David Frankfurter: Ich tötete einen Nazi. Erzählt und bearbeitet von Schalom Ben-Chorin, herausgegeben von Sabina Bossert und Janis Lutz. S. Marix Verlag, 2022. 320 S., EUR 22, ISBN 978-3-7374-1202-5
Universität Hamburg
Die Geschichte selbst ist weitgehend bekannt: Am 4. Februar 1936 erschoss der jüdische Medizinstudent David Frankfurter in Davos den NSDAP-Landesgruppenleiter in der Schweiz, Wilhelm Gustloff. Der Schütze stellte sich der Polizei, wurde vom Gericht in Chur zu einer Haftstrafe verurteilt und überlebte Shoah und Zweiten Weltkrieg in Schweizer Gefängnissen. 1945 wurde er begnadigt und wanderte nach Palästina aus. Das Attentat auf Wilhelm Gustloff ebenso wie der anschließende Prozess gegen Frankfurter schlugen international hohe Wellen und wurden mehrfach literarisch und filmisch verarbeitet. Emil Ludwigs Mord in Davos (1936) war bis Kriegsende in Deutschland und der Schweiz verboten. Es wurde 1945 und 1986 in jeweils erweiterten Ausgaben neu herausgebracht. Wolfgang Dierweges Ein Jude hat geschossen von 1937 war dagegen Teil der NS-Propaganda, mit der Druck auf die Schweizer Behörden ausgeübt werden sollte. Ebenfalls 1937 erschien in Frankreich L’Affaire Frankfurter von Pierre Bloch und Didier Meran. Zwei Jahre später tauchte David Frankfurter als Romanfigur in Mr. Emmanuel von Louis Golding auf. Ein Schweizer Spielfilm von Rolf Lyssy mit dem Titel Konfrontation hatte 1974 Premiere. Auch Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang (2002) verknüpft Elemente des Attentats mit der Geschichte vom Untergang des von den Nazis nach Gustloff benannten Schiffes.
Einem deutschsprachigen Publikum weniger bekannt gewesen sein dürfte bis vor wenigen Jahren dagegen die Tatsache, dass David Frankfurter von März bis Juni 1946 in Jerusalem mit dem aus München stammenden Schriftsteller Schalom Ben-Chorin (Fritz Rosenthal) an der Niederschrift seiner Memoiren gearbeitet hat. Erst 66 Jahre nach Fertigstellung wurde Frankfurters Selbstzeugnis im hier besprochenen Band erstmals ungekürzt in deutscher Sprache veröffentlicht. Es ist in mehrfacher Hinsicht eine bemerkenswerte Veröffentlichung.
Bemerkenswert sind zum einen die vielen Schichten aus Text und Paratext, von denen das eigentliche Skandalon, die vorsätzliche Tötung eines Menschen aus politischen Gründen, sorgfältig ummantelt ist. Die Beschreibung der Tat selbst, auf die der bekenntnishafte Titel Ich tötete einen Nazi verweist, umfasst vom Betreten des Hauses bis zum Verlassen desselben nach den Schüssen auf Gustloff gerade einmal zwei Seiten (105-107). Eingebettet ist die entscheidende Szene in mehr als 200 Seiten weitreichender autobiografischer Schilderungen und Reflexionen: von Frankfurters Kindheit über die Studienzeit bis zur Vorbereitung und Planung der Tat einerseits und von der Verhaftung über den Prozess, die Haft und die Begnadigung nach Kriegsende bis zur Auswanderung nach Palästina andererseits. Den eigentlichen Memoiren sind zwei Zitate aus dem Buch Devarim (Verse 13:5 und 25:17), eines aus Franz Werfels Die vierzig Tage des Mussa Dagh und eines von Dante Alighieri als Motti sowie eine Widmung für Frankfurters ermordeten Vater und die ermordeten Kinder seiner Schwester vorangestellt. Sechs der zwölf Kapitel werden zusätzlich durch mindestens ein literarisches Zitat eingeleitet. Die Erzählung endet mit dem Vers Jesaia 54:13 in der Deutung von Rabbi Chanina und wird von einem eineinhalbseitigen Nachwort von Ben-Chorin ergänzt, der von der gemeinsamen Arbeit am Manuskript in Jerusalem im Sommer 1946 berichtet und die historische Bedeutsamkeit der Tat und der Person Frankfurters betont. Über seinen eigenen Anteil an der Textgestalt schreibt Ben-Chorin: „Es ist sein Buch. Er hat mir die Geschichte seines Lebens erzählt und ich habe sie getreu diesem Bericht aufgezeichnet. Die hier vertretenen Ansichten sind daher die seinen: Nur Formulierung und Stilisierung waren mein Werk.“ (255).
