Anna Rosa Galiley, Der israelische Dichter Elazar Benyoëtz zwischen Deutsch und Hebräisch: Zweisprachigkeit als poetische Kraft. Walter de Gruyter, 2024. 217 Seiten, EUR 99.95, ISBN 978-3-11-132235-3.
Universität Luzern
Elazar Benyoëtz zählt zu den bedeutenden Aphoristikern deutscher Sprache. Der israelische Schriftsteller bewegt sich in der deutschsprachigen Tradition von Lichtenberg, Nietzsche, Morgenstern, Kafka, Kraus, Canetti, Ebner und Strauß und verbindet sie mit der hebräisch-biblischen Spruchdichtung, und zwar im Bewusstsein der gescheiterten und doch ersehnten deutsch-jüdischen Symbiose. Seine doppelte Identität als israelischer Dichter deutscher Sprache, eine Generation nach der Literatur der Jekkes, wurde zum Signum seiner singulären Dichtung und zum Sujet der Interpretation von Galiley, die den Autor treffend „zwischen Deutsch und Hebräisch“ verortet und seine Zweisprachigkeit als „poetische Kraft“ versteht.
Das Buch von Anna Rosa Galiley entstand zwischen Wien und Jerusalem, den beiden Lebenspolen des Dichters Elazar Benyoëtz, und geht auf ihre Dissertation zurück, die sie noch unter ihrem Namen Anna Rosa Schlechter 2022 an der Universität Wien vorgelegt hat. In ihrer Studie will die Verfasserin (Jg. 1994) die deutsch-hebräischen Verschränkungen im Werk des Schriftstellers Benyoëtz aufzeigen.
Vorangestellt ist ein kurzes Vorwort in englischer Sprache, in dem die israelische Kommunikationswissenschaftlerin Na’ama Scheffi (Sapir College, Sderot) die Einzigartigkeit des Literaten betont – "a unique author in Hebrew in his genre" (XI) – und seine Vielschichtigkeit unterstreicht: "he is a poet and aphorist, essayist and critic, translator and librarian, archivist and bibliographer, book collector and philanthropist" (IX), und man möchte ergänzen – ordinierter Rabbiner, Beter, Brief- wie Tagebuchschreiber und Exzentriker. Sheffi verweist auf klassische Quellen des Aphoristikers Benyoëtz: einerseits die Sprüche Salomos und andererseits die Sentenzen der deutschen Kultur (Goethe, Lessing, Schiller, Heine, Börne, Hauptmann, Hebbel u. a.), die seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in hebräischen Zeitschriften zitiert wurden. Was die weisheitliche Literatur betrifft, so schließt Benyoëtz an die Proverbien und den Prediger Salomo an, mit dem er sich sogar namentlich als „Sohn Kohelets“ identifiziert. Diese Einflüsse vereinen sich im Werk eines Litteratus in seiner Welt aus Büchern und Lektüren.
Anna Rosa Gaililey ordnet ihre Studie den Fachbereichen Judaistik, Translations- und Literaturwissenschaft zu. Sie setzt sich zum Ziel, das Werk von Benyoëtz als eine komplexe Einheit mit Ausnahmestellung und Besonderheit zu vermitteln und die wandelnden Ausdrucksformen des Kulturpaars Deutsch-Hebräisch anhand von Fallstudien in deutschsprachigen und hebräischen Schriften zu untersuchen, und zwar im Stil der neuen, intrinsisch interdisziplinären German-Hebrew Studies. Die Lebenswege des Autors wurden durch die deutsche wie die hebräische Kunst angereichert. Von 1948 bis 1959 herrschte in Israel eine entschiedene Abwehr der deutschen Sprache. Zwei Jahre nach dem Eichmann-Prozess und vor der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel zog Benyoëtz 1963 für drei Jahre nach Berlin und nahm von dort, wie es ein Buchtitel beschreibt, seinen „Weg als Jude und Israeli ins Deutsche“. Schon 1960 hatte er in deutscher Sprache publiziert, während seine frühen hebräischen Veröffentlichungen 1980 endeten. Insgesamt hat der österreichisch-israelische Autor von 1969 bis 2024 über sechzig deutschsprachige Bücher herausgebracht, und gegenwärtig arbeitet er an einer hebräischen Neuausgabe eines seiner acht hebräischen Werke: Sentenzen.
