Otto Zwierlein, Das ‚Bellum Iudaicum‘ des Ambrosius. De Gruyter, 2024. 646 + XVII Seiten, EUR 119.95, ISBN 978-3-11-058556-8
Universität Bern
Die Frage nach dem Verfasser des in der aktuellen Forschungsliteratur zumeist mit De excidio Hierosolymitano (DEH) bezeichneten Werkes, das konventionell einem Ps.-Hegesippus zugeschrieben wird, bewegt seit Generationen die Gelehrtenwelt.
Bei der Schrift handelt es sich um eine christianisierende Bearbeitung des Bellum Iudaicum (BI) aus der Feder des jüdischen Historiographen Flavius Josephus, der selbst schon die Mitschuld jüdischer Rebellen an der Zerstörung des zweiten Tempels thematisiert hatte und dessen Antiquitates Iudaicae durch die mit grosser Wahrscheinlichkeit in frühchristlicher Zeit erfolgte Interpolation des sog. Testimonium Flavianum ihn als jüdischen Kronzeugen für die Identität des Jesus von Nazareth mit dem Messias ausweisen. Eine Steilvorlage für christliche Schriftsteller, die auf der Basis dieser Quellen ihr eigenes (Heils-)Geschichtsbild erschaffen haben – so auch für den Verfasser von DEH.
Otto Zwierlein hat mit seiner Monographie Das ‚Bellum Iudaicum‘ des Ambrosius eine Studie vorgelegt, in der er den Nachweis erbringen will, dass der junge Ambrosius – noch zu seiner Zeit als römischer Verwaltungsbeamter in der Provinzhauptstadt Sirmium – die christianisierende Version des Jüdischen Krieges verfasst hat. Er tut dies in lückenloser Kenntnis von und in kritischer Auseinandersetzung mit älterer und aktueller Literatur zur Verfasserfrage (s. den Forschungsüberblick S. 3–22), und er tut dies methodisch in einem Zweischritt: In einem ersten Teil (23–223) wertet er materielle Zeugnisse und sprachliche Eigenheiten aus, um im zweiten (227–597) literarische und geistesgeschichtliche Grundzüge der lateinischen Adaptation herauszuarbeiten und so das Profil des jungen Ambrosius nachzuzeichnen und – wo möglich – Parallelen zu dessen späteren Schriften zu dokumentieren.
Zunächst zum ersten Teil: Hier kann Zwierlein mit Blick auf die Überlieferung zeigen, dass gerade in den frühen Handschriften Ambrosius häufig als Übersetzer genannt wird. In den philologischen Kapiteln weist er auffällige sprachliche Gemeinsamkeiten, insbesondere einige Junkturen nach, die nur im DEH und bei Ambrosius belegt sind. Ebenso dokumentiert die ausführliche Untersuchung zum Gebrauch des Prosarhythmus markante Übereinstimmungen. Überflüssig zu betonen, dass Zwierlein all diese Untersuchungen mit subtiler Präzision, profunder Sachkenntnis und auf breiter Quellenbasis (im Hinblick auf „Gegenproben“ bei anderen Autoren) durchgeführt hat. Insofern lässt sich als Ergebnis schon dieses Teils festhalten, dass sich die These der Autorschaft des Ambrosius jedenfalls mit philologischen Argumenten nicht entkräften lässt.
Aber – um den advocatus diaboli zu spielen: Die Zuschreibung an Ambrosius in den frühen Handschriften, die allesamt einige Jahrhunderte jünger sind als der Text, könnte freilich auch eines der nicht seltenen Pseudepigrapha sein, mit denen man die Bedeutung eines Werkes durch ‚einen grossen Namen‘ aufwerten wollte. Zu denken gibt zudem, dass es neben der handschriftlichen Tradition keine expliziten Belege für die Autorschaft des prominenten Kirchenvaters gibt. Idiomatischer Wortgebrauch und Anwendung des Prosarhythmus wiederum könnten auf einen (Aus-)Bildungshorizont zurückgehen, an dem neben Ambrosius auch andere, für uns anonym Gebliebene, teilhatten. Dies vermutete ursprünglich – um nur einschlägige aktuelle Forschungen zu nennen – Ch. Somenzi, auf deren etwa zeitgleiche Untersuchungen sich Zwierlein mehrfach bezieht,1 bevor sie dann doch für Ambrosius als Urheber plädierte.2
Das Kernproblem ist, dass wir uns in einem historischen Zeitraum bewegen, aus dem mehr Texte verloren als erhalten sind, und in dem viele Personen, von denen wir heute nur wenig oder gar nichts wissen, literarisch tätig waren. Insofern können wir DEH nur mit dem vergleichen, was wir haben. Unter diesen Rahmenbedingungen führt Zwierlein einen zwar plausibel begründeten und exzellent dokumentierten – aber eben auch nur einen – Indizienprozess, was er selbst zugibt.
