Seit Moshe Idel mit seiner zweibändigen Doktorarbeit Kitvei R. Avraham Abulafia u-mishnato („Die Schriften des Rabbi Abraham Abulafia und seine Lehre“, Jerusalem 1976) das
Forschungsgebiet der sog. „prophetisch-ekstatischen“ Kabbala, das vorher im allgemeinen
nur durch ein Kapitel in Gershom Scholems Major Trends in Jewish Mysticism1 bekannt gewesen war, in neuer Tiefe und Breite erschlossen hat, wurde es zu einem
der auffälligsten Katalysatoren akademischer und nicht-akademischer Rezeption der
Kabbala. Letztere verhalf der durch Abraham ben Samuel Abulafia (1240–ca. 1291) repräsentierten
mystischen Strömung, die sich von der sonst innerhalb der Kabbala bevorzugten theosophischen
– und nach Moshe Idel auch als „theurgisch“ zu charakterisierenden – Ausrichtung an
der Struktur der zehn innergöttlichen Manifestationen (Sefirot) durch ihre „Kabbala der (Gottes-)Namen“ mit Konzentration auf radikale Formen der
Hermeneutik (u. a. Gematria und Techniken der Buchstabenkombinatorik) unterschied,
zu einer populären Renaissance: wie fernöstliche Yoga-Praktiken fanden die diesen
nicht unähnlichen Meditationsübungen ganz im Stile postmoderner New Age Bewegungen
inzwischen eine eigene Anhängerschaft. Moshe Idels neues Buch2 – in seiner thematischen Fokussierung sicher eines seiner besten – kontrastiert solche
Entwicklungen mit einer Fragestellung, die je nach Beantwortungslage für manche womöglich
einen methodologischen Neustart in der Abulafia-Forschung signalisiert: was, wenn
Abulafia, der Maimonides’ philosophisches Hauptwerk („Führer der Unschlüssigen“) viel
weitgehender als andere Kabbalisten – sofern sie sich überhaupt darauf einließen –
folgte, auch dessen Strategie der Camouflage übernahm? Verhüllung ist natürlich zentraler
Bestandteil des mittelalterlichen Wissensmanagements, aber die Gründe kabbalistischer
Geheimhaltung sind nicht einfach übertragbar auf die Zurückhaltung bei philosophischen
Zumutungen. Ähnlich ist in beiden Fällen immerhin die Erkenntnis, dass nur Gleichgesinnten
und -gebildeten gefahrlos Zugang gewährt werden kann. Moshe Idel analysierte bereits
in einigen Veröffentlichungen drei kabbalistische Kommentarwerke Abulafias zum „Führer
der Unschlüssigen“ (in Samuel ibn Tibbons hebräischer Übersetzung Moreh Nevukhim). Doch in Abraham Abulafia’s Esotericism wird eine bisher nur angeklungene These ausformuliert, die auf Leo Strauss’ Interpretation
des esoterischen Schreibens in Persecution and the Art of Writing (1941/1952), und zwar speziell in Bezug auf Maimonides, basiert. Kann dessen politisch
motivierte Form der Esoterik auch zur Erklärung der kabbalistischen Geheimnisse dieses
Maimonides-Kommentators herangezogen werden? Nach Idel gibt es zwar diverse esoterische
Ansätze bei Abulafia, z. B. messianisch-eschatologischer Art – was allein schon der
waghalsige Versuch des vierzigjährigen Abulafia nahelegt, Papst Nikolaus III. auf
dessen Landsitz zu besuchen –, aber erst die persönliche Verfolgung, der er sich ausgesetzt
sah, habe zu einer besonderen Akzentuierung geführt: „political esotericism is the
most important kind found in Abulafia’s work“ (17). Im Mittelpunkt stehe dabei ein
intellektualistisches Gottesbild, das der gesellschaftlich etablierten Mehrheitsmeinung
traditionell gehaltener oder wörtlich genommener Gottesvisionen widersprochen habe.
