Jehoschua Ahrens. Gemeinsam gegen Antisemitismus – Die Konferenz von Seelisberg (1947) revisited: Die Entstehung des institutionellen jüdisch-christlichen Dialogs in der Schweiz und in Kontinentaleuropa. Forum Juden und Christen 19. Münster/Westf.: LIT, 2020. 328 Seiten, EUR 49.90, CHF 49.90, ISBN 978-3-643-14609-0

Martin H. Jung  
Universität Osnabrück
martin.jung@uni-osnabrueck.de

Inhalt

Anmerkungen

Die Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses gehört zu den wichtigsten Ereignissen der neueren Kirchen- und Theologiegeschichte. Die Geschichte dieser Erneuerung, die Motive und Biografien der Akteure (z. B. Karl Heinrich Rengstorf) sowie die Geschichte der relevanten Institutionen (z. B. Evangelisch-lutherischer Zentralverein für Begegnung von Christen und Juden) sind erst wenig erforscht. Bahnbrechend für Deutschland war die Studie von Siegfried Hermle Evangelische Kirche und Judentum – Stationen nach 1945 (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1990). Nur selten in den Blick genommen wird bei diesem wie auch bei anderen geschichtlichen und aktuellen kirchlichen und theologischen Themen die Situation und die Rolle der Schweiz, aber gerade bei diesem Thema, der Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses, kam der Schweiz mit der bislang nicht näher untersuchten Konferenz von Seelisberg 1947 eine „Vorreiterrolle“ (4) zu. Seelisberg ist ein kleiner, abseits, wunderschön, hoch über dem Vierwaldstättersee gelegener Ort, in dem es ein für eine Konferenz geeignetes Hotel gab, das überdies nicht schon ausgebucht und auch nicht besonders teuer war. Zufällig, nicht aus tiefer liegenden Gründen wie etwa der Nähe des Rütlis, des mythischen Gründungsorts der Eidgenossenschaft, wurde Seelisberg also zu einem Ort, an dem christlich-jüdische Geschichte geschrieben wurde. Die „Grand und Kulm Hotels Sonnenberg“, wo die Konferenz stattfand, sind seit 1968 im Besitz der „Maharishi European Research University“.

Die verdienstvolle Arbeit des Rabbiners Jehoschua Ahrens (geb. 1978), als Dissertation am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung in Luzern entstanden und 2019 angenommen, schließt also eine wirkliche Lücke. Die Arbeit ist ganz aus Quellen, überwiegend aus Archivalien, erarbeitet. In einem längeren Anhang werden wichtige Quellentexte im Original präsentiert. Alte Fotografien illustrieren die Ereignisse.

Der Titel des Buches gibt das Anliegen der Seelisberger Konferenz wieder, den Kampf gegen den „Antisemitismus“ – eingeladen worden war zu einer „internationalen Dringlichkeitskonferenz zur Bekämpfung des Antisemitismus“ (144) –, der Untertitel aber ihre eigentliche Bedeutung, „die Entstehung des institutionellen jüdisch-christlichen Dialogs in der Schweiz“ und von der Schweiz ausgehend in „Kontinentaleuropa“.

In vier Kapiteln werden zunächst die Vorgeschichte wie die Wipkinger Tagungen in der NS-Zeit behandelt, dann die vorbereitenden Entwicklungen, darunter die Oxford-Konferenz 1946, anschließend – relativ knapp auf nur 40 Seiten – die Konferenz in Seelisberg, das eigentliche Thema, und abschließend die Nachwirkungen, die, und das sollte besondere Beachtung finden, auch nach Osteuropa und bis zur Konzilserklärung Nostra aetate reichen.

Die Konferenz in Seelisberg fand vom 30. Juli bis zum 5. August 1947 statt, und es nahmen siebzig Personen aus neunzehn Ländern teil: aus der Schweiz u. a. Pierre Visseur, Georg Guggenheim, Hans Ornstein, Adolf Freudenberg, Zwi Chaim Taubes, Erich Bickel, Clara Ragaz, Gertrud Kurz; aus Deutschland (nur) der Katholik Wilhelm Neuss und der Protestant Curt Radlauer. Weitere Deutsche, u. a. Hermann Maas, Heinrich Grüber, Hans Lilje, Ernst Majer-Leonhard, waren eingeladen, haben aber aus unterschiedlichen Gründen nicht teilgenommen. Besonders hervorhebenswert ist noch die Teilnahme von Jules Isaac aus Frankreich.

