1 Einleitung
Dem jüdischen Denken sind das Sprechen und das gemeinsame Sprechen besonders wichtig,
insofern man der Argumentation von Jacques Derrida in Die Stimme und das Phänomen (2015) folgt. Das Judentum, so auch Gershom Scholem, hat einen zentralen Bezug zum
Gespräch, zur Schrift und ebenfalls zur Wörtlichkeit (Scholem, 2018: 28). Sprechen,
miteinander sprechen und über etwas sprechen hat sich nicht nur in der heutigen Zeit
immer wieder als thematischer Dauerbrenner in allen möglichen Ressorts und Disziplinen
erwiesen, sondern wird auch immer wieder zum Zankapfel in öffentlichen politischen
sowie wissenschaftlichen Diskursen.
In der vorliegenden Sammelrezension werden daher vier Bücher von zwei jüdischen Autoren
diskutiert, die sich genau mit dieser Thematik eingehend beschäftigen. Aus ihrer jeweiligen
Position sprechen Omri Boehm in Israel: Eine Utopie (2023a) und Meron Mendel Über Israel reden: Eine deutsche Debatte (2023) über Israel. Die Titel liefern bei beiden Büchern das Programm. Dabei werden
kritische Positionen gegenüber Israel bezogen. Hierzu meint Boehm: «Die Weigerung,
die Wahrheit über jemanden oder zu jemandem zu sagen, ist gleichbedeutend mit der
Weigerung, einen echten Dialog mit ihm zu führen» (Boehm, 2023a: 23). Als Juden auch
kritisch über Israel zu sprechen ist daher eine besondere Aufgabe, so scheint es zumindest
aus der Sicht der beiden jüdischen Autoren. Und dennoch soll ebenfalls festgehalten
werden: «Betroffene haben nicht immer recht» (Cheema & Mendel, 2024: 19). Viel eher
ist nur im gemeinsamen Dialog das zu finden, was tatsächlich als Kommunikation verstanden werden kann, indem die unterschiedlichen Seiten sich gegenseitig um Verständnis
bemühen, sich zuhören und aufeinander antworten, anstatt aneinander vorbeizureden.
Passende Beispiele, wie eine solche Kommunikation gelingt, liefern hierfür die zwei
anderen Werke, die ebenfalls besprochen werden sollen. In Der bestirnte Himmel über mir: Ein Gespräch über Kant (2024) diskutieren Omri Boehm und Daniel Kehlmann auf Basis Kants berühmter Fragen
der Philosophie: Was ist der Mensch? Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Worauf
können wir hoffen? Nicht nur die gemeinsame Kantlektüre zeigt die Bemühung um das
gegenseitige Verständnis, sondern auch die Bemühung, Immanuel Kant selbst zu verstehen
und den Philosophen aus Königsberg für die heutige Welt anschlussfähig zu machen,
ohne sich ihm dabei unkritisch auszuliefern. Auch Kant ist also kritisch zu prüfen.
Auch er besitzt keine unanfechtbare Autorität. So schreibt Boehm: «In der hebräischen
Bibel beweisen die Propheten ihre Tugend, der Macht die Wahrheit zu sagen, nicht gegenüber
einem irdischen König, sondern gegenüber Gott» (Boehm, 2023a: 15). Und weiter: «Das
innere Bekenntnis, das man auf diese Weise entdeckt, das vorrangige persönliche philosophische
Bekenntnis ist das zum Humanismus» (Boehm & Kehlmann, 2024: 20f).
Auch Meron Mendel tritt in Dialog mit seiner Frau Saba-Nur Cheema im Werk Muslimisch jüdisches Abendbrot: Das Miteinander in Zeiten der Polarisierung (2024). Eine muslimisch-jüdische Familie in Deutschland sitzt nicht nur zwischen
verhärteten politischen und gesellschaftlichen Fronten, sondern steht auch im Alltag
unterschiedlichen Herausforderungen gegenüber. Hierbei bedarf es der Umsicht und der
reflektierten Differenzierung. «Es ist wohl die Überzeugung jeder politischen Gruppe,
auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen» (Mendel, 2023: 114). In solche Fallen
tappt man nur allzu schnell.
Was es also bedeutet, über etwas zu sprechen und mit jemandem zu sprechen, soll in
dieser Sammelrezension anhand dieser beiden jüdischen Autoren beleuchtet werden.
2 Über etwas sprechen
Über etwas zu sprechen bedeutet, dass man einen Sachverhalt aus einer Perspektive
heraus betrachtet und darüber in Aussagesätzen unterschiedliche Urteile im Sinne von
«x ist der Fall» äussert. Das Urteil ist somit das kleinste Element eines jeglichen
Sprechaktes über etwas. Das Sprechen und Aussprechen sind dabei nicht einfach eine
Abbildung des gegebenen Sachverhaltes, wie es lange in der europäischen Philosophie
vertreten wurde. Vielmehr kann das Sprechen selbst als eine Form von Handlung verstanden
werden (Austin, 2014). Mit dem Aussprechen geschieht indes auch etwas mit dem Sachverhalt.
Er beugt sich nicht nur dem sprachlichen Medium und dessen vorgegebenen Strukturen
(man kann nicht alles aussprechen, geschweige denn in jeder beliebigen Sprache abbilden).
Vielmehr sind ebenfalls die einzelnen Urteile wiederum selbst inferentiell gegliedert.
Das impliziert, dass die einzelnen Urteile in ein Netz von weiteren Prämissen und
Konklusionen eingebettet sind (Brandom, 2016: 26). Urteile über Sachverhalte stehen
nicht für sich allein da, sondern können nur in Zusammenhang begriffen und begründet
werden.
Man legt sich folglich nicht nur auf das ausgesprochene Urteil fest, sondern anerkennt
auch die möglichen Prämissen und Konklusionen, die damit zusammenhängen. Im Sinne
der Sprechakttheorie folgt daraus ebenfalls, dass das Urteilen darauf hinweist, etwas
aus einer Position sagen zu wollen (Illokution) und mit dem Gesagten etwas zu bewirken,
also über etwas zu urteilen und dies an die anderen weiterzugeben (Perlokution).
Seit dem 7. Oktober 2023 ist Israel zunehmend wieder ein prominentes Thema in öffentlichen politischen und wissenschaftlichen
Diskursen. Innerhalb demokratischer und nicht-demokratischer Gesellschaften werden
Urteile darüber gefällt, was in Israel und Palästina sowie den angrenzenden Ländern
(inkl. Iran, Libanon, Syrien und Jemen) geschieht und wie dies alles moralisch zu
bewerten sei. Nach der berühmten Formulierung von Paul Watzlawick kann man nicht nicht kommunizieren. Also wird auch ein Schweigen oder eine Verweigerung an der öffentlichen
Diskussion als eine Position gedeutet. Auch sie impliziert Urteile sowie illokutionäre
und perlokutionäre Elemente. «Man kann sich [daher] der impliziten Erwartung, eine
Seite einzunehmen und sich zu äussern, kaum entziehen» (Cheema & Mendel, 2024: 171).
