Die Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses gehört zu den wichtigsten Ereignissen
der neueren Kirchen- und Theologiegeschichte. Die Geschichte dieser Erneuerung, die
Motive und Biografien der Akteure (z. B. Karl Heinrich Rengstorf) sowie die Geschichte
der relevanten Institutionen (z. B. Evangelisch-lutherischer Zentralverein für Begegnung
von Christen und Juden) sind erst wenig erforscht. Bahnbrechend für Deutschland war
die Studie von Siegfried Hermle Evangelische Kirche und Judentum – Stationen nach 1945 (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1990). Nur selten in den Blick genommen wird
bei diesem wie auch bei anderen geschichtlichen und aktuellen kirchlichen und theologischen
Themen die Situation und die Rolle der Schweiz, aber gerade bei diesem Thema, der
Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses, kam der Schweiz mit der bislang
nicht näher untersuchten Konferenz von Seelisberg 1947 eine „Vorreiterrolle“ (4) zu.
Seelisberg ist ein kleiner, abseits, wunderschön, hoch über dem Vierwaldstättersee
gelegener Ort, in dem es ein für eine Konferenz geeignetes Hotel gab, das überdies
nicht schon ausgebucht und auch nicht besonders teuer war. Zufällig, nicht aus tiefer
liegenden Gründen wie etwa der Nähe des Rütlis, des mythischen Gründungsorts der Eidgenossenschaft,
wurde Seelisberg also zu einem Ort, an dem christlich-jüdische Geschichte geschrieben
wurde. Die „Grand und Kulm Hotels Sonnenberg“, wo die Konferenz stattfand, sind seit
1968 im Besitz der „Maharishi European Research University“.
Die verdienstvolle Arbeit des Rabbiners Jehoschua Ahrens (geb. 1978), als Dissertation
am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung in Luzern entstanden und 2019 angenommen,
schließt also eine wirkliche Lücke. Die Arbeit ist ganz aus Quellen, überwiegend aus
Archivalien, erarbeitet. In einem längeren Anhang werden wichtige Quellentexte im
Original präsentiert. Alte Fotografien illustrieren die Ereignisse.
Der Titel des Buches gibt das Anliegen der Seelisberger Konferenz wieder, den Kampf
gegen den „Antisemitismus“ – eingeladen worden war zu einer „internationalen Dringlichkeitskonferenz
zur Bekämpfung des Antisemitismus“ (144) –, der Untertitel aber ihre eigentliche Bedeutung,
„die Entstehung des institutionellen jüdisch-christlichen Dialogs in der Schweiz“
und von der Schweiz ausgehend in „Kontinentaleuropa“.
In vier Kapiteln werden zunächst die Vorgeschichte wie die Wipkinger Tagungen in der
NS-Zeit behandelt, dann die vorbereitenden Entwicklungen, darunter die Oxford-Konferenz
1946, anschließend – relativ knapp auf nur 40 Seiten – die Konferenz in Seelisberg,
das eigentliche Thema, und abschließend die Nachwirkungen, die, und das sollte besondere
Beachtung finden, auch nach Osteuropa und bis zur Konzilserklärung Nostra aetate reichen.
Die Konferenz in Seelisberg fand vom 30. Juli bis zum 5. August 1947 statt, und es
nahmen siebzig Personen aus neunzehn Ländern teil: aus der Schweiz u. a. Pierre Visseur,
Georg Guggenheim, Hans Ornstein, Adolf Freudenberg, Zwi Chaim Taubes, Erich Bickel,
Clara Ragaz, Gertrud Kurz; aus Deutschland (nur) der Katholik Wilhelm Neuss und der
Protestant Curt Radlauer. Weitere Deutsche, u. a. Hermann Maas, Heinrich Grüber, Hans
Lilje, Ernst Majer-Leonhard, waren eingeladen, haben aber aus unterschiedlichen Gründen
nicht teilgenommen. Besonders hervorhebenswert ist noch die Teilnahme von Jules Isaac
aus Frankreich.
Von den in Seelisberg gefassten Beschlüssen waren, im Nachhinein betrachtet, die von
Kommission III als „Botschaft an die Kirchen“ (160) verabschiedeten zehn Thesen (abgedruckt
174–75) am bedeutendsten. In ihnen wurden wichtige theologische Positionen abgesteckt,
die in der Zukunft des christlich-jüdischen Dialogs bedeutend werden sollten: die
Einheit Gottes im Alten und Neuen Testament, das Judesein Jesu, das Judesein der Jünger
und Apostel, der alttestamentliche Hintergrund des Doppelgebots der Liebe. Ferner
wurde der üblichen Herabsetzung des nachbiblischen Judentums durch die christliche
Theologie gewehrt sowie allen Verwerfungslehren. Bahnbrechend war auch die kritische
Auseinandersetzung mit dem – so allerdings noch nicht genannt – Antijudaismus im Neuen
Testament, insbesondere im Zusammenhang mit der Passionsgeschichte.
Das Buch ist reich an Fakten und Details und noch reicher an Personennamen. Wünschenswert,
aber zugestandenermaßen nur schwer vollständig umsetzbar, wäre es, zu allen Personen
auch zumindest elementare biografische Informationen, im Idealfall, wie bei vielen
zeitgeschichtlichen Arbeiten üblich, Biogramme zu haben (ansatzweise vorhanden zu:
Leonhard Ragaz, Clara Ragaz, Paul Vogt, Gertrud Kurz, Wilhelm Fischer, Karl Barth,
Charles Journet, Jean de Menasce, Georg Guggenheim, Hans Ornstein, Zwi Chaim Taubes).
Immerhin aber gibt es ein alle Namen umfassendes Personenregister.
Im etwas ungeschickt vor dem umfangreichen Anhang untergebrachten Literaturverzeichnis
fehlen wichtige Titel, die unbedingt zum Thema gehören, wie die eingangs erwähnte
Studie Hermles, in der übrigens – nicht überraschend – Seelisberg keine Erwähnung
findet, oder die wichtigen umfangreichen Quellenbände von Rolf Rendtorff und Hans
Hermann Henrix, in denen allerdings – bezeichnend! – Seelisberg ebenfalls fehlt; ferner
einschlägige Arbeiten von Arnulf Baumann, Hans Erler/Ansgar Koschel und Susanne Vetter
sowie neuere Publikationen zu Gertrud Kurz und Leonhard Ragaz.1
Die Arbeit ist gut lesbar und sorgfältig gestaltet – dass der Titel und das Amt des
Propstes konsequent falsch, nämlich „Probst“ geschrieben wurde, hätte den Herausgebern
allerdings auffallen müssen.