Das Buch ist in vier Hauptteile gegliedert, umklammert von einer Einleitung in die
Problemstellung, in die neben Strauss noch Mircea Eliade und Gershom Scholem einbezogen
werden, sowie von fünf Appendizes mit teils übersetzten Quellen (und einer hebräischen
[diplomatischen] Edition zu MS Florenz, Medicea-Laurentiana Plut. II.20/1, fol. 17a-18b
[Perlenparabel]), teils Detailanalysen zu Themen und Texten. Das Vorwort von Warren
Zev Harvey („A Maimonidean Kabbalist“) würdigt den Autor – fast wie eine vorgezogene
Laudatio zu dessen 75. Geburtstag (2022) – und signalisiert bereits, dass Idels Bezüge
und Diskussionen philosophischer Kontexte im engen Austausch mit diesem Maimonides-Kenner
entstanden sind. Der erste Hauptteil („Abraham Abulafia’s Studies and Teaching“) kann
als Einstieg – nicht als allgemeine Einführung – in Abulafias Leben und Werk gelten.
Wichtig ist Idel die Wendemarke in den 1270er Jahren, als Abulafia in Barcelona begann
das „Buch der Schöpfung“ (Sefer Yeẓirah) mit seinen Kommentaren zu studieren. Hier erwarb und vertiefte er seine kabbalistischen
Vorstellungen, doch ohne – wie manch andere, die zur Kabbala fanden – seine bisherige
philosophische Haltung aufzugeben. Deren Fundament war und blieb Maimonides’ Hauptwerk,
welches er weiterhin als Lehrer unterrichte, wie ein Unterkapitel anhand Abulafias
autobiographischer Berichte in Italien und Spanien erläutert. Unter den Schülern gab
es viele enttäuschende, aber auch hervorragende wie Josef Gikatilla, den Abulafia
als besten lobt, und Nathan ben Sa’adya Ḥarar, den Idel als Verfasser der mystischen
Erfahrungen in Sha’are Ẓedeq („Pforten der Gerechtigkeit“) identifiziert; auf ihn wird in Appendix B gesondert
eingegangen, da er in Abulafias Widmung der sog. Perlenparabel als „Nathan der Weise“
(Nathan ha-navon) bezeichnet wird, was zumindest die Assoziation mit Gotthold Ephraim Lessings gleichnamigem
Drama nahelegt.
Im Gegensatz zu Elliot R. Wolfsons Darstellung, so Idel, verstehe er Abulafias kabbalistische
Ausrichtung nicht als Abkehr von seinen philosophischen Auffassungen, sondern messe
diesen dauerhaft eine entscheidende Bedeutung zu. Das verdeutlicht Idel auch anhand
von Abulafias Beschäftigung mit anderen philosophischen Quellen als den maimonidischen.
Bekannt ist der Verweis auf eine hebräische Übersetzung des Liber de Causis in seiner letzten Schrift, Imre Shefer („Worte der Schönheit“), dazu kommt der Einfluss von Al-Fārābī, Avicenna und Averroes,
den Idel nicht nur in Abulafias Kommentaren zu den sog. „sechsunddreißig Geheimnissen“
(nach dem Zahlwert von לו in Lev 25, 31.48) des Moreh Nevukhim feststellt, sondern auch in dessen Exodus-Kommentar „Schlüssel der Namen“ (Mafteaḥ ha-Shemot), der sonst eher durch die Erklärung der Atemtechnik bei der Aussprache des „Unaussprechlichen
Namens“ (i.e. das Tetragrammaton) bekannt ist. Speziell Averroes’ Auffassung von der
potentiellen Vereinigung des menschlichen Intellekts mit dem intellectus agens – und zwar nicht erst post mortem – scheint bei Abulafias ekstatischem Ziel einer unio mystica Pate gestanden zu haben, auch wenn Idel einräumt, anders als in seinem Aufsatz „Abraham
Abulafia and Unio Mystica“,3 dass Abulafia dazu nicht aus einer arabischen Quelle oder hebräischen Übersetzung
schöpfte. Die indirekte Vermittlung, vor allem durch Hillel von Verona, der auch Einblick
in ein ähnliches Konzept bei Thomas von Aquin hatte, ist in der zweiten Hälfte des
13. Jahrhunderts, als sich averroistisches Denken zunehmend verbreitete, wie Idel
erläutert, durchaus naheliegend. Ein entscheidendes Kriterium, das für die Kontinuität
philosophischen Denkens bei Abulafia spricht, wenngleich in amalgamierender Weise,
ist dessen Umgang mit Abraham ibn Ezras Schriften, dem Idel in einem Unterkapitel
nachgeht. Zentrale Bedeutung hatte offenbar Ibn Ezras Sefer ha-Shem, das Spekulationen zu den Buchstaben des Tetragrammatons und ihre Rolle als matres lectiones in Kombination mit dem Buchstaben Alef präsentiert. Ibn Ezras Bedeutung wird mit Sicherheit immer noch eher unter- als überschätzt.