Auch wenn Saba-Nur Cheema und Meron Mendel umsichtig darauf hinweisen, dass zur selben
Zeit im Jemen, im Sudan, im Südsudan, im Kongo und anderen Ländern sowie Regionen
der Welt ebenfalls beachtenswerte Gewalttaten stattfinden, ist der Konflikt zwischen
Israel und den umliegenden Staaten und anderen Gebieten in den Medien besonders präsent.
Die internationale und mediale Aufmerksamkeit rührt unter anderem daher, dass dieses
geografische Gebiet das Zentrum dreier Weltreligionen ist, wodurch unterschiedliche
Interessensgruppen unweigerlich miteinander verflochten sind (Asseburg & Busse, 2024:
7). So scheint es zumindest auf den ersten Blick in den verschiedenen Diskursen, als
handele es sich primär um einen religiösen Konflikt. Es geht aber auch um Menschenrechte,
um den schon erwähnten Humanismus. Ebenfalls geht es um Macht, um politische Allianzen,
um Geld und natürliche Ressourcen – Aspekte die jedoch weitaus weniger mediale Aufmerksamkeit
erregen.
Dieser Konflikt stellt jedoch einen komplexen Sachverhalt dar, was bedeutet, dass
keine Perspektive alle möglichen Perspektiven überblicken kann und der Sachverhalt
selbst wiederum dynamischen Prozessen von realpolitischen Ereignissen unterworfen
ist (Rucker & Anhalt, 2017). Der besagte Konflikt kann daher nicht auf einzelne Regeln
oder Massnahmen reduziert werden, ohne die Komplexität aus den Augen zu verlieren.
Doch genau dies geschieht in den öffentlichen Diskursen. Man versucht, die Komplexität
dahingehend zu verringern, indem man eine spezifische Position bezieht und dabei die
Forderungen einzelner Angehöriger dieser Untergruppe als die einzig Richtigen vertritt.
So moniert bspw. Mendel: «Die leidenschaftlichsten Unterstützer der israelischen und
der palästinensischen Sache leben in Deutschland – aber die meisten von ihnen haben
nicht die leiseste Ahnung von der Situation vor Ort» (Mendel, 2023: 27).
Eine grundlegende Problematik findet sich schon darin, den Konflikt als Nahostkonflikt zu bezeichnen. Kern dieses Begriffes ist die Auseinandersetzung zwischen israelischen
und palästinensischen Gruppierungen (Asseburg & Busse, 2024: 10). Dies suggeriert,
dass andere Länder wie die Vereinigten Staaten von Amerika, Russland, Deutschland,
Grossbritannien, Frankreich etc. nicht auch wesentlich mitinvolviert wären. Hier werden
schon Reduktionen von Komplexität vorgenommen, bevor der Sachverhalt überhaupt erst
klar erfasst und definiert wurde.
Warum ist es also so schwer, fragen sich Omri Boehm und Daniel Kehlmann, über eine
bestimmte Sache zu sprechen (Boehm & Kehlmann, 2024: 17)? Die Schwierigkeit liegt
darin, dass Urteile an sich immer schon komplexitätsreduzierend und daher dem Sachverhalt
niemals vollständig angemessen sind. Vielmehr geht es demzufolge beim gelingenden
Sprechen über etwas darum, Gründe zu liefern, um zu zeigen, weshalb gerade ein solches
(weiteres) Urteil in die Diskussion eingespeist werden kann, oder warum dies eben
gerade nicht der Fall sein sollte.
Dies ist jedoch oft mühsam und umständlich, was dazu führt, dass man sich auf schon
vorgefertigte Positionen bezieht, um diesem Aufwand entgehen zu können. Man hält sich
dann, so weist auch schon der Philosoph Abu Nasr al Farabi darauf hin, aufgrund mangelnder
Begründungsfähigkeiten und Beweisführungen an Positionen und Sprecher*innen, die im
Diskurs schon eine Position bezogen haben und deren Urteile man persönlich auch ohne
grosse Denkbemühungen als überzeugend einschätzt (Rudolph, 2018: 33). Dabei wird das
Urteil anerkannt, ohne sich darüber Gedanken zu machen, dass das Urteil überhaupt
erst in der Debatte festgelegt und anerkannt werden muss und wie dies geschehen soll.
Lohnt es sich also, um dieser Gefahr zu entgehen, über komplexe Themen und Sachverhalte
zu schweigen? «Sich in diesem Fall eines Kommentars zu enthalten, wird von vielen
vor dem Hintergrund des Holocausts nur als angemessene Reaktion erscheinen», stellt
Boehm fest (Boehm, 2023a: 11). Aufgrund der deutschen Herkunft will sich beispielsweise
auch Jürgen Habermas nicht zur Politik Israels äussern. Sich aber eines Urteils zu
enthalten, findet Boehm jedoch problematisch, wird doch damit ein gemeinsamer rationaler
Diskurs (im Sinne von Habermas’ Theorie) schon von Beginn an unterbunden. Keine Kritik
an Israel üben zu wollen, würde bedeuten, den israelischen Staat nicht als Teil des
öffentlichen Diskurses über ethische und moralische Angelegenheiten ernst zu nehmen.
«Nur eine vernünftige Perspektive auf den jüdischen Staat in einer Öffentlichkeit,
die diesen Staat als normalen Gegenstand einer Debatte behandelt, kann den Antisemitismus
überwinden» (ebd.: 17).
Man sollte sich also Boehm zufolge über Israel äussern. Ein Schweigen würde bedeuten,
Israel aus dem moralischen, ethischen Diskurs zu verbannen. Sich über diesen komplexen
Sachverhalt zu äussern bedeutet aber, um es noch einmal zu erwähnen, dass die eigene
Perspektive zum Sachverhalt eben immer nur eine Perspektive unter anderen ist, welche alle anderen nicht miteinschliesst kann (Boehm
& Kehlmann, 2024: 32). Das artikulierte Urteil bildet daher nur einen Teil der Wahrheit.
So fällt beispielsweise sowohl bei Boehm als auch bei Mendel auf, dass sie selbst
nicht genau definieren, was überhaupt mit Israel gemeint ist. Wird damit ein Sachverhalt beschrieben, der sich funktional auf Gesetze,
politische Entscheidungen, Verfassungen, staatliche Gewalt etc. bezieht (Luhmann,
2024)? Oder meint man vielmehr ein soziologisch beschreibbares Feld, auf dem Politiker*innen,
Intellektuelle und Militärs sich je um Formen von Einfluss bemühen (Bourdieu, 2015)?
In den beiden Werken wird immer wieder unterschiedliches angedeutet. Manchmal wird
Israel als System und manchmal als Feld beschrieben. Hier lassen selbst Boehm und Mendel
Differenzierungen in ihren Urteilen vermissen.