Einleitend erklärt die Verfasserin Ziele, Aufbau, Quellen, Methodologie, Forschungsstand und Biographisches (1-35). Die wichtigste Materialsammlung bildet die Auswahl von 600 Werken deutscher und hebräischer Primärliteratur aus der 1000 Bücher umfassenden Bibliothek, die Benyoëtz 2021 dem Franz Rosenzweig Minerva Forschungszentrum für deutsch-jüdische Literatur an der Hebräischen Universität Jerusalem schenkte und die aufschlussreiche Randnotizen enthält. Als Vorlass vermachte der Autor 2011 seine literarischen Entwürfe und Briefe der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien, wo sich auch die frühe autobiographische Skizze („Autobiographische Mitteilungen“, ca.19611) befindet.
Zunächst will Galiley das frühe hebräische Schrifttum des Dichters (1957–1969) durch Kontextualisierung in der zeitgenössischen israelischen Literatur exemplarisch erschließen und die Parallelen zu seinem deutschen Schreiben aufzeigen. Nachfolgend soll das deutschsprachige Werk im Lichte des Hebräischen beleuchtet und die diachrone Entwicklung dieser Schaffensperiode und ihre Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten aufgedeckt werden. In ihrer transkulturell ausgerichteten These wird das Gesamtwerk als mehrsprachiger Text wahrgenommen, „indem sich im Deutschen hebräisches Sprachdenken in Form und Stil ausdrücken sowie im Hebräischen deutsche Schreibformen und Gattungsbestimmungen“ (4). Diese Sicht veranschaulicht den literarischen Spiegeleffekt dieser bilingualen Dichtung. Die Übersetzungen ins Hebräische wurden gefördert durch seine israelischen Freunde Jakob Mittelmann, Paul Engelmann, Tuvia Rübner und Dan Pagis, und zum Durchbruch verhalfen ihm die deutschen Kritiker Joachim Günther und Hans Weigel. Benyoëtz weiß um die religiöse und kulturelle Unübersetzbarkeit der Poesie; als Selbstübersetzer versteht er sie in einem frühen Essay als „Monolog“ und begreift sie zugleich in Bubers Sinn als „Zwiesprache“ und „Ort der Begegnung“. Der Austausch mit älteren Schriftstellerinnen wie Annette Kolb (1870–1967), Margarete Susman (1872–1966), Marie-Luise Kaschnitz (1901–1974) und seiner Schweizer Briefpartnerin Clara von Bodman (1890–1982) schlug sich in Büchern, Korrespondenzen und Freundschaft nieder. Sein hebräisches Werk (1957–1989) wurde in namhaften israelischen Verlagen veröffentlicht, und seine Rezeption in der frühen Literaturszene Israels, beispielsweise durch die Dichter David Shimoni und Shin Schalom, war durchaus beachtlich und veranlasste Benyoëtz zur Selbstinszenierung als „Erbe Bialiks“. Vor allem dem Freund und israelischen Dichter Dan Pagis (1930–1986) kommt als Stimulus für das eigene hebräische Werk eine besondere Bedeutung zu, nicht zuletzt weil auch in dessen Lyrik homophone deutsche Subtexte durchschimmern (124-127).
Galileys Studie ist in vier Kapitel mit poetischen Überschriften gegliedert, die im Auftakt inhaltlich die Ausdrucksformen zweisprachigen Schreibens und die Frage nach Mutter- und Fremdsprache behandeln (1.). Es folgen die beiden Teile über das hebräische Frühwerk an Hand von vier paradigmatischen Werken und deren Rezeption und das Kapitel (2. „Benyoëtz schreibt hebräisch“) über das deutschsprachige Werk mit seinen hebräischen Einwirkungen und in der Kontextualisierung von deutsch-jüdischer Literatur nach der Shoah (3. „Benyoëtz schreibt deutsch“). Das Fazit (4.) resümiert die vielstimmigen und komplexen Verschränkungen in der Werkeinheit und legt die Spannungsfelder zwischen Tradition und Moderne, Religion und Literatur und den zerrissenen Identitäten offen.
Es ist nur zu begrüßen, dass diese Dissertation sich in den Jewish Studies ansiedelt, denn im deutschen Sprachraum wurde Benyoëtz’ Spruchdichtung nicht selten religiös und theologisch verengt rezipiert (ähnlich wie auch Martin Bubers Œuvre in den 1960er Jahren), und diese Vereinnahmung wird einem Sprachkünstler nicht gerecht, den man im Anschluss an Harald Fricke und Friedemann Spicker als bedeutendsten Aphoristiker der Epoche bezeichnen kann. Die Dissertation von René Dausner, 2007 unter dem Titel Schreiben wie ein Toter erschienen, konzentriert sich auf die poetologisch-theologischen Aspekte des deutschsprachigen Werks und dessen Bedeutung für die christliche Theologie und den jüdisch-christlichen Dialog.