Das gilt ohne Zweifel auch für dessen Einfluss auf Abulafia, ist aber im Einzelnen
nicht leicht nachweisbar, wie sich bei Idels Versuch zeigt, Abulafias Aussagen (in
seinem Sendschreiben Sheva Netivot ha-Tora [„Sieben Pfade der Tora“]) zu Ibn Ezras angeblicher (bzw. von Abulafia angenommenen)
Verhüllung einer positiven Wertung der Gematria-Methode als implizite Bestätigung
der eigenen Adaption politischer Esoterik nach maimonidischem Vorbild aufzufassen.
Der zweite Hauptteil, „Persecution and Secrets“, geht über Idels frühere Verweise
auf Maimonides’ esoterisches Schreiben, wie es Leo Strauss rekonstruierte, hinaus.
Der biographische Einblick, den Idel mit Hilfe einschlägiger Zitate aus Abulafias
Werken vermittelt, erhellt die Konfrontation mit innerjüdischen Gegnern. Dazu gehört
die subversive Qualität nicht weniger seiner Äußerungen, gerade auch solcher, die
nicht typisch für Kabbalisten sind, etwa seine Kritik einer „genetic vision of the
nation“ oder seine – zumindest von Idel so interpretierte – relativierende Interpretation
der Gebote, die leicht den Verdacht der Häresie wecken konnte (110–112). Das stärkste
Argument für Abulafias Strategie maimonidischer Camouflage findet sich in Idels anonymem
Zitat aus MS Jerusalem NUL 8° 1303, fol. 50b–51a, das er Abulafia zuschreibt. Hier
wird klar und deutlich ein gezielt eingesetzter „konfuser“ (mebulbal) Schreibstil zur Verhüllung der wahren Botschaft benannt, die nur der „Scharfsinnige“
erkennen kann und die deshalb dem oberflächlich lesenden „Ignoranten“ verborgen bleibt.
Auf diesem Hintergrund kontrastiert Idel sein Verständnis von Abulafias universalistischer
Erklärung der Sinai-Offenbarung mit Wolfsons Lesart, wonach sich Abulafia die rabbinische
Auslegung der Paradiesgeschichte zu eigen gemacht habe, die auf eine „ontische Differenz“
zwischen Juden und Nicht-Juden hinauslaufe, da sie das Sinai-Geschehen als exklusive
Befreiung des auserwählten Volkes von Evas (sexuell konnotierter) Kontamination durch
die Schlange deute. Idel führt einige Belege an, wie Abulafia seine diesbezügliche
(maimonidische) Position durchblicken lässt, beispielsweise das Wortspiel in seiner
Polemik gegen magischen Praktiken rabbinischer Gelehrter (in Otsar Eden Ganuz, einem Kommentar zu Sefer Yeẓirah): die Wendung „Berg Sinai“ (har sinai) wird mit dem Wort „Zügel“ (resen) assoziiert und die Kernaussage des biblischen Narrativs im Sinne einer jedem Menschen
(’adam) möglichen Selbstbeherrschung gedeutet, die der zügellosen Einbildungskraft der Begierden
Einhalt gebietet. Insgesamt präsentiert Idel Abulafia nachdrücklich als einen nur
dem intellektuellen Anspruch verpflichteten Denker, der keine nationalen oder religiös-partikularistischen
Tendenzen zeigt. Nebenbei bemerkt er jedoch, dass die Entdeckung einer solchen (anderen)
Seite an Abulafia trotzdem „nicht überraschend“ wäre, schließlich bestünde das intellektuelle
Profil eines Menschen nicht aus „frozen entities“ (141). Nach seinem mit Verve geführten
Plädoyer für eine Korrektur irreführender Abulafia-Interpretationen – neben Wolfson
nennt er vor allem Robert Sagerman – stimmt eine solche Aussage zumindest nachdenklich
und liest sich fast selbst wie eine versteckte Anmerkung politischer Esoterik, zumal
Idel im nächsten Satz sofort klarstellt „I doubt whether it is possible to find material
dealing with this precise topic … that could challenge this evaluation of Abulafia’s
universalist position“ (142). Die gleiche philosophische Grundhaltung, einschließlich
des esoterischen Zugangs, bestätigt sich nach Idel auch bei Abulafias Umgang mit der
Tora, teilweise inspiriert von Baruch Torgami, Abulafias Lehrer und Vorbild in Sachen
exegetischer Methodik.
