Nathan Sznaider. Die jüdische Wunde: Leben zwischen Anpassung und Autonomie. Hanser, 2024. 272 Seiten , EUR 26, ISBN 978-3-446-28131-8.

Sarah-Maria Hebeisen 
Jüdisches Museum der Schweiz
sarahmaria.hebeisen@gmail.com

Der jüdischen Erfahrung ist eine tief verwurzelte Wunde zugrundeliegend, so zumindest nach Nathan Sznaider und seinem jüngsten Werk. Die jüdische Wunde lässt sich als Fortsetzung seines früheren Werks Fluchtpunkte der Erinnerung lesen, in dem er unter anderem die Vergleichbarkeit von Holocaust und Kolonialismus thematisiert. Sznaiders neustes Werk geht hingegen auf die Besonderheit ‚des Jüdischen‘ ein. Eine zentrale Annahme in Die jüdische Wunde lautet, dass universale Denkansätze die Partikularität von Erfahrungen verwischen. Denn schliesslich führt das europäisch inkludierende, universale Denken zum Ausschluss des Partikularen, wodurch eben diese partikularen Erfahrungen vergessen gehen. Gegen dieses Vergessen schreibt der Autor an (9), betrachtet die Partikularität der jüdischen Geschichte historisch, wendet sie auf die heutige Zeit an – legt den Finger so direkt in die Wunde und bespricht somit Neues und Uraltes zugleich.

Die kontroverse Debatte über die Legitimation des Vergleiches von Antisemitismus und Rassismus, welche in Fluchtpunkte der Erinnerung soziologisch behandelt wird, dreht sich auch um den Partikularismus jüdischer Geschichte und die Singularität des Holocausts. Sie teilt sich grundsätzlich in zwei Lager: Die eine Seite sieht die Einzigartigkeit der Shoah gefährdet, wird diese mit kolonialistischen Verbrechen oder anderen Völkermorden verglichen. Die andere Seite, so auch Sznaider, sieht die Möglichkeit einer Interpretation des Holocausts aus kolonialistischen Strukturen und die gleichzeitige Anerkennung der Singularität desselben als gegeben.1 Der Autor spricht in diesem Zuge in seinem Vorgängerwerk von einer «multidirektionalen Erinnerung», die partikularen Erinnerungen Platz einräumt und diese über Zusammenhänge verbindet.2 Die Besonderheit der individuellen Erfahrungen würde so nicht untergraben werden. Es ist es kaum hilfreich, Antisemitismus gänzlich von anderen Rassismen zu trennen, auch wenn die systematische Planung der globalen wie totalen Ausrottung von Jüdinnen und Juden nach wie vor in der Geschichte ohne Entsprechung steht. Antisemitismus würde dann lediglich als religiöse Intoleranz abgetan, was dem Verständnis von Antisemitismus ebenso wenig gerecht wird, wie es dazu beiträgt, ihm entgegenzuwirken. Ebenso kann Antisemitismus zwar nicht mit anderen Rassismen gleichgesetzt werden, aufgrund unterschiedlicher Vorgänge bei der Stereotypisierung, sollte aber dennoch als solcher erachtet werden.3

In Sznaiders Jüdische Wunde wird das Jüdische als partikulare Erfahrung verstanden, die dem universalen Denken des nichtjüdischen Europas entgegensteht. Gerade durch die Partikularität des Jüdischen wird dieses sichtbar. Diese Sichtbarkeit der Jüdinnen und Juden, die sie beispielsweise nach Iulia-Karin Patrut auch als «innere Kolonisierte»4 kennzeichnet, ist von Prinzipien der Vertreibung und Assimilation geprägt. Solange Jüdinnen und Juden ihre Identität bewahren, bleibt ihre Gleichstellung in der Mehrheitsgesellschaft unerreichbar, wie auch Sznaider ausführt (19). Solange sie also sichtbar jüdisch blieben, würden sie nie gleich werden. Nach Sznaider waren dieser Ansicht auch jüdische Aufklärer wie Moses Mendelssohn (15). Sie sahen das Jüdische als etwas, das aus dieser Partikularität hervorgehoben werden sollte, um als universal zu gelten (was in diesem Zusammenhange «deutsch» bedeutete) und endlich die gewünschte Gleichstellung zu erhalten (15). Ebenso wurden die despektierlich genannten «Ostjuden» als «orientalische Fremdlinge» (16) betrachtet, die sich von den westlich orientierten Jüdinnen und Juden durch ihren sichtbaren Partikularismus unterschieden. Diese assimilierten Jüdinnen und Juden, die ihre traditionelle Sichtbarkeit und Autonomie verloren, gaben ihre jüdische Selbstbestimmung auf, wurden dafür jedoch von der nichtjüdischen Umwelt toleriert. «Je mehr sich Juden assimilieren, also der Mehrheitsgesellschaft angehören wollen, desto ‚weniger‘ sind sie Juden» (83).