Die hebräische Schaffensperiode und die zweisprachige Schreibpraxis wurden meist ausgeblendet. Galiley hat in ihrer Studie den Blick geweitet und eröffnet unbekannte Einblicke in Elazars Beziehung zu Margarete Susman oder die Entstehung der Bibliographia Judaica über den Beitrag jüdischer Autor:innen zur deutschen Kultur, die der Gelehrte 1981 gemeinsam mit der Germanistin Renate Heuer (1928–2014) initiierte und die nach Auschwitz der vergessenen deutsch-jüdischen Literatur ein Denkmal setzte. Gewürdigt werden die Verdienste von Renate Heuer, die seinen Werdegang maßgeblich förderte und den Anfang zur Vollendung führte im 22-bändigen, bio-bibliographischen Lexikon Archiv Bibliographia Judaica (S. 24f).
Die Verfasserin, die einem historiographisch-phänomenologischen Ansatz folgt, verwendet Interviews mit dem Dichter im Rahmen der Oral History. Wer den Dichter persönlich kennt, weiß, dass seine Selbsterschaffung teils mythologische Züge trägt und eine kunstvolle Erzählkonstruktion ist, die viele Facetten vereint. Die Würde und Wirkung einer schillernden Persönlichkeit begleitet ein schauspielerisches Talent, das zwischen Gefühl, Weisheit, Charme, Pathos und Selbstironie oszilliert und in einer einsamen Selbstbezogenheit gründet, die sich in der dialogischen Zuwendung zum anderen öffnet.
Galiley versteht ihre Interpretation als „eine Begegnung und Interaktion mit dem Werk und der Person von Elazar Benyoëtz“ (11) in seinem expliziten und impliziten Beziehungsgeflecht. Die „Biographische Hinführung zu Leben und Werk“ (16-26) skizziert das Leben des Dichters vor dem Hintergrund der Geschichte der Familie Koppel, die von Ungarn nach Wiener Neustadt führte, wo er als Nachfahre seiner strenggläubigen Ahnen am 24. März 1937 als Paul Elazar Menachem Koppel geboren wurde, der „kleine Kronprinz“, Sohn von Gottlieb Yoëtz Koppel und Elisabeth Else Fleischmann und Bruder von Ruth Debel. Zwei Jahre später floh die Familie nach Palästina und kam mit der fünften Alijah in Tel Aviv/Jaffa an. Im Alter von sechs Jahren verlor er seinen Vater, und sein neuer hebräischer Name Elazar Benyoëtz („Gott half dem Sohn des Ratgebers“) wurde zum Gedenken. Literarisch umkreist Benyoëtz seine Lebenspole 2011 in der Autobiographie Allerwegsdahin. Mein Weg als Jude und Israeli ins Deutsche. Bereits 1957 veröffentlichte er seinen ersten hebräischen Gedichtband unter dem neuen Namen, der wie das Werk „ein Doppelleben“ widerspiegelt (18). Seine Lebensstationen lauten: Jeshiwa, Ordination als Rabbiner (Semichah, 1957), Kultur-Offizier in der Armee, Studium der Philosophie und Literatur an der Hebräischen Universität Jerusalem, Bibliothekar am Rav-Kook-Institut, Hebräischer Schriftstellerverband, Förderung durch die Ford-Foundation und die Deutsche Forschungsgemeinschaft in Berlin, Heirat mit der Miniaturmalerin Renée Guegj („Métavel“), Geburt des Sohnes Immanuel. Unter allen literarischen Auszeichnungen ist vor allem der Adelbert-von-Chamisso-Preis durch die Bayerische Akademie der Schönen Künste im Jahr 1988 hervorzuheben, der die deutschsprachige Publikationsphase verstärkte. Als Schlüsselwerk erscheint 1990 sein Buch Treffpunkt Scheideweg, das durch die Collage von Aphorismen, Kommentaren, Briefauszügen, Lyrik, Selbst- und Fremdzitaten einen neuen Kompositionsstil erschafft und bereits in dem hebräischen Selbstkommentar Ränder der Dunkelheiten (1989) angelegt war. Als typisches Stilmerkmal erfasst Galiley die Technik des Wiederabdrucks und die Neugestaltung von Aphorismen in sich wandelnden Kontexten. Im Sinne von Jorge Luis Borges „plagiert“ sich der Autor im Schreibprozess gewissermaßen selbst.
Im ersten Kapitel untersucht die Verfasserin die Mehrsprachigkeit eines Dichters, dessen Sprachen und Identitäten zwischen zwei Kulturen schweben. Als Stilmerkmale erscheinen hebräische Einsprengsel und Homophonie in deutschen Wörtern, Kommentare als Neukreation des Midrasch, Neologismen, elliptische Sätze und aphoristische Kürze, Sprachverknappung, Wortspiele, Gedankenblitze und Sprachwitz. Als Innovation des israelischen Schriftstellers im deutsch-aphoristischen Genre beschreibt Galiley die Vermischungen von poetischen, wissenschaftlichen und biographischen Elementen und bilanziert: „Zwei Gattungsinterferenzen – der deutschsprachige Midrasch und der hebräische Aphorismus – ziehen sich durch sein mehrsprachiges Schreiben“ (91).
