Michael B. Cover und Lutz Doering, Hg. Philo of Alexandria and Philosophical Discourse. Vandenhoeck & Ruprecht, 2024. 397 Seiten, EUR 99, ISBN 978-3-525-50097-2

René Bloch 
Universität Bern
rene.bloch@unibe.ch

Der Name Philons (und noch mehr in seiner lateinischen Form: Philo) scheint ja gleichsam wie gemacht für die Philosophie. Und auch die Herausgeber dieses Bandes, der aus einer Münsteraner Tagung im Jahr 2019 hervorgegangen ist, spielen mit dem Namen des Alexandriners und dem Fachgebiet, das ihm schon oft fälschlicherweise abgeschrieben worden ist: Philo of Alexandria and Philosophical Discourse. Philologisch hat „Philon“ – in der Antike ein sehr verbreiteter Name: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft listet 61 Persönlichkeiten unter dem Namen auf – mit dem entscheidenden Teil des Philosophie-Begriffs (der Liebe für die Weisheit) nichts zu tun. Und dennoch könnte man mit Plautus sagen: nomen atque omen bzw. mit Samuel כשמו כן הוא (1. Sam. 25,25: „wie sein Name ist er“). Die Herausgeber des Bandes, beides versierte Philon-Kenner, verweisen gleich am Anfang ihrer Einführung auf eine einschlägige Stelle im großen Werk Philons, an der dieser das Philosophieren gleichsam zu einer Bedingung für den tugendhaften Menschen macht (QG 3,43). Aber sie wissen eben auch um die intensive Debatte über die Frage, wie sehr Philon als Philosoph bezeichnet werden kann, und optieren für eine vorsichtige Titelformulierung (statt „Philo the philosopher“ oder „Philo and philosophy“, S. 10). In der knappen, aber stringenten Einleitung verweisen die Herausgeber auf vier Vorgängerbände zum Thema: Philon d’Alexandrie et le langage de la philosophie (hg. von Carlos Lévy, 1998), Philo of Alexandria and Post-Aristotelian Philosophy (hg. von Francesca Alesse, 2008), From Stoicism to Platonism (hg. von Troels Engberg-Pedersen, 2017) und schließlich Religion et rationalité (hg. von Jérôme Moreau und Olivier Munnich, 2021). Der hier zu besprechende Band wird in Zukunft als ein weiterer wichtiger Pfeiler zur Verortung von Philons Philosophie zu nennen sein.

Gregory E. Sterling beginnt den Band mit einer Kontextualisierung von Philons Philosophenbibliothek: „Philo’s Library and the Libraries of Philosophical Schools“ (27-56). Sterling geht von der Annahme aus, dass Philon im Rahmen einer privaten Schule fungierte, zu der eine Bibliothek gehörte, die die grundlegenden Werke der griechischen Philosophie umfasste (neben seinem eigenen Werk, der Septuaginta und jüdisch-hellenistischen Autoren). Sterling kommt zum Schluss, dass Philon ähnlich wie ein Philodem, Aristoteles und Plotin ebenfalls über eine Bibliothek verfügte, die nicht nur ihm selbst diente, sondern auch Studierenden zur Verfügung stand.

Sharon Weisser stellt in ihrem Beitrag „The Socratic Background of Philo’s Ethics: The Case of Piety” (57-85) einen wichtigen Standpunkt an den Anfang: Eine Dichotomie von griechischer Philosophie einerseits und jüdischem Glauben andererseits ist ein verfehlter Ansatz für das Verständnis von Philons Philosophie. Weisser plädiert gar dafür, auf den Aspekt der ethnischen Zugehörigkeit bei der Interpretation von Philons Philosophie ganz zu verzichten. Ihr Exemplum ist Philons Verständnis von „Frömmigkeit“ (eusebeia bzw. hosiotēs). Nach Weisser ist Frömmigkeit für Philon das Wissen vom Göttlichen (60). Frömmigkeit ist ein kognitives Phänomen und entsprechend wird Unfrömmigkeit von Philon mit Verblendung (typhos) in Verbindung gebracht. Dies und konkret die Verbindung des Göttlichen mit moralisch korrektem Leben bringt Philon in die Nähe der sokratischen Ethik. Philons Philosophie ist eben gerade keine ancilla theologiae, sondern einfach Philosophie (81).

