Vassiliki Pothou. Thukydides Second-Hand bei Josephus: Zur Rezeption thukydideischer Motive im Bellum Judaicum. Brill, 2023. xxvi, 255 S., EUR 120, ISBN 9789004545861

A. Judith Göppinger 
Hebräische Universität Jerusalem
AgnesJudith.Goeppinger@mail.huji.ac.il

Inhalt

Anmerkungen

Eine systematische Analyse der thukydideischen Motive in Flavius Josephus’ Bellum Judaicum ist trotz der bereits dazu erschienen Forschungsliteratur (insbesondere die Arbeiten von Jonathan Price) nach wie vor ein vielversprechendes und wichtiges Unterfangen. Die Übernahme thukydideischer Motive und stilistischer Eigenheiten ist in der Josephusforschung keinesfalls umstritten. Dennoch wäre eine ausführliche und detaillierte Analyse wünschenswert und lieferte einen beträchtlichen Beitrag zur Weiterentwicklung des Feldes.

Die von Vassiliki Pothou (folgend P.) vorgelegte Studie kann diesen Beitrag leider nur in sehr begrenztem Umfang leisten. P. baut die Untersuchung auf Intertextualität (im Sinne einer réécriture Cussets) auf – sie geht dabei davon aus, dass Übernahmen und Einflüsse aus einer Vorlage nicht immer direkt als solche gekennzeichnet werden müssen oder erkennbar sind; vielmehr geht es ihr um eine Art Ideenraum, auf den die Leser*innen Zugriff haben und von dem aus sie die Einbindung thukydideischer Motive und Formulierungen identifizieren können. Leider thematisiert P. dieses Publikum erst auf Seite 111, dabei ist die Frage nach den Leser*innen hinsichtlich der Intertextualität zentral. Die Ausgangsposition überzeugt, doch verliert sich der rote Faden im Werk.

Nach den einführenden Überlegungen (1-26) setzt sich P. ausführlich mit der Thematik der Sprache auseinander, die für eine intertextuelle Interpretation fundamental ist (27-54). Es folgt ein grosses Kapitel „Intertextuelle Strategie: Propaganda im Rahmen des Ekklektizismus“ (54-166), in dem P. in 13 (!) Unterkapiteln die verschiedenen möglichen Motive aufzeigt, die Josephus von Thukydides übernommen haben könnte. Hier wäre für die Leser*innen eine klarere Differenzierung wünschenswert gewesen, welche Motive Thukydides und Josephus mit vielen anderen antiken Autoren teilen – beispielsweise das Motiv der Belagerung oder das der desaströsen Folgen eines Krieges für Mensch und Umwelt – und welche Motive so eindeutig nur bei Josephus und Thukydides zu finden sind. Das hätte P.s Argument deutlich stärken können. Es folgt ein Kapitel zu „Josephus Geographicus“ (117-122), woraufhin in Kapitel 5 plötzlich die vorher nicht behandelte „Interfiguralität“ zur Sprache kommt (123-133). Schliesslich widmet sich das Kapitel „Über die Kunst des Krieges“ den „allgemeine(n) Bemerkungen über die Kriegskunst“, die P. als „wichtige Kategorie“ identifiziert, da „die militärischen Beobachtungen von Josephus beweisen, dass der Historiker militärische Vorstellungen seines Vorbilds für die Veredelung seiner Texte motivisch verwendet“ (134). Militärische Motive oder die Diskussion von Kriegsführung als Kunst sind nun leider nicht exklusiv thukydideisch, sondern ein weitverbreitetes Phänomen in der antiken Literatur, gerade auch in Rom. Das zeigen zum Beispiel die von Josephus selbst erwähnten Hypomnemata Vespasians und Titus’ (Vita 358). P. begründet nicht, worin die Beweiskraft einer derart präsenten Kriegsthematik – in einem Werk über einen spezifischen Krieg – hinsichtlich einer Übernahme thukydideischer Motive liegt. Die Kapitel „Nomos“ (164-168), „Stasis“ (169-173, wo eine ausführliche Diskussion der Arbeiten Jonathan Prices vermisst wird), „Philosophische Reminiszenzen“ (174-178), „Psychologische Referenzpunkte“ (179-184), „Josephus Pius: Intertextualität und Gebet“ (185-190) und „Intertextualität und Chronologie“ (191-194) sind allesamt sehr kurz geraten und werfen lediglich Schlaglichter auf die Thematik. Das vorletzte Kapitel setzt sich mit den beiden Autoren (195-223) auseinander, das letzte mit den „Mitarbeitern“ oder „Helfern“ Josephus’ (224-230). Auf ein Fazit wurde verzichtet, was die Untersuchung nicht nur unvermittelt abbrechen lässt, sondern auch keine Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse zulässt.

