Manfred Deselaers im Gespräch mit Piotr Żyłka. Die Wunde von Auschwitz berühren: Ein deutscher Priester erzählt. Aus dem Polnischen übersetzt von Andreas Volk. Herder, 2024. 303 Seiten, EUR 25, ISBN 978-3-451-39663-2

Gerhard Langer 
Universität Wien
gerhard.langer@univie.ac.at

Manfred Deselaers,  Dr. theol., ist 1955 in Düsseldorf geboren. Er studierte in Tübingen und Chicago Theologie und wurde 1983 in Aachen zum Priester geweiht. Er lebt seit 1990 in Auschwitz/Oświęcim und ließ sich in Yad Vashem zum Holocaust Educator ausbilden. Seit 1995 arbeitet er am katholischen „Zent­rum für Dialog und Gebet“, am Rande der Staatlichen Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, seit 2010 auch im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz. Für seinen Einsatz für die deutsch-polnische und die christlich-jüdische Versöhnung wurde er 2008 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Deselaers sagt von sich, dass er zwei Heimaten hat – Deutschland und Polen – , und sich darin als Brückenbauer versteht, als „Pontifex“, wie er in einem Bayern2-Interview bekennt. In 15 Gesprächen erzählte er dem polnischen katholischen Journalisten Piotr Żyłka über das Leben „eines deutschen Priesters am Rande von Auschwitz“ (Polnisch: „Niemiecki ksiądz u progu Auschwitz“), woraus das hier besprochene Buch entstand. Es war 2023 fertig, noch vor dem 7. Oktober. In einem danach entstandenen Vorwort schreibt Deselaers schließlich über die vielen jüdischen Menschen, die Auschwitz besuchen: „Und wir verstehen, dass für die allermeisten von ihnen, selbst wenn sie nicht in Israel leben, der jüdische Staat die wichtigste Antwort auf die Schoa war: eine sichere Heimat in einer Welt, in der überall Antisemitismus droht. Diese Verheißung der Sicherheit ist am 7. Oktober 2023 zerstört worden. Schon wieder scheint es auf dieser Welt keinen sicheren Ort für Juden zu geben. Es ist wichtig, die damit verbundene Angst und Verzweiflung zu verstehen“ (8).

Es ist notwendig, diese Vorbemerkung zu lesen, um zu verstehen, was Deselaers anstrebt, nämlich, wie er es auch im Interview sagt, dass die Erinnerung nicht krank machen soll, sondern mithelfen will, diese Welt zu heilen.

Deselaers teilt in diesem Buch seine persönlichen Erfahrungen und Gedanken zu Themen wie Verantwortung, Glaube, Leid und Versöhnung. Er betont, dass das Böse nicht das letzte Wort haben darf und dass Menschen Verantwortung für das Geschehen in der Welt tragen. Besonders relevant wird sein Einsatz für Versöhnung im Kontext aktueller Konflikte wie dem Ukrainekrieg, wobei er auch für Russland betet und Hoffnung schöpft.

Die 15 Gespräche kreisen zuerst um das Leben von Deselaers, seine Jugend, seine Ausbildung, Wehrersatzdienst bei Aktion Sühnezeichen und seine ersten Begegnungen mit Israel und schließlich mit dem Ort Auschwitz. Er macht klar, wie sehr sein Glaube damit verbunden ist, Hoffnung zu geben, Glaube zu finden an den Sinn des Lebens, an den inneren Grund, sich des Lebens zu freuen. Es gibt seiner Meinung nach eine tiefe Quelle, die einen Menschen liebt, über alle Grenzen hinaus, auch die Grenzen des Todes.