Der allgemeine Diskurs erhält schliesslich zwei gegenläufige Tendenzen, die jedoch
darin übereinstimmen, dass sie beide darum bemüht sind, die Komplexität künstlich
zu verringern. Boehm hält über den innerisraelischen Diskurs fest: «Während demokratische
Vorstellungen für ein Israel jenseits der Zweistaatenlösung als eine Art antizionistischer
Verrat – buchstäblich als Landesverrat – wahrgenommen werden, können und wollen sich
liberale Zionisten nicht allzu explizit für Annexion, Apartheid oder Vertreibung aussprechen»
(Boehm, 2023a: 39). Hier ist Schweigen ein möglicher Umgang. Die Alternative besteht
darin, eben genau eine der komplexitätsreduzierenden Positionen einzunehmen und sich
nicht um angemessene Differenzierungen zu sorgen.
Wie ist damit umzugehen? Ein oft beschrittener Ausweg besteht darin, so scheint es
zumindest im herrschenden Diskurs gegeben zu sein, dass man sich darum bemüht, die
eigene Perspektive dahingehend zu relativieren, dass sie sensibel ist für die Perspektiven
anderer Parteien oder Auffassungen. Man orientiert sich folglich an den Perspektiven
und nicht an den Inhalten der Aussagen. «Gleichzeitig kann die Sensibilität aber dazu
führen, dass Differenzierungen verhindert werden» (Cheema & Mendel, 2024: 19). Wenn
beispielsweise anhand der Legitimierung der Perspektive von Betroffenen oder persönlichen
Befindlichkeiten Urteile gefällt werden, wird der Diskurs einer komplexen Angelegenheit
zwangsläufig nicht gerecht. «Wo der Kläger zum Richter wird, gibt es keine Gerechtigkeit»
(ebd.: 20). Die Position des Sprechakts (Illokution) wird dabei wichtiger als der
Inhalt (Lokution) des Ausgesprochenen und verhindert damit schlimmstenfalls eine gemeinsame
Verständigung (Perlokution). Es gibt in diesem Sinne dann sie und uns, wir und die
anderen, die Guten und die Bösen. Die Welt wird manichäisch eingeteilt respektive
aufgeteilt. «Die ganze Geschichte der westlichen Philosophie ist von Anfang an von
der Metaphysik angetrieben», was sich auch in dieser Debatte zeigt (Boehm & Kehlmann,
2024: 164). Man spricht dann vom Kampf der Kulturen oder von religiösen Konflikten.
Komplexität wird folglich reduziert, indem zwar gesprochen wird, aber man den Inhalt
nicht genügend ernst nimmt.
Solche einfachen und undifferenzierten Diskurse sind nicht per Zufall entstanden,
sondern sind für einige Akteur*innen innerhalb der Diskurse durchaus praktisch. «Durchweg
haben aber politische Führungen in der Region die Palästinafrage bzw. den Nahostkonflikt
als Mittel zur Mobilisierung der Bevölkerung und als Legitimation für die Durchsetzung
ihrer Interessen eingesetzt» (Asseburg & Busse, 2024: 8). Es geht also nicht einfach
um ein sie gegen uns, nicht einfach um die Israelis gegen die Palästinenser*innen.
Es geht primär um Macht. «Die wahre Macht ist natürlich das Kapital» (Fraser, 2023:
218). Und anhand des Kapitals können Machthabende die Diskurse dahingehend instrumentalisieren,
dass sie ihren eigenen Interessen in die Hände spielen. «Die schiere politische Verzweiflung
nach dem Niedergang der Zweistaatenlösung wird in Verbindung mit einem gewaltsamen
ethnischen Konflikt unweigerlich zu einer Katastrophe führen» (Boehm, 2023a: 38).
Diese überzeichneten und instrumentalisierten Diskurse sollen nun anhand verschiedener
Positionen als Exempel kurz verbildlicht werden. Zuerst sollen einige antiisraelische
Stimmen vorgestellt und in dieser Diskurslogik beleuchtet werden. «Die Staatsgründung
Israels und die anschliessenden Kriege mit den arabischen Staaten führten dazu, dass
die Solidarität mit den Palästinensern einen enormen Stellenwert für die islamische
Welt und ihre Identität bekam» (Cheema & Mendel, 2024: 42). Israel und die jüdische
Bevölkerung wurden, obwohl seit Jahrtausenden in diesen Gebieten Juden und Jüdinnen
ansässig waren, seit dem 20. Jahrhundert zunehmend als Fremdkörper innerhalb der mehrheitlich
arabisch-islamischen Welt betrachtet. Dies erklärt unter anderem die Aversionen aus
unterschiedlichen arabischen und ganz besonders islamischen Perspektiven.
Aber auch ausserhalb der arabischen und islamischen Regionen wird Israel als unerwünschter
Fremdkörper in dieser Region betrachtet. Israel wird dabei in zugespitzter Weise oft
als neokolonialistisches Projekt des globalen Nordens angesehen. Die Gewalttaten gegen
palästinensische, arabische oder muslimische Bevölkerung in den Regionen in und um
Israel werden von solchen Positionen kritisiert. Die BDS-Bewegung beispielsweise versucht
daher den Staat Israel durch Boykotte (in ökonomischen, künstlerischen, wissenschaftlichen
etc. Feldern) zu schwächen. «Dennoch wird in der aktuellen Debatte nicht zwischen
dem pauschalen Boykott gegen Israel an sich und einem gezielten Boykott gegen Siedlungen
differenziert» (Mendel, 2023: 86).
Positionen, die Israel kategorisch ablehnen, sind keinem gelingenden Diskurs offen,
der nach dem Spiel des Gründe-Gebens-und-nach-Gründen-Verlangens strukturiert ist.
Gewisse Sprechakte finden hierbei kein Gehör. Begründbare und rechtfertigbare Differenzierungen
werden nicht vorgenommen und dadurch wird eine gelungene Kommunikation verunmöglicht.
Es sind aber nicht nur radikale und extremistische Positionen allein, welche dabei
den Diskurs zum Scheitern verurteilen, sondern ebenfalls die Kollaboration einer unreflektierten
und opportunistischen Gefolgschaft derer, die sich an solche problematischen Positionen
hängen (Boehm, 2023a: 41).
Dasselbe gilt selbstverständlich auch für israelische, jüdische oder antipalästinensische
respektive antiislamische Positionen. So kritisiert etwa Boehm die Schulbildung jüdischer
Kinder in Israel: «Die mythische Logik von mi’shoa le ‘tquma [von der Shoa zur Auferstehung] wird Kindern in israelischen Schulen von klein auf
als alleinige Bedeutung des Holocausts beigebracht, als ein Faktum über die Existenz
Israels» (Boehm, 2023a: 73). Hierzu ergänzt Mendel: «Schon im Eichmannprozess 1961
hat Hannah Arendt beobachtet, wie die Analogie zwischen den Arabern und den Nazis
als staatlich gesteuertes Entlastungsnarrativ funktioniert» (Mendel, 2023: 65). Die
Araber*innen und/oder Muslim*innen werden in diesen Positionen verteufelt und das
Überleben des eigenen jüdischen Volks muss unter Anwendung aller Mittel verteidigt
und sichergestellt werden. Boehm bezeichnet diese pädagogische Indoktrination deshalb
als mythische Logik, weil sie nicht notwendigerweise zum Selbstverständnis von Israel als Staat gehört.