Von den in Seelisberg gefassten Beschlüssen waren, im Nachhinein betrachtet, die von Kommission III als „Botschaft an die Kirchen“ (160) verabschiedeten zehn Thesen (abgedruckt 174–75) am bedeutendsten. In ihnen wurden wichtige theologische Positionen abgesteckt, die in der Zukunft des christlich-jüdischen Dialogs bedeutend werden sollten: die Einheit Gottes im Alten und Neuen Testament, das Judesein Jesu, das Judesein der Jünger und Apostel, der alttestamentliche Hintergrund des Doppelgebots der Liebe. Ferner wurde der üblichen Herabsetzung des nachbiblischen Judentums durch die christliche Theologie gewehrt sowie allen Verwerfungslehren. Bahnbrechend war auch die kritische Auseinandersetzung mit dem – so allerdings noch nicht genannt – Antijudaismus im Neuen Testament, insbesondere im Zusammenhang mit der Passionsgeschichte.

Das Buch ist reich an Fakten und Details und noch reicher an Personennamen. Wünschenswert, aber zugestandenermaßen nur schwer vollständig umsetzbar, wäre es, zu allen Personen auch zumindest elementare biografische Informationen, im Idealfall, wie bei vielen zeitgeschichtlichen Arbeiten üblich, Biogramme zu haben (ansatzweise vorhanden zu: Leonhard Ragaz, Clara Ragaz, Paul Vogt, Gertrud Kurz, Wilhelm Fischer, Karl Barth, Charles Journet, Jean de Menasce, Georg Guggenheim, Hans Ornstein, Zwi Chaim Taubes). Immerhin aber gibt es ein alle Namen umfassendes Personenregister.

Im etwas ungeschickt vor dem umfangreichen Anhang untergebrachten Literaturverzeichnis fehlen wichtige Titel, die unbedingt zum Thema gehören, wie die eingangs erwähnte Studie Hermles, in der übrigens – nicht überraschend – Seelisberg keine Erwähnung findet, oder die wichtigen umfangreichen Quellenbände von Rolf Rendtorff und Hans Hermann Henrix, in denen allerdings – bezeichnend! – Seelisberg ebenfalls fehlt; ferner einschlägige Arbeiten von Arnulf Baumann, Hans Erler/Ansgar Koschel und Susanne Vetter sowie neuere Publikationen zu Gertrud Kurz und Leonhard Ragaz.1

Die Arbeit ist gut lesbar und sorgfältig gestaltet – dass der Titel und das Amt des Propstes konsequent falsch, nämlich „Probst“ geschrieben wurde, hätte den Herausgebern allerdings auffallen müssen.

Anmerkungen

  1. Rolf Rendtorff und Hans Hermann Henrix, Die Kirchen und das Judentum, Bd. 1: Dokumente von 1945–1985, 3. Aufl. (Paderborn: Bonifatius, 2001); Auf dem Wege zum christlich-jüdischen Gespräch: 125 Jahre Evangelisch-Lutherischer Zentralverein für Zeugnis und Dienst unter Juden und Christen, hg. v. Arnulf Baumann (Münster: LIT, 1998); Der Dialog zwischen Juden und Christen: Versuche des Gesprächs nach Auschwitz, hg v. Hans Erler und Ansgar Koschel (Frankfurt a. M.: Campus, 1999); Wegbereiter des christlich-jüdischen Dialogs: Leonhard Ragaz und Schalom Ben-Chorim, Briefwechsel 1938–1945, hg. v. Susanne Vetter (Darmstadt: Leonhard-Ragaz-Institut, 1995); Martin Jung, Wagnis Versöhnung: Das „Dattelner Abendmahl“, Etienne Bach, Gertrud Kurz und die „Kreuzritter für den Frieden“. Mit einer Neuedition von Etienne Bachs Vortrag „Wie ich als Franzose mit Deutschen zusammenarbeiten möchte“ (1931) (Aachen: Shaker, 2014); Scherina M. Wolke, Verständigung schaffen: Leonhard Ragaz und das Judentum (Düren: Shaker, 2019).