Nach einer Jahr Sprachstudium in Lublin kam Deselaers schließlich 1990 nach Auschwitz. Angeregt durch den Bischof von Krakau entschied sich Deselaers zu seiner Doktorarbeit, auf die er im Buch ausführlich eingeht. Deselaers schrieb über den Lagerleiter von Auschwitz, Rudolf Höß. Höß war katholisch erzogen, überzeugter NS-Kommandant von Auschwitz und trat schließlich erneut in die katholische Kirche ein. Deselaers stellte in der Dissertation gerade anhand der Biografie von Höß die Frage, wo denn Gott in Auschwitz war, beschäftigte sich fünf Jahre in der Doktorarbeit mit den Fragen nach Schuld und Verantwortung und stellt Höß als Menschen vor, als „menschliche Möglichkeit“. Deselaers fragt, ob Gott auch den Kommandanten von Auschwitz liebt, wenn er alle Menschen liebt und diese Liebe nie zurückzieht. Gleichzeitig betont er die Verantwortung des Menschen, die aus dieser Liebe entsteht, und fordert den Menschen auf, in richtiger Weise zu antworten und die Würde, die in jedem Menschen liegt, zu achten. Höß selbst bekannte gegen Ende seines Lebens, dass die Ideologie, der er leidenschaftlich anhing, gänzlich falsch war. Deselaers verteidigt Höß nicht, nähert sich ihm aber auf faszinierende Weise von einem theologischen Standpunkt aus an, der üblicherweise meist gänzlich ausgeblendet wird.

Deselaers widmet sich im Buch schließlich Maximilian Kolbe und Edith Stein und geht auf sehr differenzierte und verständnisvolle Weise auf ihre Bedeutung ein, ohne die Problematik auszublenden, die in den geführten Debatten um einseitige christliche Vereinnahmung von Auschwitz über längere Zeit zum Ausdruck kam. Er stellt sich der Frage nach dem christlich-jüdischen Dialog in diesem Zusammenhang und der Frage nach Symbolen, die vereinen oder vereinnahmen können.

Ein weiteres wichtiges Thema ist die Begegnung mit Überlebenden, die vielfach zu Freundschaften geführt hat. Auch hier betont Deselaers immer wieder, dass es nicht nur um Erinnern geht, sondern nicht zuletzt um die Bejahung des Lebens. Gleichzeitig erzählt Deselaers auch über die Begegnung mit Menschen, deren Wunden nachhaltig tief und nicht verheilt sind.

Die Arbeit am Begegnungszentrum ist immer wieder Thema des Buches und man merkt auf jeder Seite, wie sehr Deselaers sich mit Herzblut engagiert. Es ist auch ein Buch über den Glauben, über die enorme Bedeutung, die Deselaers selbst aus den Exerzitien und den Kreuzwegmeditationen geschöpft hat, die er organisiert. Ein eigenes Kapitel ist daher auch den Kreuzwegmeditationen gewidmet.

Gegen Ende nähert sich das Buch dem im deutschen gewählten Titel, nämlich der „Wunde“ Auschwitz. Es geht dabei auch um einen Heilungsprozess, den Deselaers u. a. in Jugendbegegnungen anregt. Jugendliche stellten Verbindungen zu Überlebenden her und schrieben Briefe an andere Jugendliche in der Welt mit Zitaten aus den Begegnungen. Zentral ist vor allem die Begegnung, die Auseinandersetzung mit den anderen, den als fremd erlebten, und das Ziel, gemeinsam eine bessere Welt zu schaffen.

Am Schluss wird die Aktualität des Angriffskriegs auf die Ukraine zum Thema, genauso wie der ansteigende Rechtsradikalismus. Was allerdings fehlt ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus der Linken und dem stark ansteigenden Antizionismus.

Ganz am Ende steht erneut die Frage nach Gott und wo er sich befindet im Angesicht von Auschwitz, genauer auch, ob auch die Täter eine Hoffnung haben, von Gott geliebt zu werden. Immer wieder spricht Deselaers in diesem Zusammenhang vom Vertrauen auf Gott. Insgesamt hofft und betet und arbeitet Deselaers für eine „Zivilisation der Liebe“ (299), wie er es nennt: „Von jedem von uns … hängt es ab, ob es uns gelingen wird. Auch ist sehr wichtig, dass wir in unserem Handeln konsequent sind und uns treu bleiben, denn nichts ist uns für immer gegeben. Liebe und Frieden müssen jeden Tag gepflegt werden“ (300).

Damit endet ein bemerkenswertes Buch über einen bemerkenswerten Menschen, der nicht belehren will, sondern durch sein Vorbild prägen.