In einem weiteren wichtigen Beitrag des Bandes, „Was Philo’s Moses a Pyrrhonian Hero?“ (87-102), geht Carlos Lévy der Frage nach, wie sehr die Lehre der Skepsis (vertreten durch Pyrrhon) auf Philon einwirkte. Der im wahrsten Sinne des Wortes abwägende Moses (Mos. 2,228) agiert jedenfalls durchaus pyrrhonisch. Dass damit gerade auch die Skepsis als alleiniger Wegweiser in Philons Philosophie wegfallen muss, ist nur konsequent (Lévy ging dieser Frage auch im oben genannten Band von Francesca Alesse nach: „La conversion du scepticisme chez Philon d’Alexandrie“). „There is no kind of philosophical dogmatism in Philo“ (99). Aber die pyrrhonische Skepsis war mit Sicherheit ein wichtiger Orientierungspunkt für Philon (100).

Geert Roskam macht sich in seinem Beitrag „Crawling on the Belly and Eating Earth: How Relevant was Epicurus for Philo?” (103-131) auf die Suche nach einer philosophischen Schule in Philons Werk, die sich auf den ersten Blick angesichts von dessen Polemiken hierfür nicht gerade aufdrängt: dem Epikureismus. Roskam stellt fest, dass Philon Epikur gerade in Bezug auf dessen wichtigsten Begriff, die hēdonē („Genuss“, „Freude“), nie explizit angreift (106). Epikur sei vielmehr schlicht abwesend in Philons Werk. Oder fast: eine Ausnahme bildet Fug. 148, wo Philon Moses’ Ermordung eines Ägypters nicht nur als Sieg über genussorientiertes Denken, sondern auch über die Atomlehre (beides repräsentiert durch den erschlagenen Ägypter) deutet. Hier sitzt die epikureische Schule dann doch auf der Anklagebank (127-128). Aber Philon ist kein Anti-Epikureer, auch weil Philons Einstellung zur hēdonē durchaus ambivalent sei (123).

Der Beitrag von Jason M. Zurawski „Philo’s Therapy of Desire: Law, Askēsis, and the Rod of Paideia” (133-153) schließt sich gut daran an. Das Korrektiv gegen die Verführungen der Lust ist, so Zurawski, bei Philon nicht so sehr die Philosophie – im Sinne von Martha Nussbaum’s Beschreibung antiker Philosophie als einer „therapy of desire“ – als vielmehr Bildung bzw. Erziehung (paideia). Die Frage, ob diese Erziehung auch körperliche Züchtigung (mit dem Stab, rhabdos) miteinschließt, beantwortet Zurawski zweigleisig: Philon stimmt zwar dem Schlagen von unflätigen Kindern zu (Spec. 2,232 – dort sogar bis zur Todesstrafe), insgesamt aber plädiert er für die Nutzung von Bildung, Philosophie und Moses’ Gesetze im Kampf gegen das Irrationale (150).

Einem bestimmten Traktat gewidmet ist der Artikel von Troels Engberg-Pedersen: „Philosophy and the Sitz im Leben of Philo’s Quod omnis probus liber sit“ (155-189). Engberg-Pedersen will gegen die frühere Forschung u. a. aufzeigen, dass Jüdisches im Traktat sehr wohl präsent ist und dass es sich um ein Spätwerk Philons handelt. Engberg-Pedersen sieht Philons eigenes Philosophie-Verständnis am ehesten in dessen Beschreibung der essenischen Philosophie (178-179). Was die Verortung von Prob. anbelangt, plädiert Engberg-Pedersen für das Umfeld von Philons Romreise (188) – freilich im Wissen, dass Rom im Traktat kaum fassbar ist. Dass das griechische Profil des Traktats nicht gegen Rom als Entstehungsort sprechen muss (ibid.), ist richtig – freilich spricht es auch nicht gegen Alexandrien.

