Die Schriftenreihe Jiddistik: Edition & Forschung präsentiert neben Forschung vor allem sehr sorgfältig ausgewählte jiddische Quellen
in standardisierter Sprache. Band 7 bietet eine kommentierte Neuausgabe des 1940 in
Moskau erschienenen Grammatikbuchs Yidish. Fonetik, grafik, leksik un gramatik von Elye Falkovitsh. Das Buch enthält weiter drei Beiträge auf Deutsch, einen Aufsatz
auf Englisch und einen Kommentar auf Jiddisch. In diesen drei Sprachen präsentiert
sich auch das Vorwort von Efrat Gal-Ed.
Als Folge der Anerkennung nationaler Minderheiten nach der Oktoberrevolution nahm
seit den 1920er Jahren auch die Beschäftigung mit der Grammatik zu. Elye Falkovitsh
(1898–1979) studierte Philologie an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Moskauer
Staatlichen Universität und war als Dozent für Jiddisch und Sprachmethodik tätig.
Parallel zu seiner akademischen Laufbahn lehrte er seit 1930 auch Sprache und Diktion
am Moskauer Jiddischen Theaterstudio. Seit 1938 war Falkovitsh Programmleiter und
Cheflektor des staatlichen Verlags דער עמעס, in welchem das vorliegende Grammatikbuch
ursprünglich erschien. Falkovitsh hatte bereits 1929 ein Lehrbuch publiziert, eine
neue Auflage folgte ein Jahr später; 1936 erschien wiederum eine korrigierte Version
des Lehrbuchs, die als Grundlage für die Ausgabe von 1940 diente.
Mit welchem Interesse das Buch von Falkovitsh aufgenommen wurde, lässt sich anhand
von dessen Übersetzung ins Deutsche erahnen. Efrat Gal-Ed weist darauf hin, dass dies
im Auftrag der Nazis 1942 geschah. Der Übersetzer war kein anderer als der Philologe
Zelig Kalmanovitsh (1885–1943). So ironisch es auch klingen mag, verrät diese Übersetzung
auch viel über die Anerkennung der Wichtigkeit des Buches, noch weitgehend unabhängig
von jeder Ideologie. Zwar handelte es sich um eine ausgeprägt sowjetische Grammatik
(das Buch beginnt auch mit einem Motto von Friedrich Engels), aber Falkovitsh war,
wie auch aus allen Aufsätzen im Buch hervorgeht, in erster Linie ein gewissenhafter
und sehr aufmerksamer Sprachforscher.
Das Grammatikbuch ist in 5 Hauptkapitel gegliedert. Die Einführung bezieht sich auf
die Geschichte der jiddischen Sprache. Sie thematisiert die Stammelemente der Sprache,
die Dialekte und ihren Bezug zur literarischen Sprache, stellt die Eingliederung von
Sprachelementen dar und geht über zur eigentlichen Sprachwissenschaft. Der zweite
Teil setzt sich mit Fragen der Phonetik und der Graph(emat)ik auseinander. Im dritten
Kapitel behandelt Falkovitsh Wortstruktur, Wortbildung und Orthografie. Im vierten
und längsten Teil geht er den Wortklassen, Formen, Funktionen und wiederum der Orthografie
nach. Zuletzt widmet er sich im fünften Kapitel der Satzstruktur und der Punktierung.
Wer das Buch studiert hat, soll in der Lage sein, die Mannigfaltigkeit der Sprache
zu erkennen, vor allem aber sich einwandfrei auf Jiddisch ausdrucken zu können, wenn
nötig auch wissenschaftlich. Das Buch wurde für Menschen jiddischer Muttersprache
konzipiert. Die Lebendigkeit der Sprache zeichnet sich auf jeder Seite deutlich aus.
So wird beispielsweise auf Ironie hingewiesen, auf sprachliche Verfremdung oder sogar
die Fluidität der Genera vermerkt.
Wie unterscheidet sich aber eine sowjetische Grammatik von einer anderen? Bekannt
ist vor allem die Abschaffung der Endbuchstaben in den Hebraismen, der Versuch die
Hebraismen auch möglichst zu vermeiden und diese ansonsten phonetisch zu schreiben.
