Ludewig, Anna-Dorothea und Hannah Lotte Lund. Rahel Levin Varnhagen: Rezeption – Projektion – Imagination. De Gruyter Oldenbourg, 2024. 236 S., EUR 114.95, ISBN 978-3-1113-4284-9

Sharon Rom 
Zentralbibliothek Zürich
sharon.rom@zb.uzh.ch

Inhalt

Anmerkungen

In den letzten vierzig Jahren hat sich im Forschungsfeld der weiblichen Autorschaft des 18. und 19. Jahrhunderts ein deutliches Ungleichgewicht herausgebildet: Während die Bedingungen der weiblichen Literaturproduktion spätestens seit Mitte der 1980er Jahre durch die Arbeiten von Gisela Brinker-Gabler und Barbara Becker-Cantarino intensiv erforscht wurden,1 bleiben die Rezeptionsbedingungen von Texten weiblicher Autoren weitgehend unergründet. Dabei drängt sich gerade bei Werken von Frauen die Frage auf, nach welchen Massstäben ihre Texte bewertet wurden und wie die Autorinnen im öffentlichen Diskurs, etwa in Feuilletons und Zeitschriften, wahrgenommen wurden: Denn eng verknüpft ist damit letztlich das Problem, dass im 21. Jahrhundert Texte von Männern noch immer öfter gelesen werden als Texte von Frauen, die kanonisierte Literatur nach wie vor überwiegend von Männern dominiert wird und Gedächtnisinstitutionen wie etwa das Deutsche Literaturarchiv Marbach zahlreiche Nachlässe prominenter männlicher Autoren in ihren Beständen haben, während Autorinnen deutlich unterrepräsentiert sind. Hier setzt der vorliegende Sammelband an, herausgegeben von Hannah Lotte Lund, die sich mit ihrem Standardwerk zum jüdischen Salon bereits einen Namen gemacht hat,2 und Anna-Dorothea Ludewig, die sich über literarische Weiblichkeitsentwürfe im 20. Jahrhundert habilitierte.3 In diesem Werk wird erstmals die Rezeption der deutschsprachig-jüdischen Salonnière Rahel Levin Varnhagen ins Zentrum gestellt. Ihre Person eignet sich besonders für einen rezeptionsgeschichtlichen Ansatz, da ihr Leben und Werk einerseits bereits gut erforscht sind, sie jedoch als Frau und Jüdin zugleich mehrfach stigmatisiert wurde. Anhand von elf Beiträgen, die in drei Themenkomplexe gegliedert sind – „Andenken und Kanonisierung“, „Biographische (Selbst-)Reflexionen“ sowie „Kontroversen und Aneignungen“ –, wird die Rezeption Varnhagens aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet.

Die einzelnen Beiträge des Bandes sind chronologisch geordnet – von etwa 1820 bis ins 21. Jahrhundert – und bieten eine vielschichtige und multiperspektivische Untersuchung, die unterschiedliche Zugänge zur Rezeption von Levin Varnhagen eröffnet. Während die ersten Beiträge ihre Erkenntnisse vor allem anhand von Einzelpersonen herausarbeiten, wird die Rezeption Levin Varnhagens in den späteren Beiträgen verstärkt im Kontext von Bewegungen, Ereignissen oder Jahrzehnten analysiert.

Karl August Varnhagen als Sammler, Ordner und Herausgeber der Nachlassschriften seiner Ehefrau ist – neben Hannah Arendt, die Rahel Levin Varnhagen in ihrer 1957 erschienenen Biografie ein Denkmal setzte – eine der zentralen Figuren in der Rezeptionsgeschichte ihrer Werke. Dass der vorliegende Sammelband mit einem Beitrag zu Karl August Varnhagen beginnt, ist daher nur folgerichtig. Paweł Zarychta beleuchtet die Korrespondenz zwischen Karl August Varnhagen und dessen Schwester Rosa Maria Assing, in der Rahel oft unerwähnt blieb, was Spannungen und Missverständnisse innerhalb der Familie zur Folge hatte. Zarychtas Beitrag unterscheidet sich von den anderen dahingehend, dass er eine Phase behandelt, in der die Salonnière noch lebte, und sich dabei auf den engen familiären Kreis – insbesondere die Schwiegerfamilie – konzentriert. Das Vorhaben, die „steuernde Rolle Karl August Varnhagens“ in der „frühen Rezeption“ (17) zu beleuchten, ist innovativ, fokussiert sich hier jedoch mehr auf die innerfamiliären und zwischenmenschlichen Beziehungen als auf die eigentliche Rezeption von Rahel Levin Varnhagen als Salonnière oder Autorin im breiteren öffentlichen Diskurs.

Die eigentliche Auseinandersetzung mit der Rezeptionsgeschichte setzt erst im anschliessenden Beitrag von Volker Schindler ein, der die Zeit unmittelbar nach Levin Varnhagens Tod bis 1841 behandelt und den Blick über den deutschen Sprachraum hinaus erweitert. Schindler untersucht die Rezeption des Andenkenbuchs in Europa, insbesondere in der französischen, englischen, niederländischen und russischen Presse. Im Anschluss rücken vier Beiträge die Rahel-Rezeption aus der Perspektive einzelner Personen in den Mittelpunkt: Hannah Lotte Lund untersucht, ausgehend von Julius Rodenberg, der den späten Salon im Geiste Rahels unter der Leitung ihrer Nichte Ludmilla Assing noch miterlebte und als Herausgeber der grössten deutschen Kulturzeitschrift des 19. Jahrhunderts, der Deutschen Rundschau, fungierte, die Einbindung Rahel Levin Varnhagens in die Presselandschaft jener Zeit. Florian Krobb und Sabine Strümper-Krobb setzen sich in ihrem Beitrag mit Ellen Keys Essay Rahel. Eine biographische Skizze (1907) auseinander, in dem die schwedische Pädagogin und Schriftstellerin Rahel Levin Varnhagen als Wegbereiterin und Symbolfigur ihrer eigenen reformerischen Ideen stilisiert. Key, so legen die Autoren dar, nutzt deren Biografie, um ihre eigenen Vorstellungen von Frauenemanzipation, Erziehung oder Sozialreform zu stützen: „Keys Konstruktion eines sehr spezifischen Rahel-Bildes dient der Illustration und Rechtfertigung des eigenen Weltbildes“ (87). Paradoxerweise wird die Salonnière in Keys Darstellung für elitäre und sogar eugenische Tendenzen instrumentalisiert. Keys Betonung einer gesellschaftlichen ‚Veredelung‘ durch Erziehung und Selbstverwirklichung öffnet Raum für Ideen, die in völkisch-rassistische Ideologien münden können, bei denen Exklusivität und Auslese im Vordergrund stehen. Anke Gilleir widmet sich der Auseinandersetzung Margarete Susmans mit Rahel Levin Varnhagen und zeigt, dass Susman die Salonnière als vielschichtige Figur betrachtete – sowohl als jüdische Denkerin als auch als Teil der deutschen Romantik. In ihren Essays von 1918, 1928 und 1933 beleuchtet Susman Levin Varnhagens Leben als jüdische Frau im Kontext der deutschen Romantik und hebt deren tiefe Verbindung zu Wahrheit und ethischen Fragen hervor. Sie interpretiert Levin Varnhagens Verhältnis zur Wahrheit als eine Form des „verlebendigten Spinozismus“ (111), da ihr Streben nach Wahrheit und ihr Leiden einen messianischen Charakter tragen. In einem Band über die Rezeptionsgeschichte Rahel Levin Varnhagens darf natürlich der Name Hannah Arendt nicht fehlen, deren Biografie – neben Karl August Varnhagens editorischer Tätigkeit – den wohl grössten Einfluss auf das Bild der Salonnière hatte. Friederike Wein bringt in ihrem Beitrag einen ganz neuen Aspekt von Arendts Umgang mit den Rahel-Quellen ans Licht: Für ihre Arbeit wählte Arendt ihre Quellen sehr selektiv und nach spezifischen Kriterien aus. So verzichtete sie beispielsweise auf Manuskripte, wenn gedruckte Fassungen vorlagen, und traf ihre Auswahl nach subjektiven Relevanzkriterien, die sie selbst definierte.

In den folgenden Beiträgen wird die Rahel-Rezeption wie bereits erwähnt nicht mehr anhand einzelner Personen beleuchtet, sondern es stehen Bewegungen, Ereignisse und Epochen im Fokus. Natalie Naimark-Goldberg zeigt, wie Rahel Levin Varnhagen für die jüdische Frauenbewegung als Paradebeispiel dafür diente, dass jüdische Frauen einen bedeutenden Beitrag zur deutschen Kultur leisteten. Anhand der Art und Weise, wie Levin Varnhagen auf einem Frauenkongress im Jahr 1928 von jüdischen Rednerinnen, etwa Paula Ollendorff, präsentiert wurde – als eine zentrale Figur der deutschen Kulturgeschichte – lässt sich der wachsende Rechtfertigungsdruck der jüdischen Frauenrechtlerinnen angesichts des zunehmenden Antisemitismus erkennen. In den Beiträgen von Anna-Dorothea Ludewig und Irmela von der Lühe stehen ebenfalls jüdische Stimmen im Mittelpunkt, wobei vor allem die innerjüdischen Kontroversen um Rahel Levin Varnhagen thematisiert werden. Während Ludewig deren zionistische Rezeption in den 1920er Jahren beleuchtet, behandelt von der Lühe die Debatte um Levin Varnhagens Rolle im Judentum im Kontext ihres 100. Todestages im Jahr 1933. Von der Lühe legt dar, wie Bertha Badt-Strauss die Salonnière anlässlich dieses Ereignisses als bedeutende jüdische Figur verteidigte, während andere, wie Hans Kalisch, sie als „keine jüdische Angelegenheit“ (172) einstuften. Diese Kontroversen spiegeln den innerjüdischen Streit um Assimilation, Identität und die Bedeutung jüdischer Herkunft wider, insbesondere in einer Zeit, in der die deutsch-jüdische Symbiose zunehmend als gescheitert angesehen wurde. Im innerjüdischen Diskurs – wie Ludewig und von der Lühe zeigen – kristallisierten sich zwei gegensätzliche Positionen heraus: Die erste, vertreten von Bertha Badt-Strauss, verteidigt Rahel Levin Varnhagen als jüdische Figur und betont ihre fortwährende Bindung an jüdische Traditionen, wobei sie das „im Kern unzerstörbare jüdische Erbe“ (167) Levin Varnhagens unterstreicht. Die zweite Position, vertreten von Autoren wie Hans Kalisch und Max Brod, kritisiert die Salonnière als ‚Abtrünnige‘ und als Symbol einer gescheiterten Assimilation.

Die NS-Zeit bleibt im vorliegenden Sammelband ausgespart, was angesichts der Tatsache, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Rahel Levin Varnhagen in dieser Epoche nahezu zum Stillstand kam, nur folgerichtig ist. Erst in der Nachkriegszeit wird die Diskussion um die Salonnière wieder aufgenommen. Die Rahel-Rezeption in der DDR beleuchtet der Beitrag von Ulrike Schneider. Sie kommt unter anderem zu dem Schluss, dass diese Rezeption als „Versöhnungsangebot“ (182) verstanden werden kann, das insbesondere in den frühen Nachkriegsjahren eine Brücke zwischen dem jüdischen und dem deutschen Erbe zu schlagen versuchte. Man hätte gerne mehr über die Rezeption Rahel Levin Varnhagens in Westdeutschland bis zur Wiedervereinigung erfahren – denn auch in diesem Land tat sich viel: Zum Beispiel löste Hannah Arendts 1959 in der BRD erschienene Rahel-Biographie Diskussionen aus, und die monumentale, 1983 erschienene Werkausgabe von Konrad Feilchenfeldt, Uwe Schweikert und Rahel E. Steiner, Rahel Varnhagens Gesammelte Werke in zehn Bänden, setzte einen wichtigen Meilenstein in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihrem Leben und Werk.

Als Abschluss nimmt uns Dorothee Nolte auf einen anschaulichen Spaziergang durch Berlin mit, um Rahel Varnhagens Spuren zu folgen. Sie verknüpft dabei Vergangenheit und Gegenwart und gibt einen Überblick über Veranstaltungen und Ausstellungen, die an die Salonnière und Autorin erinnern. Nolte bringt es treffend auf den Punkt, wenn sie schreibt: „Als Jüdin geboren, mit ihrer Herkunft hadernd, um Anerkennung ringend, bietet sie viel Raum für Projektion“ (205). In ihrer über 200-jährigen Rezeptionsgeschichte war Rahel Levin Varnhagen vieles für viele: ein Vorbild für Jüdinnen, eine Vorkämpferin für Frauenrechte, ein Paradebeispiel für eine gelungene deutsch-jüdische Symbiose – eine Symbiose, die für einige jedoch zu weit ging, sodass Levin Varnhagen als Abtrünnige angesehen wurde. Sie wurde auch immer wieder für Ideologien instrumentalisiert und zur Zielscheibe misogyner Tendenzen gemacht. Ihre Rezeption ist untrennbar mit der Geschichte der jüdischen Emanzipation verbunden und spiegelt stets das Verhältnis zwischen der christlichen Mehrheits- und der jüdischen Minderheitsgesellschaft wider.

Eine Herausforderung bei der Betrachtung Rahel Levin Varnhagens – wie in der Einleitung des Sammelbands treffend beschrieben – liegt darin, dass sie eine „jahrzehntelange Rezeption als Nicht-Autorin“ (8) erfuhr. Da sie kein klassisches literarisches Werk hinterliess, sondern vor allem Ego-Dokumente wie Briefe und Tagebücher, stellt sich die Frage, wie dies ihre Rezeption beeinflusste und nach wie vor beeinflusst. Dieser Aspekt hätte in der Einleitung vielleicht etwas stärker reflektiert werden können. Eine deutlichere Unterscheidung zwischen der Rezeption ihrer Person und ihrer schriftlichen Überlieferungen, zum Beispiel durch eine Trennung zwischen „Rezeptionsgeschichte“ für ihre Texte und „Wirkungsgeschichte“ für ihre Person, hätte zu mehr methodischer Klarheit geführt. Nichtsdestotrotz bietet der Sammelband eine ausgewogene und tiefgründige Auseinandersetzung mit Rahel Levin Varnhagen und ihrer Rezeption. Die Vielfalt der Perspektiven und die innovative Herangehensweise machen das Buch zu einem wertvollen Beitrag zur Erforschung jüdischer Autorinnen. Es bleibt zu hoffen, dass noch viele weitere solcher Werke folgen werden, die die Nachwirkung jüdischer Frauen in den Mittelpunkt rücken.

Anmerkungen

  1. Zu Barbara Becker-Cantarino siehe unter anderem die folgenden Standardwerke: Die Frau von der Reformation zur Romantik: Die Situation der Frau vor dem Hintergrund der Literatur- und Sozialgeschichte (Bouvier, 1980) sowie Der lange Weg zur Mündigkeit: Frau und Literatur (1500–1800) (Metzler, 1987). Hinsichtlich der Arbeiten von Gisela Brinker-Gabler siehe: Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen, 1800–1945, hrsg. mit Karola Ludwig und Angela Wöffen (dtv, 1986) sowie Deutsche Literatur von Frauen (Beck, 1988).

  2. Hannah Lotte Lund, Der Berliner ‚jüdische Salon‘ um 1800: Emanzipation in der Debatte (De Gruyter, 2012).

  3. Anna-Dorothea Ludewig, ‚Jüdinnen‘ – Literarische Weiblichkeitsentwürfe im 20. Jahrhundert (De Gruyter, 2022).