Maren Niehoff schließt sich dem Fokus auf diesen Traktat an: „First Century Rome as a Philosophical Context for Philo of Alexandria: The Introduction to Philo’s Treatise Every Good Man is Free (Probus 1-15)” (191-218). Niehoff versteht den Traktat als Sinnbild für ein Agieren als Minderheit unter fremden Machtverhältnissen und (wie Engberg-Pedersen) als römisches Spätwerk: Wahrscheinlich habe Philon den Traktakt verfasst, als er die „intellectual salons“ in Rom frequentierte, am ehesten jenen von Asinius Pollio (199). Etwas ausführlicher geht Niehoff auf Prob. 13-15 ein. Hier ist vom „hochheiligen Platon“ (ton hierōtaton Platōna) die Rede und dem nachhaltigen Lernen junger Menschen. „Denn wie es heißt, dass neue Gefäße den Geruch dessen, was zuerst in sie gegossen wurde, für immer in sich aufnehmen, so nehmen auch die Seelen junger Menschen das Gepräge der ersten an sie herangetretenen Vorstellungen unauslöschlich an…“ (Prob. 15, in der Übersetzung von Karl Bormann). Leopold Cohn hat in seiner Edition von Prob. auf die Parallelen bei Horaz (Ep. 1,2,69) und Quintilian (Inst. 1,1,5) verwiesen, die auch schon August Otto (Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, 1890, S. 346) als geflügeltes Wort aufzählt. Niehoff plädiert dafür, dass sich Philon in Rom von dieser Gnomik inspirieren ließ.

Der Beitrag von Gretchen Reydams-Schils „Natural Philosophy and Stoicism in Philo’s Oeuvre“ (219- 234) spinnt den Faden weiter und begibt sich in einen Dialog mit Maren Niehoffs These, dass Philon in Rom vermehrt zum Stoiker wurde und sich dies in seinem in Rom entstandenen Spätwerk (der sogenannten Expositio Legis) entsprechend zeige. Reydams-Schils’ Probe aufs Exempel ist Philons Verständnis der Naturphilosophie (der „Physik“). Die Antwort fällt balanciert aus. Zum einen ist Philons Naturphilosophie ein „bridge concept“ (das die verschiedenen Teile von Philons Gesamtwerk verbindet, S. 227), zum andern bestätigt sich Niehoffs These für Reydams-Schils insofern, als die stoisch geprägte Naturphilosophie in der Expositio Legis einen höheren Stellenwert habe als in Philons Frühwerk.

Rainer Hirsch-Luipold erweitert in „‚Holy and Philosophical‘: Two Religious Platonists in their Endeavour to be Both Theologically and Philosophically Orthodox” (235-253) den Horizont um den Philosophen und Biographen Plutarch, den er wie auch Philon als Monotheisten versteht (239). Auch wenn man Letzteres in Frage stellen mag, ist Hirsch-Luipold jedenfalls darin zuzustimmen, dass der „religiöse Aspekt“ in Plutarchs Philosophie ein integraler Teil der antiken Philosophie ist (246). Im Grunde wird hier aus theologischer Perspektive für ein ähnliches Zusammengehen von Philosophie und Religion plädiert wie im Beitrag von Weisser. Aufgeworfen wird hier überdies die Frage, ob Philon oder Plutarch als orthodoxerer Platonist bezeichnet werden kann. Bezüglich Platons Ideenmodell geht für Hirsch-Luipold Philon als konsequenterer Platonist hervor (249).

