Catherine Hezser. Rabbinic Scholarship in the Context of Late Antique Scholasticism: The Development of the Talmud Yerushalmi. Bloomsbury Academic, 2025. 360 S., USD 150, ISBN 978-1-3504-2098-4

Gerhard Langer 
Universität Wien
gerhard.langer@univie.ac.at

Die in Wuppertal geborene Catherine Hezser ist seit Jahren Professorin am Department of Religions and Philosophies & School of History, Religions and Philosophies der Londoner School of Oriental and African Studies. Sie gilt als herausragende Spezialistin für die Sozialgeschichte des rabbinischen Judentums in der römisch-hellenistischen Zeit und für den griechisch-römischen und frühchristlichen Kontext, in dem das Judentum existierte. Der vorliegende Band reiht sich ein in eine Folge von durch sie publizierten hervorragenden Studien und Herausgeberschaften zu diesem Thema. Grundlegend ist die Feststellung, dass das Judentum nicht im luftleeren Raum existierte, sondern aktiver Teil einer Kultur war, dass es einen wichtigen Platz im intellektuellen „scholastischen“ Milieu der Zeit einnahm. Der Untersuchungsgegenstand ist das Judentum im Kontext dieses intellektuellen Milieus im römischen Palästina. Philosophie, Rechtswissenschaften, christliche Lehre, sie alle bedienen sich gewisser intellektueller Grundlagen und Methoden, Praktiken und Arten der Weitergabe von Tradition. Hezser zeigt in über 300 Seiten auf, wie sehr die Rabbinen im Prinzip diese teilten. Der im 5. Jh. endredigierte Jerusalemer oder palästinische Talmud, der Yerushalmi, steht dabei sozusagen als dauerhafter Bezugs- bzw. Endpunkt im Raum.

Hezser teilt ihre Analyse in drei große Teile. Der erste beschäftigt sich mit der Rolle und Funktion der Rabbinen und mit ihren Schülern, der Beziehung zwischen beiden, der Art des Lernens und Zusammenlebens und mit den Lernorten. Dabei fördert sie die Gemeinsamkeiten mit philosophischen Schulen, Rhetorikern und Kirchenvätern, was die Art und Weise des Zusammenlebens und der Weitergabe von Lehre betrifft, zutage. Mehrfach kommt Hezser auf die Bedeutung der mündlichen Überlieferung von Lernstoffen zu sprechen, verweist auf die Funktion des Memorierens, die Unterschiede zwischen Rabbinen und römischen Juristen in Bezug auf den Zugang zu Schriften und kommt auf die Gemeinsamkeit in Bezug auf die Dialogform des Unterrichts zu sprechen. Während christliche Gelehrte diese eher dazu nützten, gegenüber Gegnern die aus ihrer Sicht richtige Lehre zu vermitteln, nützten Sokratiker, römische Rhetoriker, Juristen und Rabbinen die Form des Dialogs als wichtiges pädagogisches Mittel und Einübung in den Berufsstand. Auch die Form der Frage und Antwort, also die Response, fand hier bereits Anwendung. Bakhtins Rede vom Dialog als Polyphonie trifft auch auf die rabbinische Tradition zu, die sich ihrerseits in aller Heterogenität auf eine Quelle, den „Hirten“, Gott, zurückbezieht. Es gibt keine Trennung von Religion und Recht im modernen Sinn. Juristen und Rabbinen teilten ihre Aufgaben als Vermittler und Vertreter des jeweiligen Rechts. Judentum nützte römisches Recht und war Teil der römischen Kultur.

Im zweiten Teil widmet sich Hezser der Überlieferung von Wissen. Hier thematisiert sie u. a. die Problematik, Überlieferungen mit namentlich genannten Rabbinen historisch verwertbar zu machen. Im Unterschied zur Jesus-Tradition, aber auch zu griechisch-römischen Quellen zu den Philosophen oder Sophisten (Diogenes Laertius, Philostratus etc.), waren die Rabbinen weit weniger an den Individuen als an den Botschaften interessiert. Netzwerkanalysen liefern inzwischen wichtige Hinweise zur Verbreitung von gewissen Traditionen einzelner Rabbinen. Die in rabbinischen Quellen vorkommenden Traditionsketten sind ebenfalls Thema. Eine kohärente (Lehr-)Biografie oder eine Schultradition kann für die Rabbinen kaum konstruiert werden. Wiederum verweist Hezser auf Überlieferungen durch mündliche Weitergabe im Zusammenspiel mit Notizen und schriftlichen Aufzeichnungen. Wichtig ist auch, dass Tradition nichts Erstarrtes ist, sondern im Gegenteil der Erneuerung dient, nicht zuletzt in rechtlicher Hinsicht. Hier gibt es wieder Übereinstimmung mit den griechisch-römischen und christlichen Texten und Praktiken. Hezser geht schließlich auf Formen der Überlieferung ein, wozu die „case stories“, der rechtliche Kommentar, die Parabel oder die Beispielerzählung („example stories“) gehören, um nur einige zu nennen. Sie erwähnt den Midrasch als Schriftexegese und geht auf den Pescher in Qumran ein und verweist auf die römischen Rechtssammlungen wie die Digesten des Justinian, aber auch auf die Paulussentenzen oder auf Ulpians Schriften, die Iuris Epitomae des Hermogenianus und die Fragmenta Vaticana, die sie in eine Verbindung zur Entstehung des Jerusalemer Talmuds aus vorhandenen Anthologien und Traditionen bringt.