«Wenn überhaupt, dann war der Holocaust ein Teil der Geschichte, den der junge jüdische
Staat [vor 1961] lieber verdrängte» (Boehm, 2023a: 81).
Aus diesem diskursiven Paradigma folgen entsprechende moralische und realpolitische
Konsequenzen. Auch wenn das jüdische Volk sich um seinen eigenen Fortbestand kümmern
kann und auch kümmern darf, sind sie dennoch unweigerlich von anderen Volks- und Religionsgruppen
umgeben (Muslim*innen, Christ*innen, Drus*innen etc.). «Israel ist jedoch der Staat
des jüdischen Volkes, nicht der seiner Bürgerinnen und Bürger» (ebd.: 54). Die demografische Kompensation
nach der Shoa wird daher nach dieser Position zum Leitprinzip, um unterschiedlichste
gewaltvolle staatliche und private Handlungen (auch gegen die eigene Bevölkerung)
zu legitimieren. Deshalb kritisiert Boehm: «Während das Gedächtnis mittlerweile das
zentrale politische Prinzip ist, das alle Israelis eint, eint es sie als Juden – unter
Ausschluss der Araber» (ebd.: 52). Und weiter will er für den innerisraelischen Diskurs
kritisch aufzeigen: «Die Erinnerung soll im jüdischen Staat eine heilige Pflicht sein,
aber nur, wenn sie dem Holocaust gilt. Wenn es um die Nakba geht, besteht die Pflicht
darin, zu leugnen, zu zensieren und zu vergessen» (Boehm, 2023a: 114). Dass dies problematisch
ist, fällt auch anderen jüdischen Autor*innen auf. So weist unter anderem Avishai
Margalit darauf hin: «Ich glaube, dieses Gefühl, das viele israelische Araber haben,
entspringt dem Umstand, dass man sich nicht von denjenigen definieren lassen will,
von denen man diskriminiert wird» (Margalit, 2018: 156). Mendel beklagt ebenfalls
die innerisraelische aber auch ausserisraelische Einseitigkeit im Diskurs. «Es fällt
dennoch auf, dass in den medialen Diskussionen so gut wie keine palästinensische Stimme
zu hören ist» (Mendel, 2023: 79).
Das Dilemma, über Israel zu sprechen, ist also offensichtlich: Schweigt man über problematische
Seiten von Israel (als System oder als Feld), begeht man Unrecht gegenüber den Leidenden
und damit auch gegenüber der israelischen Bevölkerung selbst, da letztere unter anderem
an der Teilnahme am moralischen oder ethischen Diskurs einen Riegel vorgeschoben wird.
Äussert man sich hingegen in undifferenzierten Urteilen zu Israel, wird oft eine Perspektive
eingenommen, welche den komplexen dynamischen Sachverhalt nicht einmal annähernd darzustellen
versteht, wodurch extreme oder radikale Positionen aufgrund fehlender Eigenreflexion
regen Zulauf erhalten. Wie ist mit diesem Dilemma umzugehen?
Boehm glaubt, dass tatsächlich eine Position existiert, welche die anderen Perspektiven
unter sich subsumieren kann. Es ist die Perspektive des Radikalen Universalismus (Boehm, 2023b). In ihr werden die humanistischen Werte, die für alle Menschen gelten,
gleichmässig vertreten und gewährt, ohne dabei einen Anspruch auf neokoloniale Moralpolitik
zu erheben (Said, 2014). Vielmehr versucht er zu erläutern, dass diese propagierten
humanistischen Werte die einzig plausible Möglichkeit darstellen, überhaupt miteinander
gelingend in Kommunikation zu treten und sich nicht auf die einfachen polarisierenden
Positionen zu versteifen, die einen fruchtbaren Austausch verunmöglichen. «Dieser
grundsoliden Überzeugung jedoch kann man sich guten Gewissens nur anschliessen, wenn
man Israels massive Verletzungen des Völkerrechts und der Menschenrechte verurteilt
und zugleich darauf besteht, dass einzig und allein die Verteidigung des universalen
Humanismus Minderheiten schützen kann – einschliesslich der Juden» (Boehm, 2023a:
19). Und weiter will er festgehalten wissen: «Wenn Hoffnung für Israels Zukunft mehr
sein soll als blinder Optimismus, dann würde sie unter anderem von Intellektuellen
abhängen, die sich eine Sprache bewahren, in der eine unverfälschte Diskussion über
das Land möglich ist» (ebd.: 29).1
Eine unverfälschte Diskussion ist im Sinne Boehms jedoch nur möglich, wenn die Komplexität
nicht künstlich reduziert wird, sobald man über Israel spricht, sondern man sich bewusst
macht, wie die Perspektive Einfluss auf den Sachverhalt ausübt und selbst zur Frage
nach Begründung gestellt wird. Sie ist dem Inhalt der Aussage nicht moralisch vorgeordnet,
sondern unterliegt selbst den Regelungen des kommunikativen Handelns. Indem in der
Position von Boehm behauptet wird, die eigenen Prämissen innerhalb des Diskurses zu
begründen, da sie eigenständig die Möglichkeitsbedingungen eines gelingenden Diskurses
bilden, wird dadurch ein fairer, moralischer und zugleich aufrichtiger Diskurs ermöglicht.
Anders formuliert: Indem sich unterschiedliche Positionen auf die gemeinsame Basis
ihres kommunikativen Handelns einlassen, welche überhaupt ein solches gelingendes
Kommunizieren ermöglicht, wird automatisch die Haltung von Boehm eingenommen. Über
Israel kann man zusammenfassend nur aus der Warte des Radikalen Universalismus in gelungener Weise sprechen. «Solange eine angemessene, sachgerechte Beschreibung
der Realität jedoch ein Tabu ist, wird das unmöglich bleiben» (ebd.: 195). Ins selbe
Horn stösst auch Mendel: «Wir müssen uns der Frage stellen, was Solidarität mit Israel
heute bedeutet» (Mendel, 2023: 66).
Folgendes würde Boehm überzeugenderweise aus dieser Position daher realpolitisch für
die laufenden Diskurse vorschlagen: «Das binationale Versprechen des Zionismus lässt
sich dadurch erneuern, dass wir eine Kunst des Vergessens entwickeln, eine Politik, die daran erinnert, den Holocaust und die Nakba zu vergessen, um sie nicht länger als Säulen unserer
Politik zu verewigen, sondern abzutragen» (Boehm, 2023a: 51). Und weiter: «Wenn die
Gründung eines jüdischen Staates ein Teil der Geschichte des Holocausts ist – und
diese Tatsache würde kein Israeli bestreiten –, dann ist auch die Nakba ein untrennbarer
Teil der Geschichte des Holocausts» (ebd.: 98f). Erst wenn man sich gemeinsam vereine
als Menschheit mit unterschiedlichen gewaltgezeichneten Geschichten, sich zusammenfinde
und gemeinsam orientieren könne, so Boehm, sei eine Anerkennung als Gleichberechtigte möglich.