Hierbei geht es aber um viel mehr. Anders als gewohnt, werden grammatikalische Formeln
und strenge Gesetzlichkeiten in erster Linie durch eine grosszügige Auflistung von
Beispielen präsentiert. Damit bietet das Buch auch eine bunte Kollektion aus der jiddischen
Literatur an. Für den heutigen Leser hat diese sorgfältige Zusammenstellung eine poetische
Dimension.
Mit dem Satz: „Jiddisch – die Sprache, in welcher der grösste Teil der Juden in den
letzten hundert Jahren spricht und schreibt, ist eine germanische Sprache“ beginnt
die Einführung von Falkovitsh (21). Anschliessend ist zu lesen, dass Jiddisch hauptsächlich
aus dem Mittelhochdeutschen entstanden sei (24). Falkovitsh detailliert die verschiedenen
Sprachfamilien, er nennt die unterschiedlichen Sprachelemente der jiddischen Sprache
und krönt sie damit zu einer Sprache wie alle anderen. So sieht er in der Tatsache,
dass Jiddisch eine Komponentensprache, eine Mischung aus verschiedenen Sprachen sei,
nichts Aussergewöhnliches, wenn schon eher eine Bestätigung für die Vitalität dieser
Sprache, und beruft sich dafür unter anderem auf das Beispiel des Englischen als einer
Mischung von Angelsächsisch und Romanismen. Ungewöhnlich an dem Jiddischen ist also
nicht die Mischung an sich, sondern eher die Art und Weise, wie sie sich bildete und
aus welchen Sprachen sie schöpfte (27). Während der Einfluss des Russischen besonders
in den Jahren der Oktoberrevolution gepriesen wird (126), sind im Umgang mit den semitischen
Elementen im Jiddische Vorbehalte auszumachen: wenn ihr historischer Anteil in der
Sprachentwicklung unbestritten bleibt, wird ihre aktuelle Relevanz in Frage gestellt.
Auch wenn Falkovitsh in privaten Korrespondenzen, wie der Aufsatz von Efrat Gal-Ed
andeutet, weniger Mühe mit diesen Elementen gehabt zu haben scheint, schreibt er in
seinem Buch, dass das neue Leben auf sozialistischer Basis zu einer massiven Reduzierung
von Worten aus dem Aramäischen und dem Hebräischen geführt habe. Laut seiner Erklärung,
sind diese Wörter eher mit veralteten Denk- und sozialen Mustern behaftet. Es sei
nur naheliegend, dass die ausgestorbenen Begriffe aus der „überkommenen Welt“ durch
Internationalismen ersetzt würden(132).
Dennoch behandelt er die semitischen Sprachelemente gründlich als historische Anteile
der Sprache. Mit der Historisierung dieser Elemente, die in den YIVO-Forschungen als
„Heilige Sprache“ bezeichnet werden, säkularisiert er sie zugleich. Die Forscherin
Daria Vakhrushove notiert, dass die Einflechtung von Bildern in dem Buch es ermöglichte,
Elemente aus der jüdischen Tradition anzusprechen, die sonst nicht zum Ausdruck kommen
durften.
Falkovitsh beschäftigt sich nicht mit der Herkunft und Semantik der sogenannten Semitismen,
sondern mit deren Kontextualisierung im Satz. Hierbei geht es vor allem um die periphrastischen
Verben. Diese beschreiben das Tun nicht mit einem einzelnen Wort, sondern mit einer
Wortgruppe und bilden damit einen Begriff. Deutlich öfter als in heutigen Lehrbüchern
bezieht er sich auf mittelalterliche Quellen und führt auch die germanische Form an,
in der alle Sprachelemente aus dem Deutschen stammen. Aber der grössere Teil ist wie
gewöhnlich der Kombination aus einem germanischstämmigen Hilfsverb und einem heutigen
Hebraismus (in seiner Sprache „Semitism“) gewidmet. Falkovitsh systematisiert diese
Verben nach ihrem grammatikalischen Aufbau, bringt wiederum eine Menge an Beispielen
und schliesst mit der Aussage, dass sie ersetzbar seien. Ihre Rolle scheint, unter
anderem durch die Bibelübersetzung, eher historisch-interlinguistisch zu sein. Er
erwähnt in diesem Zusammenhang auch den Basler Humanisten Buxtorf (228). Simon Neuberg
geht in seinem Aufsatz der Anerkennung der „Wörtlichkeit der Bibelübersetzungssprache
als Motor sprachlicher Innovation“ (cxxiii) nach.