In den letzten beiden Hauptteilen folgt zuerst eine Detailanalyse zu Abulafias berühmtestem
Text, seine Adaption der Perlenparabel in dem Handbuch Or ha-Sekhel (“Licht des Intellekts“), danach eine Zusammenfassung von Beobachtungen zur Sonderstellung
dieses „maimonidischen Kabbalisten“ in der Geschichte der mittelalterlichen Kabbala.
Der Perlenparabel, die gern als „hebräische Version“ der Ringparabel, die in Boccaccios
Decamerone aufgenommen wurde, mit dieser verglichen wird, wandte sich Idel bereits
in früheren Veröffentlichungen zu, vor allem in „The Pearl, the Son, and the Servants
in Abraham Abulafia’s Parabel“ (2013).4 Leider wird dieser wichtige Beitrag nirgendwo erwähnt und fehlt auch im sonst sehr
ausführlichen Literaturverzeichnis, das rund 130 Titel von Moshe Idel aufweist. Wie
zum ersten Mal in diesem Artikel wird auch in der vorliegenden, von dort übernommenen
Übersetzung der rahmende Kontext – wie überhaupt das ganze Handbuch zur Gottesnamen-Meditation
– einbezogen, den Idel für unverzichtbar hält, der in der Forschung aber immer noch
nicht genügend beachtet würde. Seine Analyse macht deutlich, dass in dieser mehrschichtigen
Parabel mit historischen und eschatologischen Bezügen die Ebene der „psychological
allegory“ die ausschlaggebende ist. Diese kulminiert, christlich-anagogischer Interpretationsweise
nicht unähnlich (167), in der individuellen Erlösung, die als aktiv herbeiführbare
Wirklichkeitserfahrung möglich ist. Damit verbunden sind die Kritik real existierender
Religionen und die prophetische Botschaft einer neuen „universalen Religion“ (ha-dat ha-kelalit), die die Perle symbolisiert. Natürlich ist hier wieder das Hauptkriterium des notwendigen
Einsatzes politischer Esoterik erfüllt, die nach Idels Beschreibung nichts anderes
bedeutet als die Verklausulierung nicht gesellschaftskonformer Überzeugungen (man
kann bedauern, dass in Zeiten der Corona-Epidemie „politische Esoterik“ nur fragwürdige
politische Demonstrationen der sog. esoterischen Szene meint). Abulafia sah keinen
Anlass, ein jüdisches Proprium für die Offenbarung der Tora zu reklamieren, das in
einem tieferen Verständnis der Halacha zu finden wäre. Darüber hinaus betont Idel,
dass Abulafia keinesfalls eine „more democratic Rabbinic form of Judaism“ (265) intendiert,
wenn das hohepriesterliche Ritual der Aussprache des Gottesnamens am Versöhnungstag
durch die allegorische Übertragung auf die Erlernbarkeit der mit dem Gottesnamen verbundenen
Kombinationstechniken in gewisser Weise „demokratisiert“ wird (262). Vielleicht hatte
Idel bei dieser Formulierung die populär gewordene Vereinnahmung der Kabbala (gemeinhin
durch dankbare Aufnahme weiblicher Aspekte der Gottesvorstellung) im modernen konservativen
und Reform-Judentum kritisch im Blick. Abulafia verkündete nicht nur eine exklusiv
auf die Sprachauffassung bezogene „neue Tora“ (torah ḥadashah), sondern auch ein nicht-historisches und nicht-genetisches „Israel“, dessen Zahlenwert
(yisra’el=541) er nicht zufällig in der hebräischen Bezeichnung des intellectus agens (sekhel ha-po’el=541) wiederfand (181).
