hebräische Wort malkhut „literally: royalty“ meint (147). In den Extractiones wurde die hebräische Textstelle mit „consanguineus erat regni“ (145) übersetzt, was Dal Bo mit „[Jesus] was blood-related to the Kingdom“ (147) wiedergibt.
Talmudkommentare und -übersetzungen beziehen, wie Dal Bo in seiner Fußnote anmerkt, den Terminus malkhut an dieser Stelle üblicherweise auf die römische Regierung. Im Text selbst ist diese Präzisierung allerdings nicht enthalten. Sie findet sich auch in der Übersetzung der Extractiones nicht. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass das hebräische Wort qarov doppeldeutig ist. Es kann bedeuten, dass man jemandem/etwas auf eine unbestimmte Weise nahesteht, es kann aber auch bedeuten, dass man mit jemandem verwandt ist. Der/Die lateinischen Übersetzer entschieden sich offensichtlich für die zweite Variante. Indem man eine der möglichen Übersetzungen der anderen vorzog, wollte man den hebräischen Text sicherlich auf eine bestimmte Weise interpretieren. Aufgrund der Kürze und Unbestimmtheit des Textes kann allerdings nur darüber spekuliert werden, auf wen die Leserschaft des Textes die Verwandtschaft hätte beziehen sollen. Nach einer umfassenden Analyse (127–154), formuliert Dal Bo die folgenden Schlussfolgerungen:
Jesus’s “closeness” to the Roman Empire is rendered with a particularly suggestive translation: consanguineus erat regni (“he was related to the kingdom by blood”). While the Hebrew describes Jesus’s relationship to the Roman Empire in almost neutral terms, suggesting that he was “near”, the Latin translator emphasizes Jesus’s relationship by adding a specific, morbid connotation: Jesus was “related by blood” to the Roman Empire. This is, of course, a rhetorical exaggeration intended to exaggerate Jesus’s connections, but one cannot help noticing how disturbing this metaphor of consanguinity is, since it implies that Jesus was “related” to the Roman Empire, and yet this relationship did not spare his “blood” from being shed. Therefore, the Latin translator’s decision to render the simple Hebrew expression “near” with the more emphatic Latin expression “blood-related to” may also be hiding some sarcastic undertone – a kind of dark “inside joke” that also proves how cruel and ruthless the Roman Empire was, even towards its “blood relations,” since Jesus was believed to be the son of a Roman soldier.2 It is also possible that the Latin translator wanted to emphasize the special connection between Jesus and the later Christian Roman Empire and, by implication, the Roman Catholic Church. With respect to this possible interpretation, the present passage from the Talmud would prove the perennial hostility of the Jews to Christianity – in any of its historical representations – as well as a remarkable difference between the Gospel and the Talmudic narrative: whereas the Gospels do not claim Jesus’s blood relations with the Romans, the Talmud apparently does. This historiographical claim would have sounded quite ridiculous to the Christian reader approaching the Extractiones de Talmud, and would then have served to prove the point – the absurd nature of the Talmud. (154)
Dal Bos Annahmen und Schlussfolgerungen sind weitreichend. Sie umfassen nicht nur mehrere, sehr komplexe, Erklärungen für die Wortwahl der lateinischen Übersetzung, sondern versuchen auch die emotionalen Beweggründe für diese Wortwahl zu erhellen. Die Komplexität von Dal Bos Analyse und seiner Schlussfolgerungen ist faszinierend. Zugleich führt diese Komplexität aber auch zu der Frage, ob man diese von Seiten der Christen tatsächlich beabsichtigte. Im Hinblick auf die Anforderungen derer, die die Übersetzungen angeordnet hatten, stellt Dal Bo andernorts fest:
In fact, the need to “clarify” any “complicated” text in the Talmud – whenever it dealt with cultic, religious, magical or polemical issues – was not simply linguistic, but theological-political. The ecclesiastical authorities in Paris, on behalf of the Church of Rome, demanded that these enigmatic, almost secret texts be clarified and made explicit. Therefore, every relevant text – regardless of its length – should have been translated into Latin and clarified. (270)
Wenn dem so war, weshalb erleichterte man den Lesern der lateinischen Texte das Nachvollziehen der Gedankengänge zum Sanhedrintext dann nicht, indem man dem Wort regnum die Erklärung romanum hinzufügte? Klarstellungen dieser Art, z. B. mit id est eingeführt, finden sich in den Extractiones häufig. Mit der Übersetzung des Wortes qarov durch consanguineus legte man ein bestimmtes Verständnis des hebräischen Begriffes fest. Mit der Übersetzung des hebräischen Terminus malkhut durch regnum tat man das jedoch nicht. Warum?