Ein entsprechendes Caveat gilt für den zweiten Teil, in dem die Eigenheiten von DEH inhaltlich untersucht und historisch, theologiegeschichtlich und literaturgeschichtlich in die Tradition eingeordnet werden. Beeindruckend sind hier die zahlreichen Verweise auf mögliche Referenztexte aus dem paganen wie christlichen Lager und die Interpretationen dieser intertextuellen Bezüge. Im Vergleich etwa zu antiken Klassikern finden sich indes Parallelen zu späteren Schriften des Ambrosius relativ selten (beispielsweise im Kapitel 8.4 umbra – veritas, aber auch immer wieder in Fussnoten, in denen vor allem auf übereinstimmende Formulierungen aufmerksam gemacht wird). Insofern untermauert dieser Teil, in dem Zwierlein ganz selbstverständlich vom jungen Ambrosius als dem Verfasser ausgeht, nur punktuell seine Beweisführung. Auch besteht freilich die Möglichkeit, dass das, was hier als Profil des Ambrosius ausgegeben wird, in weiten Teilen ebenso auf Zeitgenossen mit vergleichbarem Bildungshorizont zutrifft.
Trotzdem liegt nicht zuletzt in diesen Kapiteln der bleibende Wert der Studie: Sie ist in all ihren Teilen ein an umfassender Kenntnis kaum zu überbietender Kommentar zu DEH, in dem Fragen der Überlieferung ebenso berücksichtigt werden wie sprachliche Phänomene, der Umgang mit der Vorlage und die literarische, historische und theologische Kontextualisierung.
Was man allerdings vermisst, ist eine Conclusio, aus der neben einer Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse hervorgehen könnte, was mit der Zuschreibung der Verfasserschaft an Ambrosius einerseits für das Verständnis des Werkes, andererseits für das Bild des Autors gewonnen ist – ausser der Ergänzung seines Oeuvres um eine weitere Schrift. Zugegeben: eine nicht unbedeutende Schrift, die in den folgenden Jahrhunderten weite Verbreitung fand und die christliche Leserschaft im Hinblick auf ihr Verhältnis zum Judentum in ihrem Selbstverständnis als erwähltes Volk bestärkte. Dies umso mehr, wenn sie aus der Feder eines nachmals prominenten Kirchenvaters stammte … – aber umso erstaunlicher, dass keine unwiderlegbaren Zeugnisse existieren, die ihm das Werk zuschreiben.
Einen Gegenbeweis zu führen ist, wie Zwierlein mehrfach – und zurecht – betont, schwer und beim derzeitigen Kenntnisstand wohl auch nicht möglich. Dafür ist die Quellenlage zu lückenhaft. Letztlich ist es eine Frage der Grundeinstellung, ob man die ‚Wahrheitsfindung‘ auf plausible (!) Indizien begründet oder sich eher für ein Non liquet entscheidet. Die Rezensentin tendiert in Zweifelsfällen persönlich zu Letzterem. Auch zwei der aktuell führenden DEH-Experten, Richard Pollard, mit dem Zwierlein in Austausch stand, und Carson Bay, bleiben beim Ps.-Hegesippus.3
Zweifelsfrei aber ist, dass Zwierleins Studie künftig aufgrund ihrer philologischen Tiefe ein unumgängliches Standardwerk zum Text bleiben wird – wer auch immer ihn verfasst hat und welche Zuschreibung sich langfristig durchsetzen mag.
Chiara Somenzi, „Affinità di formazione scolastica tra Ambrogio e lo ps. Egesippo?“, in Nuovo e antico nella cultura greco-latina di IV–VI secolo, hg. v. Isabella Gualandri, Fabrizio Conca und Raffaele Passarella (Cisalpino Istituto editoriale universitario, 2005), S. 741–780.⬑
Chiara Somenzi, Egesippo – Ambrogio. Formazione scolastica e cristiana a Roma alla metà del IV secolo (Vita e Pensiero, 2009).⬑
Richard Pollard und Jean-Félix Aubé-Pronce, To the Discredit of His Name: Josephus, Hegesippus and the „Ruin of Jerusalem“ in the Early Middle Ages (erscheint demnächst); Carson Bay, Biblical Heroes and Classical Culture in Christian Late Antiquity: The Historiography, Exemplarity, and Anti-Judaism of Pseudo-Hegesippus (Cambridge University Press, 2023).⬑