Was unterscheidet diesen Kabbalisten von allen anderen Kabbalisten? Nach Idel ganz
wesentlich seine messianischen Ambitionen. Die messianische Idee ist die Tonart, die
mit unterschiedlichen Modulationen in seinen fast fünfzig Schriften immer wieder hörbar
wird. Anders jedoch als bei Kombinationen von Kabbala und Messianismus, wie sie ab
dem 15. Jahrhundert virulent werden sollten, werden Inhalt und Adressaten von vornherein
universalistisch gedacht und bestimmen so auch den esoterischen Modus seiner Schreibweise.
Abulafias Kabbala bedient sich exegetisch der Allegorie, methodisch der Buchstabenkombinatorik
und intentional der ekstatischen Erfahrung, und gemeinsam lösen die drei Aspekte das
messianische Versprechen individueller Erlösung ein. Das sind nicht die theosophischen
Geheimnisse der Tora oder solche, die ihren glorreichen Interpreten wie Rabbi Akiva
oder Rabbi Shimon bar Jochai, auf die sich kabbalistische Tradition sonst gern beruft,
zugeschrieben werden. Es sind vielmehr die Geheimnisse des Abraham Abulafia, seinem
eigenen Selbstverständnis nach ein Prophet und messianischer Lehrer.
Moshe Idels Antwort auf die Ausgangsfrage hinsichtlich der Implikationen esoterischen
Schreibens bei Abulafia fällt in dieser Monographie nicht überraschend neu aus, aber
systematischer und umfassender als in seinen bisherigen Einzelanalysen und in seiner
immer noch grundlegenden Dissertation. Weitergehende Überlegungen oder zu Einzelaspekten
neu herangezogenes Handschriftenmaterial werden ebenfalls eingearbeitet. Grundsätzlich
geht es Idel darum, das Profil Abulafias als dasjenige eines originellen, facettenreichen
Kabbalisten nachzuzeichnen, das auch in dessen persönlicher Entwicklung abwechslungsreich
nuanciert ist, etwa bei der Einstellung zu den Geboten, die sich in der mit ihrem
Titel nicht im Widerspruch befindenden Schrift Shomer Miẓwah („Bewahrer des Gebots“) auffällig von der radikalen Position seines Sefer Ḥayye ha-Nefesh („Buch des Lebens der Seele“), ein Kommentar zu Moreh Nevukhim, unterscheidet. Ein Beispiel zu letzterem ist das Anlegen der Gebetsriemen (Tefillin),
dessen Internalisierung Abulafia über den gleichen Zahlenwert (=575) von Tefillin
und yeẓer ha-ra‘ („der böse Trieb“) anzeigt. Damit will er nicht ein religiöses Gebot verteufeln,
sondern (esoterisch) verdeutlichen, worum es eigentlich geht: die „Loslösung“ der
Seele von körperlicher Gefangenheit, um sie an die intelligible Welt zu binden. Die
Tefillin selbst haben dabei nur ornamentale Funktion. Das veranschaulicht laut Idel
die berühmte Illustration in MS Vatikan 597, fol. 113a,5 in der nur die Kopf-Tefillin zu sehen sind, um die es in diesem Kontext geht, aber
eben keine Tefillin am linken Arm, weil das Ritual als solches keine Rolle spielt,
mithin für Idel ein treffendes Beispiel von „spiritual allegorisation“ (286). Die
gleiche Stelle gibt auch einen Hinweis auf die Vielschichtigkeit von Abulafias Esoterik,
da sie eine für Abulafia ebenfalls typische Reminiszenz an die pythagoreische Tetraktys
enthält, die seine Zahlenspekulationen inspirierte und die Idel verspricht in einer
gesonderten Studie anhand von MS New York, JTS 1813, zu kontextualisieren (285, Anm. 134;
vgl. auch 335 f.).