Die versprochene Unsichtbarkeit der «assimilierten» Jüdinnen und Juden liess sie in einer trügerischen Sicherheit leben, wie Sznaider weiter aufzeigt. Toleranz wird in diesem Zusammenhang als Gunst der Mächtigen verstanden, wodurch sich die problematische Seite des oft positiv konnotierten Begriffs «Toleranz» zeigt (18). Toleranz bedeutet so gesehen das Gewährenlassen von etwas, weil man keine andere Wahl hat, nicht weil man die Sache befürwortet. Diese negative Seite der Toleranz beschreibt Sznaider anhand seines Namensvetters und der wohl berühmtesten jüdischen Figur, des ‚Nathans des Weisen‘, welcher laut Sznaider nichts weniger forderte als den jüdischen Partikularismus abzulegen, um universale Menschlichkeit zu erreichen (18f). So währte auch im viel zitierten ‚Goldenen Zeitalter‘ des mittelalterlichen Andalusiens keine Toleranz, wie oft behauptet wird, sondern eine idealisierte Kultur des Zusammenlebens (span.: convivencia) und Austausches (52).

Die Shoah hat gezeigt, dass nicht die Sichtbarkeit des Jüdischen das Problem ist (17), denn die erkämpfte Unsichtbarkeit erwies sich als Illusion, wurden schliesslich sichtbare wie weniger sichtbare Jüdinnen und Juden gleichermassen verfolgt und ermordet. Letztlich wurde gerade auch das Nicht-Erkennen Können von jüdischen Menschen – und dies nicht erst zu Hitlers Zeiten, sondern bereits im Mittelalter – als eine der grössten Unfehlbarkeiten angesehen. Dass ein Jude für einen Christen und umgekehrt auch eine Christin für eine Jüdin gehalten werden konnte, lässt in beiden Fällen auf eine relative Nicht-Unterscheidbarkeit in Aussehen und Habitus schliessen.5

So seien die, die sich unsichtbar machten, um antisemitischen Ressentiments zu entfliehen – oder wie es Heinrich Heine ausdrückte, um ein «Entréebillett zur europäischen Kultur» zu erhalten – gerade wieder sichtbar gemacht worden mit dem Vorwurf der Unsichtbarkeit (70). Diese erneute Sichtbarmachung kannte die Geschichte bereits, so etwa nach der Reconquista 1492 auf der iberischen Halbinsel, als das Konzept der «Reinheit des Blutes» (span.: limpieza de sangre) Menschen mit jüdischen Vorfahren von sogenannten «Altchristen» unterschied. Neu konnte man sich also auch nicht mehr durch eine Konversion vor den Verfolgungen schützen.6 Ebenso wurde im nationalsozialistischen Denken ‚das Jüdische‘ im Blut verortet und sogar nach Konvertiten oder Konvertitinnen gesucht, welche zwischen 1645 und 1833 protestantisch wurden.7 In der Frühen Neuzeit wie im 20. Jahrhundert zeigte sich, dass die vermeintliche Eintrittskarte letztlich keine Gültigkeit besass.

Diese der Moderne innewohnende Ambiguität zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zeigt sich, so führt Sznaider weiter aus, weiterhin in der Gegenwart der Juden. Ihre Sichtbarkeit in der Welt durchdringt die Ambiguität, während ihre eigene Unsichtbarkeit darauf zielt, sie zu verbergen. Dies zeigt, wie der jüdische Partikularismus immer wieder der universalen Menschlichkeit gegenübergestellt wird (42). Lessings Nathan überwindet das Judentum, um die Legitimation für religiöse Toleranz zu fördern. Diese jüdische Frage bleibe eine Kehrseite der Judenemanzipation und gleichzeitig ein integraler Bestandteil der jüdischen Aufklärung. Die Aufklärung führte zu rechtlicher Gleichstellung und gesellschaftlicher Anerkennung, doch das Judentum blieb ein partikulares Volk, das dem Universalismus entgegenstand (46). Diese Ambivalenz blieb auch nach 1945 bestehen, «die Unsichtbarkeit ist immer sichtbar geblieben» (48).

Universal zu schauen bedeute, Jüdinnen und Juden als Kollektiv schutzlos zu lassen (46) – als ob man nicht jüdisch und deutsch sein könnte (56f.). Für Arendt, auf die Sznaider ebenfalls rekurriert, könne man das Jüdischsein nicht ablegen, weder durch Akkulturation noch durch Assimilation. Ihre Metapher vom Leben «mit jüdischer Haut und nichtjüdischer Maske» beschreibt das Spannungsfeld zwischen individueller Identität und öffentlicher Zugehörigkeit (129).