Wenn man also über etwas spricht – ganz besonders über komplexe Sachverhalte –, so
geht es nicht darum, die eigene Betroffenheit als Legitimation für die Sprechposition
darzustellen, oder mit dem Diskurs instrumentalisierend für andere politische Zwecke
umzugehen. Israel als komplexer, das heisst dynamischer und perspektivischer Sachverhalt,
kann man als Thema besprechen, wenn man als Mensch darüber spricht, der dieselben Werte in den Aussagen vertritt, welche ihm das eigene
Sprechen überhaupt erst ermöglichen. Es geht also um Anerkennung und Festlegen, um
Begründen und Begreifen. Es geht um das Urteilen eines moralischen respektive ethischen
Lebewesens, nicht um Geschichte, Macht und Kapital, sondern um uns als Menschen. «Das
heisst, im Grunde ist der Sternenhimmel genau deshalb so beeindruckend, weil er letztlich
bedeutungslos ist für uns als moralische Wesen» (Boehm & Kehlmann, 2024: 39).
3 Miteinander sprechen
Der Mensch ist nicht für sich allein ein moralisches Wesen, sondern weil er immer
schon unter anderen Menschen ist. Moral oder Ethik sind nur in Gemeinschaft möglich.
Der Mensch als moralisches Wesen ist mehr als nur ein natürliches Wesen, das sich
von Ursache und Wirkung bestimmen lässt. Vielmehr ist der Mensch auch in das Reich
der Gründe eingebettet. «Die Natur gewinnt in der physischen Welt. In der moralischen
nicht» (Boehm & Kehlmann, 2024: 33). Im Reich der Gründe findet der Mensch den Zweck,
den er sich in Gemeinschaft selbst geben kann. Sich gemeinsam den (bedeutungslosen)
Sternenhimmel als moralische Wesen zu betrachten bedeutet daher, dass man nicht vollständig
in der Natur aufgeht, sondern sich um sich selbst und um den Menschen als Selbstzweck
kümmern kann. Der Sternenhimmel ist dann jenes, worauf diese Bemühung hinweist, was
man mit Baruch Spinoza als Sehnsucht bezeichnen könnte (Spinoza, 2019: 287).
Wir sehnen uns, so die These, mehr zu sein als nur natürliche Wesen. Dies gelingt,
wenn man sich um Anerkennung und Festlegung bemüht. Erst dann können ein Miteinander
und ein Diskurs gelingen. Man tritt nur dann gemeinsam in Dialog, sobald man über
etwas spricht, wenn die Aussage darauf abzielt, das Urteil tatsächlich miteinander
zu teilen. Anerkennung und Festlegung können jedoch nicht technisch hergestellt werden,
sondern bedürfen der solidarischen, liebevollen und respektvollen Zuwendung (Ikäheimo,
2014). Genau dies wird in heutigen Diskursen immer wieder vernachlässigt. Man versucht,
durch technische Sprechregelungen den Austausch dahingehend zu steuern und zu lenken,
dass Anerkennung und Festlegung auch ohne eine diskursoffene Haltung gewährt werden
sollten. Wer wie wann über was sprechen kann, steht dabei im Vordergrund (Foucault,
2014). Technisierte Regeln fordern, dass Funktionen gleichmässig – ohne Rücksicht
auf Unterschiede – durchgeführt werden, um damit Prozesse in Gang zu setzen oder Ordnungen
zu etablieren. In der Sprache ist dies so aber nicht möglich. Dass dies scheitert,
zeigt sich anhand der verhärteten Fronten. «Die Gräben zwischen den scheinbar homogenen
Gruppen der propalästinensischen Muslime und proisraelischen Juden sind kaum zu überbrücken»
(Cheema & Mendel, 2024: 5). Und zugleich gibt es auch Figuren, die sich genau diesen
Sprechregelungen entziehen, und zwar nicht, weil sie sich um die moralischen respektive
ethischen Möglichkeitsbedingungen eines gelingenden Diskurses bemühen, sondern weil
sie sich in kindischer Manier gegen die oktroyierten Sprechregeln sträuben. Extreme
und radikale Positionen, die sich nicht darum scheren, was genau gesagt wird, solange
es anstössig ist und Resonanz in der Bevölkerung findet, werden dadurch salonfähig.
Harry Frankfurt nennt dies Bullshitting, sofern man sich in den Aussagen nicht mehr an der Wahrheit, sondern an der perlokutionären
(d. h. emotionalen) Wirkung der Aussage orientiert (Frankfurt, 2014). Bullshitting suggeriert jedoch, dass es eben nur Unrat ist, der hier ans Volk gebracht ist. Das
Problem liegt aber darin, dass diese Aussagen realpolitische Konsequenzen in der Gesellschaft
und weitreichende Veränderungen innerhalb des politischen und wissenschaftlichen Diskurses
evozieren. So werden Äusserungen wieder akzeptabel, die früher nicht ohne empörte
Reaktionen hätten geäussert werden können. Am Beispiel der israelischen Gesellschaft
stellt Mendel etwa fest: «Verändert hat sich die israelische Gesellschaft. Wer vor
einer Generation als rechtsradikaler Paria galt, ist heute gern gesehener Gast in
Talkshows» (Mendel, 2023: 16).
Die naive Antwort auf jene Figuren, die Bullshit betreiben, besteht darin, anhand
der Sprechregelungen gewisse Positionen im Voraus vom Diskurs auszuschliessen, oder
deren Position innerhalb des Sprechens nicht anzuerkennen. Gehört wird nur das, was
man sich durch die Sprechregelungen zurechtgestutzt hat. «Nicht die Vernunft oder
das Argument zählen, sondern Emotionalität und Betroffenheit» (Cheema & Mendel, 2024:
173). Dazu ergänzt Meron Mendel: «Implizit wird damit gesagt, dass nicht der antisemitische
Gehalt einer Äusserung entscheidend ist, sondern die Empfindsamkeit des Publikums»
(Mendel, 2023: 94).
Gemeinsame Diskurse können nur gelingen, insofern man sich gegenseitig moralisch in
der jeweiligen Sprechposition anerkennt. Dies kann nicht durch technisierte Sprechregelungen
gewährleistet werden. Die Sprache lässt sich nicht technisieren, ohne dass ihr Wesentliches
(ihre Unverfügbarkeit und ihre Schöpfungskraft) erlöscht. Wir können in andere Sprachspiele
treten, so erklärt es schon Ludwig Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen 1953 (Wittgenstein 2014), aber wir können die Sprachspiele nicht ein für alle Mal
durch technische Vorgaben regulieren (wer genau wann wie über was sprechen darf).