Auch die Formalia stellen vor einige Verständnisprobleme. Das Werk bietet zweierlei Literaturverzeichnisse: ein Abkürzungsverzeichnis zu Beginn, gegliedert in Monographien und Aufsätze, sowie eine thematisch geordnete Bibliographie am Ende (Intertextualität, Josephus, Thukydides). Das macht das Nachvollziehen der genutzten Literatur unnötig kompliziert. Die Kapitel sind unterschiedlich strukturiert, umfassen zum Teil nur drei Seiten, zum Teil diverse Unterkapitel. Das Inhaltsverzeichnis ist uneinheitlich bezüglich der Gross- und Kleinschreibung. Ein seriöses Lektorat hätte all das beheben können. Einige Zitate in modernen Sprachen übersetzt P., andere nicht, was zu einer erschwerten Lesbarkeit führt. Das Werk ist auf Deutsch verfasst, was P. hoch anzurechnen ist, ist die Abfassung einer wissenschaftlichen Analyse in einer anderen als der Muttersprache grundsätzlich kein leichtes Unterfangen. Allerdings hätte der Text von einem Lektorat seitens des Verlags deutlich profitieren können, vor allem hinsichtlich Lesbarkeit und Nachvollziehbarkeit. Häufig sieht man sich mit einer Aneinanderreihung von Aussagen und Zitaten konfrontiert, mit vielen Sprüngen im Text und es bleibt folglich unklar, welchem Argument Gewicht zukommen soll und welche Position P. selbst einnimmt im Vergleich zu der von ihr referierten Forschungsliteratur. Leider sind auch einige Formulierungen mindestens verunglückt: Alexandria wird zu Philons „exotische(r) Heimat“ (34) und das dortige Pogrom 38 n. Chr. als „gelegentliche Unstimmigkeit“ unter vielen bezeichnet, die „nicht ernsthaft die Integration und den Wohlstand der Juden“ bedroht habe (35) – eine höchst irritierende Beschreibung eines Gewaltexzesses. Ebenfalls missverständlich ist die Formulierung vieler Fragen zum jeweils thematisierten Sachverhalt, deren Beantwortung P. dann aber schuldig bleibt (beispielsweise S. 43: „Wenn Philon, nach Schwartz, ein Philosoph war, der Geschichte verfasste – ist womöglich Josephus ein Historiker, der Philosophie trieb?“).

Für eine grundsätzlichere inhaltliche Kritik sollen einige Beispiele genügen, da sie stellvertretend für die Problematiken in P.s Analyse stehen. Es wird ein fundamentaler Gegensatz zwischen Judentum und Hellenismus konstatiert (16) den P. mit Bell. VI,301 belegt – dort berichtet Josephus von einem Propheten, der durch eine Stimme aus dem Osten und eine aus dem Westen den Untergang Jerusalems voraussagt. Ebenfalls kann Ap. I,50 nicht die laut P. von Josephus selbst zugegebene Verwendung mündlicher Überlieferung zur Abfassung seines Werks belegen (35).1

P. bezeichnet Josephus mehrfach als jüdischen Priester (z. B. S. 185, wo P. ihm zu Beginn des jüdischen Krieges eine Funktion als Priester zuschreibt), was mindestens ungenau wenn nicht falsch ist – er entstammt einer priesterlichen Familie, hat aber nicht nachweislich als Priester gewirkt und behauptet das von sich selbst an keiner Stelle. Josephus ist für P. einmal ein selbstständig agierender Historiker, der von einem Assistenten nur stilistische Hilfe erhalten hat (31) – um dann im letzten Kapitel lediglich als Namensgeber für eine ganze Werkstatt an anonymen Autoren zu fungieren: „Die Benennung ‚Flavius Josephus‘ meint den jüdischen Historiker und seine ‚Werkstatt‘. Die Anonymität der Mitarbeiter war die Voraussetzung für die Bewilligung und Veröffentlichung des Werkes unter dem Namen des jüdischen Historikers“ (230). Die eigentlich wichtige Analyse einzelner Motive, die sich bei Thukydides und Josephus decken (beispielsweise Pest und Hungersnot, Demos und Polis, Belagerung etc.), geht durch diese unsaubere Arbeitsweise und die Widersprüche innerhalb der Untersuchung unter und muss mühevoll aus dem Text extrahiert werden. Das ist bedauerlich. Dennoch öffnet P. mit der Frage nach Intertextualität und was darunter verstanden werden kann einen neuen Weg für die Josephus-Forschung.

Anmerkungen

  1. Und auch der Verweis auf Chapman, die diskutiert, was bei Josephus eigentlich unter φωνή zu verstehen ist, läuft damit ins Leere beziehungsweise wird Chapmans Argument vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen.