Martin Hengel und Anna Maria Schwemer. Geschichte des frühen Christentums, Bd. 2: Die Urgemeinde und das Judenchristentum. Tübingen: Mohr Siebeck, 2019. XXIV, 790 Seiten, EUR 134, ISBN 978-3-16-149474-1
Universität Tübingen
Der zweite von vier Bänden zur Geschichte des frühen Christentums von Martin Hengel und Anna Maria Schwemer (fortan Verf.in) hat die nachösterliche Jerusalemer Gemeinde, das christusgläubige Judentum in Palästina und die traditionell als Parting of the Ways bezeichneten Trennungs- und Entfremdungsprozesse zwischen den verschiedenen Gruppen des antiken Judentums und den ersten aus Völkerchristen und christusgläubigen Juden bestehenden Gemeinden zum Gegenstand. Erste Textvorlagen mit Paragrafen zu „Urgemeinde“ und Chronologie sowie erste Untersuchungen zu Stephanus und Philippus gehen noch auf Martin Hengel († 2. Juli 2009) zurück (v). Den Charakter des anfänglich gemeinsam verantworteten Bandes erkennt man hier und dort noch im Gebrauch der 1. Person Plural.
Maßgebliche Quellen für die Rekonstruktion der Frühgeschichte der nachösterlichen Jesusbewegung sind für Verf.in die Paulusbriefe, die Apostelgeschichte, die Werke des Josephus und die Evangelien, für die sie Martin Hengel folgend im Fall der Synoptiker auf das Postulat einer Matthäus und Lukas zugrundeliegenden Logienquelle (Q) verzichtet und von der Abhängigkeit des späteren Matthäusevangeliums vom Lukas- und Markusevangelium ausgeht (vi). Den historischen Wert der über die Frühzeit berichtenden Apostelgeschichte problematisiert Verf.in ausführlich und merkt dabei die Legendenbildung bei der Beschreibung prominenter frühchristlicher Gestalten, Spuren starker Bearbeitung verwendeter Quellen durch Lukas sowie idealisierende und harmonisierende Darstellungen der Ereignisse an. Ferner macht sie auf die Tendenz zur Übertreibung als rhetorisches Mittel zur dramaturgischen Ausgestaltung aufmerksam, was im Bericht von der Welthungersnot in Apg 11,28 anschaulich wird, die außerbiblischen Quellen zufolge allein auf Judäa begrenzt geblieben sein dürfte, aber von Lukas als „Zeichen der weltweiten messianischen Wehen“ (172) verstanden wurde. Ferner deckt sie wie im Fall von Apg 8,1 Widersprüche in der lukanischen Darstellung der Verfolgung der nachösterlichen Jerusalemer Gemeinde auf, die sich entgegen aller Erwartung angeblich nicht gegen die Apostel als Rädelsführer gerichtet haben soll, sondern stattdessen ihre übrigen Anhänger zur Flucht aus Jerusalem bewegt habe (163). Als Besonderheit der Darstellung des Lukas hebt sie dessen Interesse an der Verknüpfung von Heilsgeschehen und römischer Reichsgeschichte hervor. Nach Verf.in steht Lukas damit „in der Tradition der alttestamentlich-jüdischen Geschichtsschreibung und kann mit Recht als Theologe einer bewusst darauf gründenden Heilsgeschichte bezeichnet werden“ (169-170). Beim Vergleich der paulinischen und der lukanischen Darstellung der Ereignisse um die Missionstätigkeit des Paulus muss sie konstatieren, „dass die Lückenhaftigkeit der Quellen, ihre Widersprüchlichkeit und die Zufälligkeit dessen, was uns erhalten geblieben ist, eine wirklich klare historische Rekonstruktion dessen, ‚wie es gewesen sein könnte‘, erschweren“ (241). Diese Einschätzungen münden für Verf.in aber nicht in eine Resignation vor der schwierigen Quellenlage und in einen Verzicht auf eine auf plausiblen Hypothesen basierende Darstellung der Frühgeschichte, wie im Folgenden aus dem kurzen Überblick über die einzelnen Buchteile und an ein paar thematischen Schlaglichtern ersichtlich wird.