Soweit der bereits vielfach gerahmte, historische Text von 1946. Dieser wird in der vorliegenden Ausgabe von weiteren paratextuellen Schichten aus heutiger Perspektive umschlossen. Ein Vorwort von Janis Lutz (9-17) verortet die Herausgabe von Frankfurters Memoiren im Kontext der 2022 im Jüdischen Museum Frankfurt gezeigten Ausstellung „Rache: Geschichte und Fantasie“. Ebenfalls vorangestellt sind Erläuterungen zur Entstehungsgeschichte (19-40) von Mitherausgeberin und Frankfurter-Expertin Sabina Bossert, die auf ihrer 2019 in der Reihe „Jüdische Moderne“ erschienenen Dissertation David Frankfurter (1909-1982). Das Selbstbild des Gustloff-Attentäters beruhen. Hinzu kommen mehrere nachgeschaltete Paratexte: Auf das Nachwort von Ben-Chorin folgen sieben Seiten historische Fotos und Dokumente sowie ein weiteres Nachwort (264-285) von Micha Brumlik, das die literarische Wirkungsgeschichte des Mordes in den Blick nimmt. Umfangreiche Anmerkungen (286-311) zu allen Textteilen sowie ein achtseitiges Glossar wichtiger Begriffe unterstreichen den Einordnungs- und Vermittlungsanspruch dieser späten Erstveröffentlichung.
Der Anspruch wird umso deutlicher, wenn man einen vergleichenden Blick auf die beiden zeitnah zur Niederschrift erschienenen Übersetzungen wirft. Eine hebräische Ausgabe in der Übersetzung von Eliyahu David Shapir erschien 1948 im Verlag Am Oved unter dem unzweideutigen Titel Nakam [Rache]. Die einzigen Paratexte sind Ben-Chorins Bemerkungen als Vorwort, Devarim 25:17 und das Werfel-Zitat als Motti sowie die Widmung an den Vater. Das amerikanische Magazin Commentary wiederum druckte im Februar 1950 in der Übersetzung von Ralph Manheim unter dem Titel „I Kill a Nazi Gauleiter: Memoir of a Jewish Assassin“ einen gekürzten Auszug der Kapitel „Schüsse in Davos“ und „Ich stelle mich selbst der Polizei“, dem lediglich eine knappe Vorbemerkung zum historischen Ereignis und zur hebräischen Ausgabe sowie der Vers aus Devarim 13:5 vorausgehen. Es scheint, dass das bereits in den Memoiren selbst erkennbare Bedürfnis nach Rahmung, Erläuterung und Kommentierung des unerhörten Ereignisses mit zunehmender historischer Distanz immer weiter gewachsen ist. Auch die Neuausgabe der hebräischen Fassung von 1984 wurde um diverse Paratexte erweitert.
Nicht weniger bemerkenswert als ihre paratextuelle Ummantelung ist Frankfurters Erzählung selbst. Die Darstellung des eigenen Lebens vor und nach der Tat wird konsequent durch die Tat selbst gelesen, was zu teils kuriosen Formen retrospektiver Vorausdeutung führt. Ob kindliche Begeisterung für biblische Figuren wie Moses und David, die Schullektüre von Kleists Michael Kohlhaas oder Nachrichten vom Prozess gegen Scholom Schwartzbard 1927 – alles wird immer schon vor dem Hintergrund der späteren Schüsse in Davos verhandelt. Die von Frankfurter empfundene „sittliche Notwendigkeit, Unrecht und Schmach meines Volkes zu rächen“ (71) wird nicht nur mit den 1936 bereits umgesetzten antijüdischen Maßnahmen in NS-Deutschland begründet, auch die zu dem Zeitpunkt noch zukünftigen NS-Verbrechen, etwa die Ermordung von Frankfurters Nichte, Neffe und Schwager werden herangezogen. Das spätere Wissen um das Ausmaß der NS-Verbrechen sowie die Lektüre des Buches von Emil Ludwig, den Frankfurter nach seiner Freilassung persönlich traf (245-247), führen zu nachvollziehbaren Interferenzen im Zeithorizont, die der Eindrücklichkeit der Schilderung jedoch keinen Abbruch tun.
Besonders auffällig ist zudem die intensive Durchdringung der Autobiografie mit literarischen Verweisen, die der sehr konkreten historischen Momentaufnahme eine universelle Dimension verleihen. Die ersten Pläne für ein Attentat auf Hermann Göring werden direkt mit Simsons Rache an den Philistern verknüpft, ein Zitat aus Friedrich Schillers Wilhelm Tell leitet das Kapitel „Die Tat reift“ ein, die biblische Geschichte von Amalek wird ebenso aufgerufen wie Psalm 94 oder ein serbisches Nationalepos. Was davon Frankfurters eigener Beitrag und was Ben-Chorins „Stilisierung“ ist, muss vorläufig offen bleiben. Die Herausgebenden haben sich jedenfalls alle Mühe gegeben, die Verweise in den Fußnoten zu entschlüsseln. Dasselbe gilt für die zahlreichen Personen, die Frankfurter namentlich erwähnt. So entsteht ein subjektives und vielschichtiges Bild. Nicht so sehr von dem David Frankfurter, der 1936 Wilhelm Gustloff erschoss, sondern von dem David Frankfurter, der zehn Jahre später in Jerusalem über seine Tat nachdenkt und sie in größere historische, politische, religiöse und moralische Zusammenhänge einzuordnen versucht.
