Nachruf auf Simon Lauer s. A.
Universität Basel
Mit Simon Lauer ist einer der jüdischen Pioniere der universitären Judaistik in der Schweiz in den letzten Januartagen dieses Jahres in Zürich verstorben. Lauer war 1929 in Mannheim als Sohn des dortigen Klaus-Rabbiners Chaim Lauer und seiner Frau Elsa Lauer-Eppenstein geboren. Da der aus Osteuropa stammende Vater über dreissig Jahre lang in der Schweiz gelebt hatte und vor der Übersiedlung nach Mannheim 1925 Rabbiner in Biel gewesen war, besass die Familie das Schweizer Bürgerrecht und war somit nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zunächst weitgehend vor antijüdischen Angriffen geschützt. Simon Lauer hat vor etlichen Jahren anlässlich eines Jahrestags des Novemberpogroms von 1938 in einer Rückschau auf sein persönliches Erleben jener Zeit als Kind im Israelitischen Wochenblatt berichtet, dass dem Vater nach dem Pogrom hinterbracht wurde, die Nationalsozialisten planten ihn wegen Devisenvergehens anzuklagen. Gegen eine solche Klage hätte ihn sein Status als Ausländer nicht geschützt, und die Familie verliess Deutschland umgehend in Richtung Schweiz, wo der Vater erneut die Rabbinatsstelle in Biel antreten konnte, so dass Simon Lauer ab dem zehnten Lebensjahr dort aufwuchs.
Simon Lauer war ein Mann wissenschaftlicher Akkuratesse, die er sich selbst, aber auch anderen, die mit dem Anspruch auf Anerkennung ihrer Kenntnisse in wissenschaftlicher oder jüdischer Hinsicht auftraten, abverlangte. Seine tiefe Leidenschaft galt der Philologie, die für ihn zugleich eine Schule der Genauigkeit war. Denn ohne exakte, analytische Lektüre, so war Lauer bewusst, war die Durchdringung von Texten nicht möglich – und eine solche genaue Durchdringung von Texten, das war ihm klar, war die Wurzel des griechischen, des jüdischen – ja, des philosophischen wie des theologischen Denkens schlechthin. Und die Verbindung von Wissenschaft und Religion, von jüdischem Wissen und Glauben, mit dem er aufgewachsen war, und der Faszination für griechische Dichtung und Sprache durchzieht sein Lebenswerk. So promovierte er 1957 in Bern mit der 1959 veröffentlichten Dissertation Zur Wortstellung bei Pindar.
Nach vielen Jahren des Wirkens als Gymnasiallehrer für Alte Sprachen in Glarus und St. Gallen erhielt Simon Lauer in den 1980er Jahren durch den Ruf als Jüdischer Lehr- und Forschungsbeauftragter an die Theologische Fakultät in Luzern an der Seite von Clemens Thoma die Gelegenheit, sich hauptberuflich der Forschung und Übersetzung zu widmen. Gemeinsam mit Thoma gab er die beiden ersten Teile der Reihe Die Gleichnisse der Rabbinen heraus. Die Zusammenarbeit eines christlichen Theologen und eines jüdischen Philologen war speziell darauf angelegt, die jeweils religionsspezifischen Interpretationen, die aus beiden Religionen in diese Texte hineingelegt wurden, berücksichtigt zu wissen – eine christlich-jüdische Begegnung auf der Basis akribischer Textarbeit, wie sie charakteristischer für Simon Lauer nicht hätte sein können.
Zugleich erkannte Simon Lauer auch die Notwendigkeit, wissenschaftliche Netzwerke zu bauen, und durch seine Luzerner Tätigkeit im dort 1981 gegründeten Institut für jüdisch-christliche Forschung sah er sich als Vertreter der Judaistik, eines Fachbereichs, der damals in der Schweiz noch sehr neu und schwach war und es umso nötiger hatte, alle ernsthaft damit befassten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler miteinander in Verbindung zu bringen. So war er 1982 Mitbegründer und Gründungspräsident der Schweizerischen Gesellschaft für judaistische Forschung, die, schon vor der Gründung judaistischer Professuren und Institute an weiteren schweizerischen Universitäten wie Basel, Bern und Lausanne, eine Plattform bot, auf der sich die einschlägig tätigen Forschenden austauschen konnten. Auch durch seine langjährige Tätigkeit in der Redaktionskommission der Zeitschrift Judaica hat er zur Pflege wissenschaftlicher Forschung und zur Emanzipation der jüdischen Stimme im einst ganz von der christlichen Theologie beherrschten Fach Judaistik wesentlich beigetragen.
Die Beiträge, die Simon Lauer zum interreligiösen Dialog leistete, sowohl als Vermittler und Experte wie als Mitherausgeber der wissenschaftlichen Buchreihe Judaica et Christiana, haben, vor allem was die Kontakte zwischen Judentum und katholischer Kirche betreffen, sein Bild in der Öffentlichkeit stark geprägt. Weniger bekannt ist, dass er, wiederum über seine philologische Tätigkeit, auch mit islamischem Denken befasst war. So erschien 1996 die von ihm in Zusammenarbeit mit dem Semitisten Erwin Rosenthal erstellte deutsche Übersetzung von Averroes‘ Kommentar zu Platons Politeia, basierend auf der mittelalterlichen hebräischen Übersetzung, die das einzige noch vorhandene Zeugnis der verschollenen arabischen Schrift des muslimischen Philosophen ist. Sich selbst und seiner Familie hat Simon Lauer 2003 schliesslich mit dem Buch Wandern – Verlieren – Finden: Jüdische und nichtjüdische Lebenswelten 1870–2000 ein literarisches Denkmal gesetzt, in dem er vor dem Mikrokosmos einer Familie die Geschichte des europäischen Judentums von über hundert Jahren rekapitulierte.
Lauer, der früh verwitwet war, zog nach seiner Pensionierung nach Basel, bevor er sich in der Nähe seiner beiden Kinder und der Enkel in Zürich niederliess, wo er auch noch miterleben durfte, dass er Urgrossvater wurde. Bis zuletzt blieb er ein messerscharf urteilender, an wissenschaftlichen Diskursen interessierter Gelehrter, jeder Kontakt mit ihm liess das Gegenüber um neues Wissen bereichert zurück.
Seinem Wunsch entsprechend hat Simon Lauer seine letzte Ruhestätte in Biel nahe den Gräbern seiner Eltern gefunden.
Basel, im Februar 2025
Alfred Bodenheimer