In Teil I. Die Urgemeinde (1–136) setzt Verf.in erwartungsgemäß mit der Entstehung und Organisation der nachösterlichen Gemeinde in Jerusalem und den Inhalten ihrer christologisch und soteriologisch orientierten Verkündigung ein. Zu den zentralen Themen und Problemfeldern der nachösterlichen Jesusbewegung, wie sie sich aus der Darstellung des Lukas rekonstruieren lassen, zählt Verf.in u. a. die Auseinandersetzungen mit der Priesteraristokratie, die Organisation der Gruppe nach dem Ideal der Gütergemeinschaft sowie die Rolle der Apostel und die Stellung der Charismen im Zusammenhang der frühchristlichen Gemeindeordnung. Was die Zugehörigkeit zum Apostelkreis anbelangt, so scheint dieser nach der Rekonstituierung der Gruppe in Jerusalem keinen Bruch mit der Familie mehr bedeutet zu haben. Verf.in erklärt dies mit der Hochschätzung der Familie (54) als jüdisch-palästinisches Erbe und mit der Ablehnung der Ehescheidung durch Jesus. Häuser und Familien werden zu neuen Keimzellen der sich ausbreitenden Bewegung, und dies trotz der Tradierung und Hochschätzung von Jesus-Logien wie Lk 14,26, in dem die Ablehnung der eigenen Familie zur Voraussetzung für die Nachfolge gemacht wird (51-71). Wie schwierig die Rekonstruktion der Verkündigung der nachösterlichen Jesusbewegung in Jerusalem ist, lässt sich am Beispiel der Christologie sehr gut verdeutlichen. So schließt Verf.in aus der Untersuchung der Petrusreden in Apg 2-5 auf die Verarbeitung alten christologischen Materials durch Lukas (5-6). Gleichzeitig attestiert sie aber dem Autor der Apostelgeschichte, ebenfalls eine „einfache“ Christologie besessen zu haben, die wiederum durch die älteren, von ihm gesammelten Traditionen beeinflusst gewesen sei. Hier steht die Analyse der Christologie, wie sie die Scheidung von überkommener Tradition und lukanischer Redaktion zur Voraussetzung haben muss, natürlich schnell in der Gefahr, zirkulär zu werden.
In Teil II. Die Ausbreitung der Gemeinde und die Anfänge der Heidenmission (137-247) setzt Verf.in mit der Darstellung der ursprünglich aus der Diaspora stammenden und in Jerusalem ansässig gewordenen Gruppe der Hellenisten und der Stephanusverfolgung ein. Die aufgrund ihrer griechischen Muttersprache von den aramäischsprachigen Hebraioi getrennte Gruppe der Hellenisten wird die aramäische Botschaft Jesu zum ersten Mal für ihre Verkündigung und zu missionarischen Zwecken ins Griechische übertragen haben. Die Trennung beider Gruppen wird Verf.in zufolge auf die zentrale Bedeutung der Wortverkündigung in der je eigenen Sprache zurückzuführen sein. In der durch ihre kritische Haltung zur Tempelaristokratie und durch ihre besondere Form der Tora-Auslegung entfachten Verfolgungs- und Vertreibungssituation (Apg 8,1) der Hellenisten sieht Verf.in den Anfang der Hinwendung zu den Samaritanern (Apg 8,5) und Gottesfürchtigen als den Randgruppen des zeitgenössischen Judentums (167). Vor dem Hintergrund von Apg 21,28-29 wird man allerdings fragen dürfen, ob die Berichte von Spannungen und Anfeindungen gegen die Hellenisten ihren historischen Hintergrund nicht bereits in der Hinwendung zu den Randgruppen zur Ursache haben, was gerade angesichts der vielfältigen Verflechtungen der Hellenisten mit der Diaspora naheliegen würde. An die Beschäftigung mit der Gruppe der Hellenisten lässt Verf.in sodann weitere Abschnitte zur Chronologie der nachösterlichen Jesusbewegung (169-179), zur missionarischen Tätigkeit des Philippus (180-202) und zum frühen Paulus (203-247) anschließen, bei dem sie ihr Augenmerk vor allem auf Herkunft, Berufung und frühe missionarische Tätigkeit legt. Was die paulinischen Missionsbestrebungen anbelangt, stellt Verf.in die berechtigte Frage nach den Anfängen der Hinwendung des Paulus zu den Völkern. Während das Missionsgebiet des frühen Paulus nach seiner Eigendarstellung in Gal 1,17.21 auf Arabien, Syrien und Kilikien begrenzt gewesen sei und sich hierin möglicherweise alte Vorstellung von den Grenzen des davidischen Messiasreiches widerspiegeln (125), habe Paulus sich bald seinem Selbstverständnis als berufener Völkerapostel entsprechend auch über diese Grenzen hinausbewegt. Mit der Behauptung, dass Petrus wiederum der Initiator „der Heidenmission ohne die Rücksichtnahme auf die Einhaltung jüdischer Speisegesetze“ war, habe Lukas (demnach?) historisch gesehen nicht recht gehabt (246).
In Teil III. Der Kampf um die Heidenmission (251-415) befasst sich Verf.in mit der Überwindung der ersten Widerstände gegen die Völkermission (251-293), der Rolle Antiochias für die Evangeliumsverkündigung unter Nichtjuden (294-346), der lukanischen Darstellung der ersten Missionsreise des Paulus (367-394) und schließlich mit Apostelkonzil und Aposteldekret (395-415). Die anfänglichen Vorbehalte gegen die Samaritaner- und Völkermission scheinen nach Verf.in immer noch in Passagen wie Mt 10,5-6 und 15,21-28 durch, sind aber für die matthäische Gemeinde mit dem Befehl zur Völkermission durch den Auferstandenen in Mt 28,16-20 schon längst überwunden. Besonders eindrücklich – und dies wird man den Ausführungen der Verf.in hinzufügen dürfen – gestaltet Matthäus diese Hinwendung zu Völkern durch wohlüberlegte kompositorische Entscheidungen in der Anordnung der ihm überkommenen Quellen. So schließt die Sendung und das Missionsverbot unter den Völkern in Mt 10,5-6 nach einer Sequenz von Heilungserzählungen direkt an die Konstituierung des Zwölferkreises in Mt 9,9-13 an, der in der Verkündigung Jesu wohl repräsentativ für die zwölf Stämme Israels stand. Die Episode über die Heilung der Tochter einer „kanaanäischen“ Frau wiederum wird durch das Streitgespräch über Reinheitsfragen im Zusammenhang der Speiseaufnahme vorbereitet, was in assoziativer Weise im Bild der „Mahlteilnahme“ der Völker am Tisch Israels in Mt 15,27 aufgegriffen wird. Der nachösterliche Widerstand gegen die Hinwendung zu den Völkern wird dann sicherlich auch nicht grundsätzlich gewesen sein, sondern entzündete sich vermutlich an der Frage nach der Gültigkeit der beschneidungsfreien Völkermission.