Die abschließenden „Methodological Remarks“ gelten einerseits den Unterschieden zwischen
Abulafias hybridem Sonderweg und rein philosophischen sowie theosophisch-kabbalistischen
Ansätzen, andererseits den Differenzen zwischen Idel und anderen Interpreten, die
in Abulafias Kabbala klar partikularistische Sichtweisen oder eine erkennbare Nähe
zur theosophischen Richtung hervorheben oder den Anteil der maimonidischen Philosophie
überbetonen. Ganz grundsätzlich empfiehlt Idel vor allem der jüngeren Forschergeneration,
vorsichtig alle Behauptungen, Vermutungen oder „impressionistic treatments“ (300)
zu prüfen, statt diese einfach zu übernehmen, wodurch erst der eigentliche Schaden
in der Wissenschaft entstünde. Bei einem weiteren caveat bezieht er Stellung gegen
eine Überschätzung des Einflusses, den Abulafia auf so unterschiedliche Autoren wie
Ramon Lull, Dante, Meister Eckhart, Johanan Alemanno usw. bis Spinoza, Leibniz oder
Israel ben Eliezer (Besht) und den Wilnaer Gaon gehabt haben soll, gibt dazu auch
eigene Studien an und empfiehlt letztlich eine Rückkehr zu den Quellen. Trotz der
Vielzahl erst in jüngerer Zeit erschienener Ausgaben6 – da aufgrund Rabbi Salomo ibn Adrets Bann (Abulafias Reaktion darauf wird in Appendix
C behandelt) Drucklegungen offiziell nicht geduldet waren – gibt es mit einer Ausnahme,
die im Literaturverzeichnis leider nur in die Fülle der Sekundärliteratur eingeordnet
wird, kaum kritische Editionen zu Abulafias Texten.7
Moshe Idels Monographie ist eine willkommene Zusammenfassung von Ergebnissen und Kerngedanken
seiner jahrzehntelangen Abulafia-Forschung und gleichzeitig eine spannende Übertragung
der Strauss’schen Analyse esoterisch-exoterischen Schreibens in der Philosophie auf
das Verhältnis von Kabbala und Politik. Wie Harvey im Vorwort deutlich macht, trat
Idel in gewisser Weise in die Fußstapfen seines Doktorvaters Shlomo Pines, dessen
„anarchischen Argwohn“ gegenüber Theoriebildung er von Anfang an geteilt habe (XII).
Ratlos macht allerdings Harveys Bemühen, einen zwar „zu vereinfachenden“, wie er selbst
zugibt, gleichwohl aber seiner Meinung nach zutreffenden Gegensatz zu konstruieren,
der ebenso einprägsam wie missglückt ist: „Scholem’s approach was dogmatic, Pines’s
was sceptical“ (ebd.). Auch und gerade in Bezug auf Abulafia dürfte Harvey mit dieser
Einschätzung falsch liegen. Das beginnt schon mit Scholems frühem Interesse an Abulafia
und dessen angeblichem Verschwinden nach Veröffentlichung der Major Trends in Jewish Mysticism. Als Scholem während der Arbeit an seiner Dissertation in der Münchner Bibliothek
kabbalistische Manuskripte studierte, begann er Abulafias Techniken auszuprobieren
und stellte „Veränderungen im Bewusstsein“ fest, was ihn erkennen ließ, wie sehr sich
die Ziele kabbalistischer Methoden doch unterschieden, wie er in seiner Autobiographie
erklärt (entgegen der Darstellung von Harvey).8 Dass Scholem an Abulafia wegen dessen Affinität zu Maimonides – oder seiner eigenen
Präferenz der Theosophie – zunehmend desinteressiert gewesen sei (XII), lässt sich
widerlegen. In der deutschen Übersetzung zu Major Trends (1957) – nicht in den englischen Ausgaben – findet sich zu Abulafias More Nevukhim-Kommentar Ḥayye Nefesh die ergänzende Anmerkung, dass „mein Schüler Simeon Lowy eine Ausgabe vorbereitet
hat“, und zwar auf der Basis von MS München, cod. heb. 408. Scholems (unveröffentlichter)
Briefwechsel aus den Jahren 1954/55 mit dem zu dieser Zeit in Manila (Philippinen)
ansässigen Simeon Lowy,9 der von dort seine kommentierte Edition mit Einleitung als Magisterarbeit bei Scholem