Und auch der Bullshit bemüht sich nicht um einen gelingenden Diskurs. Das Resultat
ergibt auf beiden Seiten ein gegenseitiges Verkennen: Die einen wollen nicht zuhören,
die anderen sprechen, ohne darauf zu achten, was gesagt wird. Hierzu nochmals Mendel:
«Die notwendigen und mühsamen Debatten werden vermieden» (Mendel, 2023: 78).
Dies zeigt sich ganz besonders in der Festlegung von Aussagen. Während beim Bullshitting
überhaupt keine Festlegung gegenüber der Aussage und ihren inferentiellen Bezügen
(Prämissen und Konklusionen zu anderen Urteilen) vorgenommen wird, werden durch die
Sprechregelungen die Feinheiten von Aussagen und auch von Positionen übersehen oder
gegebenenfalls auch negiert. «Juden, wie alle anderen Gruppen auch, sind unterschiedlich.
Was der eine als verletzend empfindet, kann die andere sogar gut finden» (Cheema &
Mendel, 2024: 109). Wenn beispielsweise Argumente oder Aussagen von vornherein zensiert
oder totgeschwiegen werden, können keine Parteien gegenseitig in Austausch treten.
Dasselbe gilt für Sprechpositionen. Der Diskurs gerät dadurch in Gefahr, weil die
Ordnung des Diskurses auf die Einhaltung der Sprechregelungen ausgerichtet ist statt
auf die gegenwärtigen und künftigen Interessen eines gemeinsamen Miteinanders (Boehm,
2023a: 65). Das führt zu problematischen Konsequenzen auch auf politischer Ebene.
Pointiert will Omri Boehm weiter festhalten: «Wo die Verteidigung Israels praktisch
identisch mit dem Kampf gegen Antisemitismus geworden ist, ist es für die weltweiten
antisemitischen Politgrössen, die mit Israel kollaborieren, ein Leichtes, nicht nur
Linksradikale, sondern auch liberale Kritiker als ressentimentgeladene Israelhasser
darzustellen» (ebd.: 236f).
Wer was sagt oder eben gerade nicht sagt, wird dadurch von den Teilnehmenden am Diskurs
einer klar definierten Sprechposition zugeteilt, die gleichzeitig entweder moralisch
legitimiert oder delegitimiert wird, noch bevor geklärt wird, was es zu sagen gibt.
Unabhängig davon, was also geäussert wird, orientiert man sich primär daran, herauszufinden,
was es bedeutet, aus dieser Sprechposition eine Aussage zu artikulieren. Dies ist
ganz besonders in den Reaktionen derjenigen Personen und Parteien bemerkbar, die teils
schon vor der Aussage antizipiert werden müssen. «Wenn man Kritik an der einen oder
der anderen Seite äussert, wird man schnell von den Falschen bejubelt» (Cheema & Mendel,
2024: 175). Und weiter: «Das Besondere am Nahostkonflikt ist allerdings, dass nicht
nur Israelis und Palästinenser und ihre Nachkommen betroffen sind. In den Echokammern
der sozialen Medien werden diese Konflikte zusätzlich verstärkt» (ebd.: 168). Man
will also auf der richtigen Seite stehen. Dadurch geht die Bemühung verloren, überhaupt
erst das Richtige zu sagen und den anderen richtig zuzuhören.
Die verhärteten Fronten in den Diskursen versuchen die Komplexität dahingehend zu
verringern, dass der mögliche Wahrheitsgehalt der getätigten Aussage nicht gemeinsam
besprochen und ausgehandelt wird, man also nicht in das Spiel des Gründe-Gebens-und-nach-Gründen-Verlangens
eintritt und die Sprechposition durch dies moralisch anerkennt. Vielmehr wird versucht,
in der Kakophonie aller Bullshit Betreibenden, klar intelligible Positionen zu deklarieren,
die – egal was gesagt wird – anscheinend keinen Bullshit äussern: Die Guten gegen
die Bösen. Was offensichtlich ein Paradox darstellt, da die Sprechposition sich dann
selbst nicht mehr um den Wahrheitsgehalt bemüht.
Vergessen geht bei diesen Sprechregelungen die Bestrebung, dass man sich gemeinsam
im Diskurs darum bemüht, das Problembewusstsein über den komplexen Sachverhalt dahingehend
zu erhöhen, dass es bei künftigen Debatten nicht mehr unterschritten wird. Pessimistisch
fasst dies Mendel zusammen: «Beide Positionen sind in sich geschlossen. Sie machen
es unmöglich, die komplexe Realität zu beschreiben und zu diskutieren» (Mendel, 2023:
109).
Dies soll nun kurz an einem Beispiel verdeutlicht werden. Wenn von der palästinensischen
Bevölkerung gesprochen wird, geht es selten um die Inhalte, sondern um die Sprechpositionen,
welche durch die gewaltgezeichnete Geschichte definiert werden. «Der Geflüchteten-Status
vererbt sich bei ihnen auf die Folgengenerationen, was weltweit einmalig ist» (ebd.:
84). Jenen Menschen begegnet man nicht als Menschen mit ihrem moralisch-ethischen
Selbstzweck, sondern als eine bestimmte Sprechposition, die innerhalb der technisierten
und reglementierten Sprachgebräuche eine normative Bewertung erhalten. Entweder ist
man für sie oder gegen sie. «Da es hier selten um einen konkreten Sachverhalt, sondern
fast immer um die Vergewisserung der Gruppenidentität geht, üben sich alle Beteiligten
in Vereinfachungen, um Klarheit über die Bösen und die Guten im Nahostkonflikt zu
schaffen» (ebd.: 115). Ist man für sie, haben sie – als Betroffene – anscheinend immer
recht. Ist man gegen sie, nimmt man ihre Position erst gar nicht ernst, sondern bezichtigt
sie schlicht des Antisemitismus. «Die Diskussion darüber, welche der vielen palästinensischen
Positionen legitim und bedenkenswert sind, wird nahezu ausschliesslich unter dem Aspekt
Antisemitismus verhandelt» (ebd.: 81). Diese Einteilung wird in ihrer Wirkkraft multipliziert,
wenn es darum geht, die Aussagen möglichst viral zu gestalten, das bedeutet, dass
sie möglichst viel Aufmerksamkeit erregen. «Antisemitische Muslime sind offenbar interessanter
als andere Muslime» (Cheema & Mendel, 2024: 41).
Dass es auch friedensfördernde palästinensische/muslimische Stimmen gibt, welche sich
um mehr Differenzierung bemühen, wird folglich wenig bis kaum beachtet. So verbietet
der Koran an verschiedenen Stellen jede Form von unrechtmässiger Gewaltanwendung und
zudem gibt es Stellen, die auffordern, Frieden zu stiften und Versöhnung zu suchen
(Heine, 2005: 55). Analoges findet man in jüdischen Schriften.