Im abschließenden Teil IV. Das palästinische Judenchristentum (419-611) stehen für Verf.in das christusgläubige Judentum in Palästina (419-439), die Vita des Herrenbruders Jakobus (440-511), die Auswanderung der Jerusalemer Gemeinde nach Pella (512-519) und die Trennungsprozesse zwischen jesusgläubigem Judentum und dem Rest der in Palästina ansässigen jüdischen Gruppen im Vordergrund. Was die jüngst wieder von Udo Schnelle vorgebrachten Einwände gegen die Belastbarkeit der Pella-Tradition bei Eusebius anbelangt, merkt Verf.in an, dass eine Zerstörung von Pella im ersten jüdischen Krieg archäologisch nicht nachweisbar ist. Auch die Auswanderung in eine mehrheitlich von Nichtjuden bewohnte Stadt hält Verf.in vor dem Hintergrund einiger bei Josephus (Bell 2,279; Ant 20,256) überlieferter Auswanderungswellen von Judäern in nichjüdisches Gebiet für nicht undenkbar. Beim für die Beurteilung des Verhältnisses zwischen pharisäischem und jesusgläubigem Judentum so wichtigen ersten Evangelisten macht Verf.in mit Bezug auf Mt 23,2-3 die Beobachtung, dass „die Jünger […] im Matthäusevangelium keine Lehrhoheit in Bezug auf die Tora“ (549) und damit – so wird man ergänzen müssen – auch nicht in Bezug auf die Halacha (vgl. Mt 23,23) besitzen. Zustimmend zitiert sie sodann Hans-Jürgen Becker, demzufolge „von einer ‚Zugehörigkeit zum Synagogenverband‘ […] allenfalls im Sinne der jurisdiktionellen Zuständigkeit des rabbinischen Bet Din gesprochen werden“ (557) könne und Matthäus „die Perspektive einer Gemeinschaft [vertrete], die der Synagoge bereits getrennt gegenübersteht“ (558). Setzt man aber die in Mt 23,3 geforderte Unterordnung der Jünger unter die Lehrhoheit und Gerichtsautorität der Pharisäer ins Verhältnis zu den Auseinandersetzungen der verschiedenen innerjüdischen Religionsparteien zur Zeit des Zweiten Tempels, dann kann Beckers Urteil kaum zutreffend sein. Ganz im Gegenteil muss man trotz der schroffen matthäischen Polemik sogar darüber staunen, dass sich die matthäische Gruppe gegen die Absonderung in ein koventikelartiges Gemeinschaftsleben entschied und Teil einer jüdischen Strömung blieb, von der sie sich zwar in ihrer halachischen Ausprägung kaum unterschied, von der sie sich aber durch ihre „bessere Gerechtigkeit“ abheben sollte (vgl. Mt 5,20). Der Hinweis auf die mit Geißelung ausgetragene Synagogalstrafe in Mt 10,17 und 23,34 ist nur verständlich, wenn sich Mitglieder der matthäischen Gruppe noch zur pharisäisch geführten Synagogengemeinschaften zugehörig fühlten. Überhaupt ist die Rede von „ihren Synagogen“ auch nur sinnvoll, wenn die matthäische Gruppe selbst in Synagogen beheimatet war, in denen sie wiederum keine Verfolgung zu befürchten hatte.
Verf.in ist mit diesem Band ein großer Wurf gelungen, zu dem sie zu beglückwünschen ist. Ihre tiefe Vertrautheit mit den Texten des frühen Christentums und antiken Judentums und ihre Versiertheit mit den sowohl forschungsgeschichtlich relevanten als auch aktuell geführten Fachdiskursen zur Frühgeschichte der nachösterlichen Jerusalemer Gemeinde und des christusgläubigen Judentums in Palästina zeigt sie auf eindrucksvolle Weise auf jeder einzelnen Seite des Buches. Der Band schafft genau das, wofür eine Geschichte des frühen Christentums gedacht sein sollte: Er regt intensiv zur historischen und theologischen Reflexion über Entwicklung und Verkündigung der nachösterlichen Jesusbewegung an und motiviert zur weiterführenden selbstständigen Auseinandersetzung mit den Quellen des frühen Christentums.