Spannend wäre es herauszufinden, wieso diese Art von sprachlicher Korrelation mit
den Slawismen nicht stattgefunden hat. Lag es an Sprachpurismus? Ist es ein Zeichen
dafür, dass dem Buch bereits 1940 eine archivierende Aufgabe zukam? Oder war es eher
eine Folge der Auseinandersetzung mit einer Literatursprache, die dazu führte?
Bereits in der Einleitung erklärt Falkovitsh den sozialen Wert der standardisierten
„literarischen Sprache“, ein Ausdruck, der aus dem russischen Diskurs stammt (Vakhrushova
ciii, Fussnote 72) und teilweise dem sonst in der modernen jiddischen Literatur verwendeten
Begriff „Kultursprache“ ähnelt. Laut dem Model von Falkovitsh bestehen moderne Sprachen
sowohl aus einer literarischen als auch aus einer von Dialekten geprägten Umgangssprache.
Der Unterschied zwischen den Dialekten sei dabei nicht nur territorial, sondern auch
sozial. Falkovitsh meint, dass aus diesem Grund die Unterschiede zwischen den Dialekten
in der sozialistischen Gesellschaft sich am Vermindern seien (34). Im Jiddischen sind
die drei wichtigsten Dialekte der ukrainische, der litauisch-weissrussische und der
polnische. Wer sich mit dem Jiddischen auseinandersetzt, weiss, dass jeder von ihnen
in der Literatur anders charakterisiert wird. Die Dichotomie zwischen dem gelehrten
Vilnius und dem grossstädtischen Warschau steht dabei auch für ihre Dialekte. Und
der ukrainische Dialekt galt dementsprechend eher als volkstümlich. Falkovitsh hatte
diese Detaillierung nicht nötig. Die literarische Sprache war nach ihm eine Synthese
aus allen Dialekten, wobei er eine gewisse Dominanz gerade dem ukrainischen beimass.
So schreibt er, dass Mendele Moykher Sforim laut seiner Abstammung gewiss ein Litauer
sei, sprachlich aber eher Ukrainer als Litauer (S. 32, Fussn. 3). Damit zielte er
sicherlich auch auf die phonetische Dominanz des litauischen Dialekts in der standarisierenden
Sprache ausserhalb der Sowjetunion ab.
Der meistzitierte Schriftsteller bei Folkovitsh ist Scholem Aleichem. Nicht nur die
treffende Wortwahl von Scholem Aleichems Sprache feiert er, sondern ähnlich wie in
der heutigen Provenienzforschung auch die vermeintlichen Unregelmässigkeiten und Änderungen
in seinem Werk. Daria Vakhrushova bezieht sich dabei auf den Vergleich zweier Editionen
(1888; 1903) von Scholem Aleichems „Stempenyu“ und schreibt: Damit „demonstriert er
(Falkovitsh), wie die Wortkunst ähnlich einem Handwerk erlernt und beherrscht werden
kann“ (cv). Die Sprache ist laut dieser Metapher, genauso wie Messing oder Stahl,
nichts anderes als eine Materie.
Es ist kaum angemessen auszudrücken, wie anregend das Lesen in Falkovitsh’ Buch ist.
Sein Wert ist nicht nur historisch (obwohl das Lesen teilweise die Schönheit einer
Zeitreise bewahrt), sondern auch historiographisch. Das Spannungsfeld zwischen der
Sprachforschung von YIVO und der sowjetischen, wie Valentina Fedchenko sowohl in ihrem
Aufsatz als auch in dem begleitenden Kommentar zum Buch immer wieder zeigt, trägt
nicht nur zur Jiddistik bei, sondern kann methodisch auch den Jiddischunterricht bereichern.
Kritisch anmerken könnte man allenfalls, dass der biografische Aufsatz von Gal-Ed
und der Kommentar von Valentina Fedchenko bereits für ein Buch ausgereicht hätten.
Wenn man aber Falkovitsh Grammatik selber liest, bringen die einleuchtenden Artikel
zur pädagogischen und linguistischen Entwicklung des Buches, zu dessen theoretischen
Rahmen oder über die älteren Quellen, neben tiefen Fachkenntnissen und spannenden
Beobachtungen eine gewisse Wiederholung mit sich. Vielleicht hätten sie separat herausgegeben
werden sollen. Doch dies schmälert nicht den Wert dieser Neuausgabe. Das Buch ist
eine Kostbarkeit.