Für das Hebräische verweist Dal Bo darauf, dass der Terminus sowohl „government“ wie „royalty“ bedeuten konnte. Diesen beiden Möglichkeiten entspricht das lateinische regnum. Dass Dal Bo sich der Zweideutigkeit des Begriffes bewusst ist, zeigt sich in seinem Text darin, dass er ihn zunächst mit „kingdom“ übersetzt, danach aber mit „empire“, genauer gesagt mit „Roman Empire“. Würde Dal Bo statt vom „Roman Empire“ von einem, nicht näher bestimmbaren, „kingdom“ sprechen, könnte er nicht schreiben, dass der Text so verstanden werden könnte, als wäre Jesus durch seinen angeblichen Vater, einen römischen Soldaten, mit dem „Roman Empire“ verbunden gewesen oder spekulieren, dass man damit eventuell auf die besondere Beziehung von Jesus zum „later Christian Roman Empire“, sprich, die römisch-katholische Kirche, anspielen wollte. Anders als Dal Bo ließ der lateinische Text durch seine Wortwahl offen, von welcher Art regnum der Talmud sprach. Aufgrund der Mehrdeutigkeit des hebräischen Begriffs qarov, der nicht ausdrücklich genannten Römer sowie der nicht näher definierten Art der „Herrschaft“ hätten deshalb die Leser den talmudischen Satz auch so verstehen können, wie es nur wenige Zeit später Raimund Martini tat. In seiner Übersetzung aus dem Hebräischen entschied er sich für zwei mehrdeutige Begriffe, die er dann aber eindeutig erklärte: Dominus Iesus erat propinquus [nahestehend/verwandt] regni [Königtum/Regierung]; quod idem est dictum, quod esse de semine David.3 „Der Herr Jesus stand dem Königtum nahe; was dasselbe ist [wie] zu sagen, dass er aus dem Samen Davids stammt.“ Hätte man bei der Übersetzung der Extractiones so komplex gedacht, wie Dal Bo annimmt und gewollt, dass die Leser den besprochenen Satz so verstehen, wie Dal Bo vorschlägt, wäre man sich dann nicht auch bewusst gewesen, dass die Übersetzung so wie die des Raimund Martini verstanden werden konnte?
Dal Bos Buch enthält eine Fülle von Schlussfolgerungen, wie die oben zitierten, die alle auf umfassende Analysen zurückgehen. Schlussfolgerungen wie Analysen regen in jedem einzelnen Fall sowohl zum Nachdenken als auch zum Weiterforschen an. Dem interessierten Publikum wird Dal Bos Buch deshalb als ausgezeichneter Ausgangspunkt für zukünftige Forschungen dienen.
Siehe dazu auch ausführlicher in Ursula Ragacs, “Lost in Translation? – Example(s) from Paris 1240 and Beyond”. In Christian Readings of Rabbinic Sources in Medieval Polemic, herausgegeben von Alexander Fidora und Matthias Lutz-Bachmann, 11–21. Mohr Siebeck, 2024.⬑
Wie in Kapitel 2 zur Familiengeschichte Jesu dargestellt.⬑
Raimundi Martini, Capistrum Iudaeorum II: Texto crítico y traducción, ed. Adolfo Robles Sierra, Würzburg/Altenberge, 1993, S. 116.⬑