Ein besonders wertvoller Beitrag ist jener von Mauro Bonazzi „Philo of Alexandria on the Practical and Contemplative Life: Some Remarks” (255-270). Bonazzi zeigt, wie zentral das Kontemplative und damit das Philosophische für Philon ist. Weniger die Mischung von aktivem und kontemplativem Leben ist sein Motto, sondern letztlich das kontemplative allein. Dass der Mensch trotz intensivstem Studium zur Gotteserkenntnis doch nicht durchdringen kann, steht hierzu nicht im Widerspruch. Das macht Philon nur noch mehr zu einem platonischen Philosophen: „the power of researching“ (268) obsiegt über das Finden der Wahrheit.

Michael Cover konzentriert sich in „What’s in a Name Change? Neo-Pythagorean Arithmology and Middle-Platonic Namewrights in Philo’s Orchard of Philosophy” (271-293) auf Philons Interpretationen von Gen 17,15 (Abram wird zu Abraham) in QG 3,43 und Mut. 60-71. In beiden Fällen stellt sich Philon gegen einen Kritiker, der darüber spottet, dass Gottes Erweiterung von Abrahams Namen (und auch Saras) von Bedeutung sein soll. Cover zeigt, dass QG vor Mut. geschrieben sein muss. Und es ist eben nicht nur ein Namenswechsel, sondern eine Namenserweiterung: Sie steht symbolisch (allegorisch) für eine Horizonterweiterung und damit die Möglichkeit, Philosophie zu betreiben und Tugendhaftigkeit zu erreichen (289).

Der Beitrag von Lutz Doering „Philo of Alexandria on the Hebdomad: Neo-Pythagorean Arithmology and Jewish Tradition“ (295-312) setzt die Diskussion von (neo-)pythagoreischem Denken bei Philon fort. Dass Philon die pythagoreische Zahlenphilosophie aufnimmt und weiterdenkt, wird in seinem Werk an verschiedenen Stellen deutlich. Seine für ihn so zentrale Deutung der Siebenzahl ist eine „‚Jewish‘ instantiation of ‚Hellenism‘“ (301). Doering vergleicht zwei Stellen im Werk Philons, an denen die Siebenzahl, die er „mutterlos“ nennt, im expliziten Nachgang zu den Pythagoreern diskutiert wird: Leg. 1,15 (früher) und Opif. 100 (später). Philons Arithmologie – über die man mehr wüsste, wäre sein Traktat De numeris erhalten ­– hat aber seine eigene Charakteristik: im Falle der Siebenzahl, indem sie mit der Monade verbunden wird (309).

Den Schluss des Bandes bildet der ausführliche (etwas gar überladene) Essay von Ilaria L.E. Ramelli, „The Double Creation of the Human Being and Philosophical Soteriology“ (313-358). Die doppelte Schöpfung wird gemäß Ramelli in einer doppelten Soteriologie gespiegelt, die wiederum bei Origenes einen Nachfolger fand. Ramelli schlägt einen weiten Bogen von Philons Erlösungsvorstellungen, die von der mittelplatonischen Metaphysik abhängig ist, bis zu seinem ambivalenten Verständnis der Seelenwanderung (metensōmatōsis).

Die Herausgeber, Michael Cover und Lutz Doering, preisen den Band mit dem – aus der antiken Philosophie stammenden – Bild eines Obstgartens an. Tatsächlich wird hier sowohl bezüglich der akademischen Provenienzen der Autorinnen und Autoren als auch der diskutierten philosophischen Schulen eine reiche Ernte eingefahren. Besonders hoch anzurechnen ist dem Band, dass er gerade das umsetzt, was auch für Philon von Alexandrien zentral ist: Verschiedene, teils sich durchaus widersprechende Ansätze kommen zur Sprache und werden dem vieldimensionalen Werk Philons gerade dadurch gerecht. Philon der Philosoph, der in gut pythagoreischer Tradition einfachen Hauptstraßen immer ausweichen wollte (Prob. 2), wird die Philon-Forschung weiter auf Trab halten.