Im dritten Teil geht Hezser auf den Prozess der Entstehung des rabbinischen Dokuments als kompilatorischen Prozess ein. Auch hier stellt sie wieder einen Vergleich zwischen römischen, persischen und rabbinischen Sammlungen an. Sammlungsprozesse verortet sie in Umbruchszeiten, etwa als das römische Reich christlich und das Christentum „orthodox“ wurde. Die Digesten des Justinian, ein Auftragswerk zur Sammlung vorhandenen Rechts, entstanden in Konstantinopel, die Apophtegmata Patrum, eine Sprüchesammlung von christlichen Wüstenvätern, wohl in Gaza, der Jerusalemer Talmud zum großen Teil in Sepphoris in Galiläa. Der Yerushalmi war weniger durchstrukturiert als die Digesten und beruhte auf schriftlichen (Bibel, Mischna, Tosefta, Baraitot-Sammlungen) und mündlich-tradierten Materialien. Die Herausgeber und Redaktoren mussten ihrer Meinung nach gut vernetzt und auch vermögend sein, um sich teure schriftliche Quellen leisten zu können. Die Sammlungen waren nicht personen-, sondern themen- und problemorientiert und folgten dem Aufbau der Mischna. Hezser vergleicht den Yerushalmi auch mit Plutarchs Quaestiones in Bezug auf Komposition und Quellenverarbeitung. Was war nun seine Intention? Hezser vermutet, dass die Hauptaufgabe des Yerushalmi eine erzieherische war, um Rabbinen bzw. Rechtsgelehrte zu unterrichten und auszubilden sowie sie zur Weiterarbeit an den (rechtlichen) Problemen zu ermuntern. Dabei diente er „weltlichen“ wie „religiösen“ Aufgaben und war ein wichtiger Teil der Identitätsbildung des Judentums nicht zuletzt in Abhebung von einem Christentum, das die biblische Tradition für sich vereinnahmte.

Hezsers Buch ist ein in mehreren Durchgängen überzeugend dargestellter Nachweis, dass im spätantiken römischen Reich zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen jüdischen und nichtjüdischen Gelehrten bestanden, dass sie gewissermaßen Teil einer gemeinsamen Wissenskultur waren. Diese Erkenntnis ist wichtig, um das Judentum der Spätantike nicht vorschnell als Parallelgesellschaft misszuverstehen. Vergleichende Studien existieren inzwischen auch zum babylonischen Talmud und seine Bezüge zur persischen Kultur. Hezser eröffnet den Blick auf eine intellektuelle Welt, die viel mehr gemeinsam hatte, als man annehmen möchte. Dies ist wichtig und erfrischend gerade in Zeiten, in denen das Trennende zu sehr betont wird. Gleichwohl braucht es den Blick auf die spezifischen Inhalte, auf das, was eben das „Jüdische“ ausmacht. Kritisch anmerken mag man vielleicht, dass Hezser kaum nicht-englischsprachige Studien einbezieht bzw. zitiert. Mitunter würde man sich auch etwas mehr Beispiele erwarten, und naturgemäß ist zu wenig Platz, um bei inhaltlichen Themen – wie etwa der Bezug zu Frauen, zu Nichtgebildeten oder Sklaven – etwas differenzierter und ausführlicher zu schreiben. Religiöse und ethische Übereinstimmungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Quellen werden angesprochen – etwa beispielhaft in Bezug auf Selbstkontrolle -, sind aber durchaus ausbaubar. Alles in allem bleibt der Eindruck einer schönen und wichtigen Studie, die auch zur Interdisziplinarität mahnt. Sie richtet sich zweifelsfrei nicht an ein Publikum ohne Vorwissen und setzt eine gewisse Kenntnis der spätantiken Quellen voraus.