So verhärten sich die Fronten immer weiter, man anerkennt nur noch die eigenen Echokammern
und legt sich, wenn überhaupt, auf das fest, was öffentlichkeitswirksam und viral
ist. Ein Dialog scheitert durch dies zwangsläufig. So fasst es Mendel zusammen: «Statt
reflektierter Positionen haben derzeit einseitige emotionale Solidaritätsbekundungen
Hochkonjunktur» (Mendel, 2023: 185). Und weiter: «Es ist richtig, dass man sich gegen
Antisemitismus und Rassismus positionieren sollte – aber wenn gegenseitige Anschuldigungen
zur Folge haben, dass man überhaupt nicht miteinander spricht, ist keinem geholfen»
(ebd.: 138). Dies hat unter anderem realpolitische Konsequenzen. Man kann hierbei
an Schulen als Institutionen des gelebten Dialogs denken. Dass solche Schulen aber
gerade auch vor Ort unterschlagen werden, ist auffällig: «Bis heute sind binationale
Schulen in Israel eine Ausnahme» (ebd.: 9).
Wie ist also ein gelingender Dialog möglich, ohne weitere neue Sprechregelungen zu
entwerfen und durchzusetzen und ohne die anderen Positionen im Voraus als Bullshit zu bezeichnen? Wichtig wäre es, so wird es in den besprochenen Werken beschrieben,
sich gemeinsam erneut auf das Wesentliche des Miteinander zu besinnen. «Missverständnisse
und unabsichtliche Verletzungen gehören zur Kommunikation» (Cheema & Mendel, 2024:
21). Das Miteinander besteht nicht einfach im Echo von Gleichgesinnten, sondern im
Aushalten von Differenzen.
Anstatt also den Fokus auf die Legitimierung respektive Delegitimierung von Sprechpositionen
oder emotive Auswirkungen der Aussagen zu fokussieren, wäre es sinnvoll, sich wieder
vermehrt um das Gemeinsame des Dialoges zu bemühen. Das bedeutet, dass die Inhalte der Aussagen wieder an Gewicht
zunehmen, und zwar im Sinne einer komplexitätsfreundlichen Darstellung, die keine
Vereinfachungen ohne hinreichende Gründe zulässt. Dies erlaubt infolge auch Dissidenzen
zuzulassen, ohne dass dabei der Dialog an sich scheitern würde. «Widersprüche, die
man scheinbar hilflos nebeneinander stehen lassen muss und die dann letztlich doch
ein konsistentes Bild ergeben – aber nicht indem man sie auflöst, sondern indem man
sich über ihre Unauflöslichkeit Rechenschaft ablegt» (Boehm & Kehlmann, 2024: 21).
Daraus folgt auch: «In einer pluralen Demokratie muss in der religiösen Bildung auch
die Fähigkeit vermittelt werden, Kritik und Provokationen zu dulden» (Cheema & Mendel,
2024: 91). Ein gelungenes Gespräch ist daher immer ergebnisoffen und kann nicht im
Voraus antizipiert, geschweige denn vollumfänglich gesteuert werden. Man begibt sich
gemeinsam auf die Suche nach dem Kern des Gesprächs. Ein solcher Dialog bildet ein
Ereignis, das über die Teilnehmenden herausgeht und damit in gewisser Weise auch zu
einem Teil stets unverfügbar bleibt. Ein Dialog ist daher mehr als nur ein Austausch
von Meinungen und Urteilen. Man teilt mehr als nur Aussagen (De Miranda, 2024: 37).
Dies ist nur möglich, wenn die moralisch-ethische Anerkennung des Gegenübers stattfindet.
Man begegnet sich gemeinsam als moralische Wesen, die sich nicht auf ihre Natur und
Geschichte reduzieren lassen. Solidarität, Liebe und Respekt sind nicht natürliche
oder geschichtliche Entitäten, sondern stellen, so Boehm, universelle Prinzipien dar,
die ein Miteinanderumgehen ermöglichen (Boehm, 2023b: 38). Der Radikale Universalismus muss sich über geschichtlich-kulturelle, religiöse und physiologische Grenzen hinwegsetzen,
um ein wirklicher Universalismus zu sein. So kann es unter moralischen Lebewesen auch
keine Unterteilung mehr geben zwischen uns und denen oder den Guten und den Bösen.
«Für eine inhaltliche Auseinandersetzung ist es jedoch fatal, wenn der Hintergrund
eines Sprechers wichtiger ist als seine Argumente» (Mendel, 2023: 139).
Dass diese moralische Haltung tatsächlich umsetzbar ist und auch den Diskurs fair
zu gestalten vermag, zeigt sich mit dem Blick in die Geschichte selbst. «Schliesslich
haben universalistische moralische Kritiker ihren Zorn spätestens seit den jüdischen
Propheten auch gegen ihre eigenen Regierungen und Völker gerichtet» (Boehm, 2023a:
72). Ähnliches ist auch bei Spinoza zu finden: «Hass wird über Erwiderung von Hass vermehrt und kann andererseits von Liebe getilgt
werden» (Spinoza, 2019: 299; H.i.O.). Nur in einer demokratischen Lebensform, die den gemeinsam
geteilten Diskurs ermöglicht und auch ständig beibehält, können sich die Menschen
als Gleichwertige begegnen und das sagen, was sie bewegt und so miteinander sprechen.
Virginia Held erklärt, warum das Miteinandersprechen gerade in einer Demokratie unerlässlich
ist: «Basic to democratic theory, for instance, is the view that individual rights
must be respected even when this does not maximize the satisfaction of majorities»
(Held, 2006: 103). Kein Mensch und keine Sprechposition können als Mittel zum Zweck
instrumentalisiert, geschweige denn zensiert und totgeschwiegen werden, solange sich
alle um den gelingenden Diskurs bemühen.
Der Mensch ist also ein moralisches Wesen, weil er unter anderen moralischen Wesen
sich immer schon wiederfindet. «Die Welt wird ipso facto von allen geteilt» (Boehm & Kehlmann, 2024: 137). Um einen gelingenden Diskurs zu gewährleisten,
besteht die Pflicht (und nicht die Regel) darin, sich um die eigene moralische Haltung
im Diskurs – also in der Anerkennung des Gegenübers – zu bemühen und sich gleichzeitig
an der Wahrheit der Aussagen zu orientieren, indem man (mögliche) Widersprüche zulässt,
aushält und gemeinsam nach Gründen fragt und versucht zu begreifen. Eine Gesellschaft
und ein Diskurs können daher nur dann anständig und nicht demütigend sein, wenn alle
Menschen als moralische Wesen gleichgestellt sind und dies zugleich auch für die anderen
Mitglieder einfordern (Margalit, 2018: 156). Eine solche Lebensform wäre eine demokratische Lebensform (Engelmann, 2021), die nicht einfach zu einem Zeitpunkt definitiv an ein Ziel gelangt,
sondern immer wieder von Neuem gemeinsam erstrebt werden muss. «Und zusammenleben
kann nur bedeuten: gleichberechtigt zusammenleben» (Boehm, 2023a: 95).
