Maoz Azaryahu. An Everlasting Name: Cultural Remembrance and Traditions of Onymic Commemoration. Berlin: De Gruyter Oldenbourg, 2021. 203 Seiten, EUR 60.95, ISBN: 978-3-11-072299-4
Universität Bern
Der Bedeutung von Erinnerungskulturen für die Bildung kollektiver und nationaler Identitäten wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung seit einiger Zeit grosses Gewicht beigemessen. Es sei hier nur an das im jüdischen Kontext wegweisende Werk von Yosef Haim Yerushalmi Zakhor oder an die Arbeiten von Jan und Aleida Assmann zum kulturellen Gedächtnis verwiesen. Das Gedenken an einzelne Verstorbene durch das Festhalten ihres Namens auf Denk- oder Grabmälern kann uns so selbstverständlich erscheinen, dass diese quasi alltägliche und allgegenwärtige Erinnerungskultur sich der wissenschaftlichen Betrachtung leicht zu entziehen vermag.
Der israelische Geograph und Kulturwissenschaftler Maoz Azaryahu, der an der Universität Haifa lehrt, hat es nun unternommen, diese tatsächlich sehr alte und weit verbreitete Form der „Verewigung“ von Toten in einer faszinierenden Monographie festzuhalten. Eigennamen sind seit rund 12 000 Jahren belegt. In Mesopotamien finden sich bereits vor über 4 000 Jahren die ersten namentlichen Erinnerungstafeln an verstorbene Herrscher. Azaryahus Forschungsgegenstand reicht denn auch über die Epoche der Sumerer und der biblischen Erinnerungskultur bis zum aktuellen Umgang mit den Millionen Opfern der Shoah und den in den Nahostkriegen gefallenen israelischen Soldaten.
Die Bedeutung von Namen in der jüdischen Erinnerungskultur nimmt zwar im Buch breiten Raum ein, doch versteht es der Autor diese Traditionsstränge immer wieder mit Entwicklungen in anderen religiösen, aber auch nicht-religiösen Kontexten zu verbinden. Dabei erlaubt sich Azaryahu seine Abhandlung mit humorvollen Pointen anzureichern und dadurch auf subtile Weise auch das menschliche Bedürfnis nach Ruhm und Unsterblichkeit ironisch zu hinterfragen. Dies geschieht beispielsweise mit einem Zitat von Theodor Herzl (S. 9 und 22: „Immortality is possibly a very pleasant feeling, especially if one is still alive.“) oder mit einem Ausspruch von Groucho Marx (S. 21: „Why should I care about posterity? What’s posterity ever done for me?“).
Ein „Weiterleben“ nach dem Tod durch namentliche Erinnerung kennzeichnet bis in die Gegenwart sowohl das Judentum als auch das Christentum. In beiden Religionen kommt dem mit einem Eigennamen versehenen Grabplatz zentrale Bedeutung zu. Erst in jüngster Vergangenheit beginnt sich diese Tradition im Kontext einer fortschreitenden Säkularisierung vielerorts aufzulösen. Die traditionelle Einrichtung von Friedhöfen mit individuell erkennbaren Grabstätten verliert zunehmend an Bedeutung. Namentlich erkennbare Gräber mit Erdbestattungen, aber auch individuelle Urnengräber für einzelne Verstorbene werden häufiger durch Orte abgelöst, an denen die Asche anonym verstreut wird. Eine Reflexion über diesen markanten aktuellen Wandel im Umgang mit Verstorbenen hätte Azaryahus Studie sicher sinnvoll ergänzt.
Wie Azaryahu jedoch zu Recht festhält, bekam im Kontext des zeitgenössischen Judentums die namentliche Erinnerung an Verstorbene eine neue dramatische Bedeutung, welche die traditionelle Erinnerungskultur durch das Festhalten des individuellen Namens einerseits fortschreibt, anderseits aber auch markant erweitert. Wurde bis anhin einzelnen Männern und Frauen beispielsweise durch Grabmäler, Denkmäler oder Strassenschilder gedacht und die Existenz dieser Persönlichkeiten dadurch „verewigt“, erhielt die namentliche Gedenkkultur durch die Shoah eine neue Dimension. Mehrere Millionen Frauen, Männer und Kinder wurden zwischen 1941 und 1945 in Gaskammern und bei Massakern ermordet sowie anschliessend verbrannt oder in Massengräbern verscharrt. Die Mörder waren daran interessiert, die Spuren ihrer Verbrechen zu tilgen und eine individuelle Erinnerung an einzelne Opfer damit zu verunmöglichen. Diese radikale Form der Vernichtung, nicht nur der ermordeten Menschen, sondern auch der materiellen Spuren ihrer Existenz, für die Nachwelt wenigstens symbolisch rückgängig zu machen, ist in den letzten Jahrzehnten ein zentraler Aspekt der Holocausterinnerung weltweit geworden. Dafür stehen unter anderem die Opfer-Datenbank von Yad Vashem, die inzwischen Millionen Datensätze gesammelt hat, das Mahnmal zur Erinnerung der rund 75 000 aus Frankreich deportierten und ermordeten Juden im Mémorial de la Shoah in Paris sowie unzählige Gedenktafeln und Stolpersteine mit der Auflistung von Namen der lokalen Opfer des Holocaust im ehemaligen Macht- und Einflussbereich des nationalsozialistischen Deutschen Reiches. In der israelischen Holocaustgedenkstätte Yad Vashem findet sich zwar eine Hall of Names, da aber die Namen der Millionen Opfer wohl nie vollständig eruiert werden können, sind die erfassten Toten des Völkermords über eine kontinuierlich ergänzte Datenbank via Computer abrufbar. Auch das Berliner Holocaustmahnmal verzichtet auf Namensnennungen. Der Besucher kann jedoch im unterirdischen Ausstellungsbereich auf Opferdatenbanken zurückgreifen. Während virtuelle Gedenkorte wie die Datenbank von Yad Vashem kontinuierlich ergänzt werden können, ergibt sich bei klassischen Denkmälern mit meist alphabetisch angeordneten Namenslisten, wie dem Pariser Shoah-Denkmal, das Problem der Unvollständigkeit und der Fehlerhaftigkeit, die aufwendig behoben werden müssen. Azaryahu belegt dieses „Flickwerk“ bei den Denkmälern für gefallene Soldaten der Weltkriege, wo häufig Namen später eingefügt werden mussten, die dann die alphabetische Ordnung und die Ästhetik des Mahnmals beeinträchtigen. Die Hall of Memory auf dem Mount Herzl, wo Israel seiner gefallenen Soldaten gedenkt, ist wiederum so angelegt, dass das Denkmal laufend mit neuen Gedenkbausteinen ergänzt werden kann, die in einer chronologischen Reihenfolge angeordnet sind.
Sowohl die ersten schriftlichen Gedenktafeln zu Ehren von Königen in Mesopotamien als auch die Datenbank für die Opfer der Shoah und das „unfertige“ Soldatendenkmal in Jerusalem bezeugen das offensichtlich tiefsitzende menschliche Bedürfnis, wenn nicht unsterblich zu sein, so doch eine fortlaufende Spur in der Nachwelt zu hinterlassen, die die Einzigartigkeit jeder Person festhält. Es ist das Verdienst Maoz Azaryahus, die Entwicklungen dieses bedeutenden kulturgeschichtlichen Phänomens einer interessierten Öffentlichkeit in einer zugleich analytischen und gut lesbaren Monographie zu präsentieren.