Entsprechend vielfältig sind die Deutungen der Tat, die Frankfurter in seinen Erinnerungen anführt. Nicht alle Lesarten sind seine eigenen, aber sie lassen gerade in ihrer Unterschiedlichkeit erahnen, wie schwerwiegend die Störung der moralischen Ordnung (nicht nur durch den Mord an Gustloff, sondern auch durch die zugrundeliegenden Ereignisse in NS-Deutschland) und wie abhängig ihre Bewertung vom Standpunkt des Bewertenden war. Frankfurter selbst beschreibt sein Handeln als unausweichlich: „Die Tat, die vergeltende, die aufrüttelnde, die unabwendbare Tat – sie musste vollzogen werden“ (80). An anderer Stelle wird die empfundene Pflicht zum Handeln um eine religiöse Dimension erweitert: „Ich fühlte mich als kleines und geringes Werkzeug in Gottes Hand“ (86). In historischer Perspektive stellt sich Frankfurter selbst in eine Reihe jüdischer Rächer zwischen seinem ‚Lehrer‘ Scholom Schwartzbard und seinem ‚Schüler‘ Herschel Grynszpan – eine Genealogie, die Ben-Chorin in seinem Nachwort um „die Helden des Warschauer Ghettos, die jüdischen Partisanen […] und unsere Kämpfer von der Jüdischen Brigade“ erweitert. „David Frankfurter war der Erste“, schreibt Ben-Chorin, „und damit ist er – ohne es zu wissen und es zu wollen – ein Vorbild für uns geworden“ (256). Emil Ludwig, dessen Buch Frankfurter ausführlich bespricht, zieht zudem Parallelen zu politischen Morden seit Antike. Aber sollte der Mord an Wilhelm Gustloff, der nach nicht verwirklichten Attentatsplänen gegen Hitler und Göring eher zufällig zum Ziel von Frankfurter wurde, konkrete politische Veränderungen herbeiführen oder war es vor allem ein verzweifelter Weckruf, der die öffentliche Aufmerksamkeit auf das jüdische Schicksal lenken sollte? Diese Frage ist nicht eindeutig zu beantworten. Im Rahmen des Prozesses gegen Frankfurter wurden weitere Deutungen diskutiert. Die Verschwörungserzählung der NS-Propaganda, Frankfurter habe im Auftrag jüdischer Hintermänner gehandelt, war ebenso haltlos wie die pathologisierende Herleitung aus Frankfurters Gesundheitszustand. Frankfurters Verteidiger plädierte darauf, dass „ein junger Jude von einem Daueraffekt erfüllt war, dem er in gerechtem Zorn eine vergeltende Tat folgen ließ“ (170, Herv. i. Orig.). Auslöser sei die grausame Judenverfolgung der Nazis gewesen, die vor Gericht durch zahlreiche Dokumente belegt wurde. Dass Frankfurter trotz der vorliegenden Beweise zu 18 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, schreibt er dem immensen Druck des NS-Regimes zu. Die prekäre Situation der vermeintlich ‚neutralen‘ Schweiz vor dem Hintergrund massiver nationalsozialistischer Einflussnahme, durchaus vorhandener Sympathien und drohender Invasion wird in Frankfurters Erinnerungen an vielen Stellen deutlich. Seine Beschreibungen der Prozessbeteiligten, der Wärter und Mitgefangenen, der erfahrenen Solidarität wie der erlebten Anfeindungen zeichnen ein komplexes Bild der Schweizer Gesellschaft seiner Zeit.
Aufgrund ihrer weitgehenden Uneindeutigkeit und gelegentlichen Widersprüchlichkeit, dem ständigen Wechsel zwischen Bericht, Reflexion und literarischer Assoziation sind Frankfurters Ausführungen ein idealer Ausgangspunkt für das Nachdenken über Recht und Gerechtigkeit sowie über die Grenzen institutioneller Rechtsprechung. Letztlich stellt sich an diesem konkreten Beispiel die grundsätzliche Frage, ob und in welcher Ausnahmesituation ein gewaltsamer Racheakt für ein juristisch nicht adäquat erfassbares Verbrechen legitim ist und dabei helfen kann, ein zutiefst gestörtes Gerechtigkeitsempfinden wiederherzustellen.