und Pines einreichte,10 zeigt Scholems ungebrochenes Interesse an Abulafias Mystik. Dieser Kabbalist, so
Scholem, habe sich zweifellos wie von Lowy beschrieben die Weltanschauung radikaler
Maimonisten angeeignet. Abulafia habe sich aber auch als Kabbalist durchaus auf Maimonides
berufen können, da dessen Begriff von Intellekt (sekhel) auf ein intuitives Verständnis abziele, das viel mit mystischen Ansätzen der neuplatonischen
Schule gemein habe, wie sie sich schon bei Plotinus zeigten. Die Buchstabenkombinatorik,
die eben diese intuitive Verstandeskraft hervorrufe, habe bei Abulafia Methode – mag
sie ihren Ursprung (abgesehen von seinem Lehrer Togarmi) auch aschkenasisch-magischen
Quellen verdanken11 – und sei für das inhärente, aber verborgene mystische Potential so weiterentwickelt
worden, wie es der „Denkrichtung des Maimonides auf ihrem Höhepunkt“ (shiṭat ha-Rambam be-gulat ha-koteret shela) entsprach. Scholem lobt Lowys Arbeit, besonders, dass Abulafia von allen „theurgischen“
Aspekten ferngehalten würde, und trotz Lowys verfehlter, weil allzu philosophisch-rationalistischer
Gewichtung. Er rät ihm aber dringend zu mehr sprachlicher Sorgfalt und umfassender
Überarbeitung der hebräischen Einleitung. Auf Lowys Frage (Brief vom 3. 12. 1954),
ob er, Scholem, empfehle, die Edition des More Nevukhim-Kommentars bei der religiösen Verlagsanstalt Mosad ha-Rav Kuk anlässlich der zum
750. Maimonides-Jubiläumsjahr ausgelobten Preise zum Druck einzureichen, gab jener
die empathische Antwort, dass dieses Werk, wenn es denn angenommen würde, weit nützlicher
sei als die meisten Publikationen dieses Verlags. Leider kam es nie dazu. Etwa zur
gleichen Zeit stand Scholem mit Leo Strauss in brieflichem Kontakt,12 um ihn – zum zweiten Mal – für den Philosophie-Lehrstuhl an der Hebräischen Universität
Jerusalem zu gewinnen. Nun ging es um die Nachfolge Julius Guttmanns, aber Strauss
musste wieder absagen und beriet mit Scholem, dass von den potentiellen Kandidaten
wohl Shlomo Pines der geeignetste sei. Strauss kam 1954/55 immerhin als Gastprofessor
nach Jerusalem und hielt Vorlesungen zur Frage What is Political Philosophy?. Das war im Grunde die Vorgeschichte zu Scholems Vorlesungsreihe über Abulafia in
den 60er Jahren und seinem Eranos-Vortrag von 1970 zur kabbalistischen Sprachtheorie
mit besonderer Berücksichtigung Abulafias.13 Diese letzten beiden Aktivitäten stehen also im Zeichen einer kontinuierlichen Wertschätzung
der mit Abulafia verbundenen Herausforderung, wie er auch Lowy gegenüber betonte,
dessen „melancholische“ Skepsis gegenüber der Sinnhaftigkeit einer Beschäftigung mit
Buchstabenkombinatorik er zerstreute und ihm (vergeblich) nahelegte, bei ihm zu promovieren.
Zu einer Promotion über Abulafia kam es erst mit Moshe Idel, aber dann nicht bei Scholem,
sondern bei seinem Schüler Ephraim Gottlieb und nach dessen frühzeitigem Tod, wie
Harvey rückblickend im Vorwort schreibt, bei Shlomo Pines als Doktorvater.
In diesem Licht kann eine Neuorientierung die eingangs gestellte Frage ersetzen, ob
Abraham Abulafia’s Esotericism mit der von Strauss übernommenen These einen Neustart in der Abulafia-Forschung provoziert.
Moshe Idels Buch verbindet dieses aktuelle Thema mit einem anregenden Aufriss seiner
bisherigen Arbeiten, der seine materialreichen Weiterentwicklungen mit teilweise alternativen
Ergebnissen im Gang der Forschung aufzeigt und dieser wieder einmal neue Perspektiven
beim Studium der prophetisch-ekstatischen Kabbala eröffnet. Doch deren vordringlichste
Aufgabe sollte künftig gewiss in einer umfassenden wissenschaftlichen Edition der
Werke des Abraham Abulafia bestehen.