Die jüdische Unsichtbarkeit hat Juden vor 1930 besonders verwundbar gemacht, weil sie sich als unsichtbare Juden nicht als Juden wehren konnten. (34). Das Trauma der Shoah veranschaulicht die Gefährdung durch eine Aufklärung, die das Jüdische nur als unsichtbaren Teil des Universalismus akzeptieren wollte. Diese Spannung zwischen Moderne und traditionellem Judentum findet auch in zeitgenössischen kulturellen Darstellungen wie der Netflix-Serie Shtisel ihren Ausdruck. Hier wird der innerjüdische Konflikt zwischen religiöser Tradition und säkularer Moderne sichtbar (21). Die Gründung des Staates Israel hat diese Konstellationen grundlegend verändert (20). So symbolisieren die auch in Israel sichtbaren orthodoxe Jüdinnen und Juden nicht nur historische Kontinuität, sondern verweisen auch darauf, dass es das säkulare Judentum ohne seine traditionellen Wurzeln nicht geben würde. Dabei erscheint heute der Begriff ‚orthodox‘ problematisch; er stammt aus einer Zeit, in der sich Juden der Aufklärung verweigerten, als rückständig galten und somit für Begriffe wie Intoleranz und Partikularismus standen (23). Eigentlich wollen sie in der heutigen Politik Israels nichts anderes, dabei spielt eine Ablehnung des Zionismus, wie anfänglich verbreitet, keine Rolle mehr (24).

Der Zionismus als Folge der Aufklärung kann als eine Fortsetzung der Judenemanzipation verstanden werden – nun nicht mehr als individuelle, sondern als kollektive Befreiung (50, 52). Er verleiht dem Jüdischen nicht nur Sichtbarkeit, sondern auch Souveränität. Während der politische Zionismus zunächst vom Credo der Unsichtbarkeit ausging – dem Wunsch, das jüdische Volk zu ‚normalisieren‘ und in den Völkerkanon einzugliedern –, so macht die Existenz Israels das Jüdische heute mehr denn je sichtbar (26). Diese Sichtbarkeit stellt das Judentum zwischen Partikularismus und Universalismus, zwischen Nationalität und Religion, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die hebräische Sprache veranschaulicht diese Transformation besonders eindrücklich: Im zionistischen Kontext wurde sie aus dem sakralen in den säkularen Raum überführt. Durch die alltägliche Verwendung wird sie säkularisiert und verleiht gleichzeitig der Alltagssprache eine heilige Bedeutung.

Sznaiders Analyse verweist sowohl auf historische als auch auf zeitgenössische Dimensionen der jüdischen Erfahrung. Er versteht das Jüdische als partikular, wodurch es dem Universalen entgegensteht. Das Jüdische fällt aus jedem Einheitsdenken heraus, das Ambivalente bleibt eine Herausforderung. Seine Geschichte ist geprägt von Vertreibung und Assimilation, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von Partikularismus und Universalismus. Jüdische Aufklärer wie Moses Mendelssohn versuchten, diese Spannung zu überbrücken – doch häufig um den Preis der jüdischen Selbstbestimmung. Israel ist in dieser Perspektive keine einfache Lösung, sondern Ausdruck eben jener Ambivalenz. Es vereint nationale Souveränität mit religiösem Erbe, Moderne mit Tradition, Sichtbarkeit mit Unsichtbarkeit. Die jüdische Existenz bleibt ein Grenzphänomen: sichtbar geworden durch die Nation, aber nie völlig eingegliedert in das universelle Projekt der Moderne.

Anmerkungen

  1. Sznaider, Fluchtpunkte der Erinnerung, 209.

  2. Sznaider, Fluchtpunkte der Erinnerung, 162f

  3. Baddiel, Jews Don’t Count, 41.

  4. Sie schreibt europäische Jüdinnen und Juden können als «Binnenkolonisierte» beschrieben werden. Patrut, «Kafkas ‚Poetik des Anderen‘, kolonialer Diskurs und postkolonialer Kanon in Europa», 262.

  5. Keil, «Mobilität und Sittsamkeit», 174.

  6. Husmann, Schwarz-Weiss-Symbolik, 132f.

  7. Hertz, Wie Juden Deutsche wurden, 17.

Literatur:

Baddiel, David. Jews Don’t Count: How Identity Politics Failed One Particular Identity. TLS, 2021.

Hertz, Deborah. Wie Juden Deutsche wurden. Die Welt jüdischer Konvertiten vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Campus, 2010.

Keil, Martha. „Mobilität und Sittsamkeit: Jüdische Frauen im Wirtschaftsleben des spätmittelalterlichen Aschkenas.“ In Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden: Fragen und Einschätzungen, herausgegeben von Michael Toch. De Gruyter Oldenbourg, 2008.

Patrut, Iulia-Karin. „Kafkas ‚Poetik des Anderen‘, kolonialer Diskurs und postkolonialer Kanon in Europa“. In Postkolonialismus und Kanon, herausgegeben von Iulia-Karin Patrut und Herbert Uerlings. Aisthesis, 2012.

Sznaider, Nathan. Fluchtpunkte der Erinnerung: Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus. Carl Hanser, 2022.