Anna Rosa Galiley deutet Elazars lyrische Anfänge im Hebräischen als „eine Vorwegnahme des späteren lyrischen Aphorismus im Deutschen“ (98). In filigranen Fallstudien von inhaltlicher und formaler Tiefe geht die Verfasserin der biographisch-werkgeschichtlichen, deutsch-hebräischen Verschränkung im Frühwerk nach (110–129). Die Referenzen auf die jüdische Traditionsliteratur reichen von der biblischen Josephsgeschichte bis zum mystisch-biographischen Werk (Arpilei Tohar, 1914: „Wolken der Reinheit“) des religiösen Zionisten Rav Kook, sozusagen von der Traumdeutung zur mystischen Memoire, was nach Friedemann Spicker die Verbindung von Mystik und Tagebuch im Moment der Einsamkeit aufzeigt (128f). In einem Exkurs über das „Jiddische als Brücke zwischen Deutsch und Hebräisch“ verfolgt Galiley die Lesespuren von Benyoëtz in seinem Handexemplar von Sammy Gronemanns (1875-1982) Roman Hawdolah und Zapfenstreich (1924) und sieht das Gemeinsame der beiden sehr unterschiedlichen Schriftsteller in der Auseinandersetzung zwischen Ost- und Westjudentum und in der deutsch-jüdischen Lebenswelt zur Zeit des Ersten Weltkriegs, was sie biographisch mit der Israelitischen Kultusgemeinde in Wiener Neustadt und mit dem Vater Gottlieb Koppel als Soldat assoziiert (130-140). Das Jiddische mag für Elazar Benyoëtz eine „imaginierte Mittlerfunktion“ (140) haben, doch eine sprachliche Resonanz in Syntax oder Klang – wie im Fall von Paul Celans Prosatext Gespräch im Gebirg – lässt sich m. E. nirgends nachweisen, so dass diese Abschweifung wenig überzeugt.
Briefe und Zitate spielen in Benyoëtz’ Leben und Werk, vor allem dem deutschsprachigen, eine zentrale und konstante Rolle; es sind Bücher im Kleinen und Quellen der Aphoristik. Die Verfasserin deutet die Korrespondenz wie die Zitatcollagen als dialogische Selbstreflexion (158–184). Der Dichter schreibt wie in der talmudischen Tradition Erinnerungsstücke weiter und erlaubt sich auch, Orte, Namen und Zitate frei zu erfinden. Kritisch könnte man das als eine Form der literarischen Aneignung und des Sich-Einverleibens betrachten. Das Phänomen der Selbstzitate tarnt sich mit zahlreichen Synonymen wie Sahadutha, Kosál Vanít, Lazarus Trost, wobei auch der Geburtsname Paul Koppel auftaucht. Das wirft die Frage auf, ob diese Alter Egos Ausdruck von Narzissmus oder ironische Sprachspiele mit einer „Identitäuschung“ sind (Buchtitel, 1995). Im Epilog (4., S. 186–191) wird das benyoëtzsche Werk als Beitrag zum interreligiösen Dialog zwischen Judentum und Christentum gewertet, und aus dieser Perspektive wurden dem Dichter auch Preise der Mount Zion Foundation und der Stiftung Bibel und Kultur verliehen. Als Forschungsdesiderate nennt Galiley die Hermeneutik heiliger Texte, vor allem im Buch Genesis (Kain und Abel, Mose, Abraham, Isaak, Jakob), und das Profil des Autors als Wissenschaftler (Anthologia Judaica). Im Anhang bietet sie den Lesenden durch eine Zeitliste von Leben und Werk und eine ausführliche Bibliographie eine wertvolle Orientierung. Ihre Ziele, das hebräischsprachige Schreiben von Elazar Benyoëtz und das Interesse an seinem Werk zu verstärken, hat Anna Rosa Galiley in ihrer klugen und schönen Studie in einer klaren, objektiven Wissenschaftsprosa auf hervorragende Weise erreicht.
Die Publikation dieser Skizze erfolgte 2022 in dieser Zeitschrift in dem von Anna Rosa Galilei (damals noch Schlechter) und Claudia Welz herausgegebenen Themenschwerpunkt „BUCHSTABIL: Von Büchern und Menschen. Zum 85. Geburtstag von Elazar Benyoëtz“ – https://doi.org/10.36950/jndf.2022.17.⬑