4 Schlusswort
«Für Spinoza ist die Welt nicht so, wie sie sein sollte, doch ist es Unsinn, überhaupt
zu glauben, dass die Welt auf eine bestimmte Weise sein sollte» (Boehm & Kehlmann,
2024: 63). Es gibt nach dieser Position keine gute und auch keine schlechte und erst
recht gibt es nicht die beste aller Welten. So definieren die zwei Denker die Position
von Baruch Spinoza. Ganz überzeugend ist diese Auslegung jedoch nicht, hätte doch
Spinoza sonst keine Ethik geschrieben. Es muss folglich ein Streben nach dem Guten geben, das wir als Menschen
uns als Ziel setzen können. Daher schreibt der Philosoph: «Herzen werden jedoch nicht
mit Waffen, sondern mit Liebe und Edelmut besiegt» (Spinoza, 2019: 511).
Die Werke von Boehm und Mendel sind – trotz einiger Ungenauigkeiten und auch provokanten
Aussagen – durch und durch wertvoll. Sie erinnern uns daran, was es heisst, über etwas
zu sprechen und damit zugleich auch in Dialog miteinander zu treten. Es geht daher
auch nicht darum, ihre Sprechposition (heterosexuelle Männer, Israeli, o.ä.) als Grundlage
für die Diskussion zu nehmen, genauso wenig, wie es darum geht, ihre Sprechakte darauf
hin zu prüfen, wie sie im Diskurs politisch von irgendwelchen Positionen instrumentalisiert
werden können. Vielmehr geht es darum, ihre Aussagen und ihre Positionen anzuerkennen
und gemeinsam zu prüfen, ob man sich auf die Urteile festlegen kann oder nicht. Dies
wurde in der vorliegenden Sammelrezension angestrebt. Und genau dazu laden die Bücher
auch ein, während sie ebenfalls beschreiben, was es bedeutet, dies in fairer und moralischer
Weise zu tun. Sich für einen gelingenden Diskurs zu entscheiden ist daher tatsächlich
eine Entscheidung, die wir frei treffen können und weder von der Natur noch von der
Geschichte oder politischen Positionen determiniert ist. «Im Verhältnis zu unserer
Freiheit ist jede Menge oder Macht der Natur unendlich klein» (Boehm & Kehlmann, 2024:
37).
Was heisst es also, wenn wir gemeinsam über etwas sprechen? Und wie können wir uns
bemühen, nicht in die Fallen zu tappen, die in den vorherrschenden Diskursen beinahe
zur Regel wurden? «Wer kein realitätsangemessenes Bild der Beschaffenheit, Entstehung
und Veränderbarkeit von Wirklichkeit, insbesondere der gesellschaftlichen Wirklichkeit
erwerben kann, wird diese entweder als übermächtig, von irrationalen Kräften beherrscht
oder als durch individuelle Willenskraft veränderbar betrachten» (Staub-Bernasconi,
2018: 335). Die Erkenntnis von Komplexität in einem Sachverhalt kann nur aufgebracht
werden, wenn Informationen vorhanden sind und zugleich die Haltung kultiviert wird,
dass diese Komplexität und die damit einhergehenden (möglichen) Dissidenzen ausgehalten
werden. Weder ist der Sachverhalt fatalistisch vorbestimmt, noch können einzelne Personen
oder einzelne Positionen die Probleme allein lösen. Dabei macht es selbstverständlich
einen Unterschied, wer genau miteinander spricht, aber es lässt sich keine Reduktion
auf die Sprechposition vornehmen, ohne wieder in dieselben Probleme zu stürzen.
Man muss sich daher auf eine Haltung einlassen, welche einen fairen und moralischen
Diskurs im Miteinander überhaupt ermöglicht. Und diese Haltung ist nicht einfach kulturspezifisch
oder historisch kontingent, sondern ermöglicht das Miteinandersprechen an sich. Daher
wird die Haltung auch Radikaler Universalismus genannt, da diese Prinzipien für alle gelten, die sich an einem gelingenden Diskurs
beteiligen. «Ohne Übereinstimmung in den Werturteilen funktioniere weder eine kleine
noch eine grosse Gemeinschaft von Menschen» (Hampe, 2024: 156).
Ist aber ein solcher Universalismus tatsächlich für alle umsetzbar? «Die Konfliktparteien
untermauern ihre Ansprüche auch religiös, also durch den Verweis auf göttliche Versprechen
für ihr Volk» (Asseburg & Busse, 2024: 11). Der propagierte Universalismus ist dahingehend
radikal, dass er unabhängig von religiösen Positionen legitimiert werden kann, weil
sich in allen religiösen Traditionen die Gründe hierfür finden lassen (bspw. Lev.
19, 34 oder Hadith 13). Daraus folgt: «Weder Israelis noch Palästinenser brauchen
Groupies im Ausland. Es braucht etwas, was soziale Medien per se nicht leisten können:
nicht die scharfmachenden und polarisierenden Stimmen gilt es zu verbreiten, sondern
die gemässigten und friedlichen» (Cheema & Mendel, 2024: 44). Und weiter: «Dabei ist
gerade Differenzierung notwendig – und es sind beide Seiten, die diese vermissen lassen»
(Mendel, 2023: 134). Betroffene und Unbeteiligte unterscheiden sich in ihrer Perspektive.
Aber im gelingenden Diskurs – und nicht in der medialen Echokammer – begegnet man
sich zwangsläufig als unverfügbare Fremde, die sich gegenseitig zur Anerkennung herausfordern
und auf die man entsprechend mit der moralischen Haltung reagieren sollte, sofern
man sich gemeinsam über einen komplexen Sachverhalt austauschen will. Und vielleicht
sind gewisse Streitereien, Argumente und Kritik – jedoch längst nicht alle – auch
auszuhalten und zu erdulden in der besagten demokratischen Lebensform (Lyotard, 1989).
Im Augenblick mag die Aussicht nach einem fairen und moralischen Diskurs wie eine
Utopie klingen und mehr noch scheinen eine friedvolle Lösung und ein gemeinsames Miteinander
jenseits der Gewalttaten fernab jeglicher Realität zu sein (Boehm, 2023a: 56). Die
Werke von Boehm und Mendel sind jedoch ein wichtiger Fingerzeig, wenn es darum geht,
sich gemeinsam in eine Richtung zu bewegen. Viele andere Wege besitzen wir nicht,
die sonst gemeinsam zu beschreiten wären. Eine solche Position des Miteinanders und einen solchen Dialog
anzustreben, ist nicht allein Ausdruck von reiner Vernunft, sondern immer auch eine
Haltung, die sich darin zeigt, die Welt als Ort zu sehen, den wir gemeinsam als moralische
respektive ethische Wesen teilen (Mendel, 2023: 183).