Abraham Abulafia in den Fußstapfen des Maimonides: Besprechung von Moshe Idel. Abraham Abulafia’s Esotericism: Secrets and Doubts. Herausgegeben von Racheli Haliva. Studies and Texts in Scepticism 4. Berlin: Walter de Gruyter, 2020. 429 Seiten, EUR 86.95, ISBN 9783110600858, Open Access: https://doi.org/10.1515/9783110599978

Gerold Necker  
Universität Halle
gerold.necker@judaistik.uni-halle.de

Inhalt

Anmerkungen

Seit Moshe Idel mit seiner zweibändigen Doktorarbeit Kitvei R. Avraham Abulafia u-mishnato („Die Schriften des Rabbi Abraham Abulafia und seine Lehre“, Jerusalem 1976) das Forschungsgebiet der sog. „prophetisch-ekstatischen“ Kabbala, das vorher im allgemeinen nur durch ein Kapitel in Gershom Scholems Major Trends in Jewish Mysticism1 bekannt gewesen war, in neuer Tiefe und Breite erschlossen hat, wurde es zu einem der auffälligsten Katalysatoren akademischer und nicht-akademischer Rezeption der Kabbala. Letztere verhalf der durch Abraham ben Samuel Abulafia (1240–ca. 1291) repräsentierten mystischen Strömung, die sich von der sonst innerhalb der Kabbala bevorzugten theosophischen – und nach Moshe Idel auch als „theurgisch“ zu charakterisierenden – Ausrichtung an der Struktur der zehn innergöttlichen Manifestationen (Sefirot) durch ihre „Kabbala der (Gottes-)Namen“ mit Konzentration auf radikale Formen der Hermeneutik (u. a. Gematria und Techniken der Buchstabenkombinatorik) unterschied, zu einer populären Renaissance: wie fernöstliche Yoga-Praktiken fanden die diesen nicht unähnlichen Meditationsübungen ganz im Stile postmoderner New Age Bewegungen inzwischen eine eigene Anhängerschaft. Moshe Idels neues Buch2 – in seiner thematischen Fokussierung sicher eines seiner besten – kontrastiert solche Entwicklungen mit einer Fragestellung, die je nach Beantwortungslage für manche womöglich einen methodologischen Neustart in der Abulafia-Forschung signalisiert: was, wenn Abulafia, der Maimonides’ philosophisches Hauptwerk („Führer der Unschlüssigen“) viel weitgehender als andere Kabbalisten – sofern sie sich überhaupt darauf einließen – folgte, auch dessen Strategie der Camouflage übernahm? Verhüllung ist natürlich zentraler Bestandteil des mittelalterlichen Wissensmanagements, aber die Gründe kabbalistischer Geheimhaltung sind nicht einfach übertragbar auf die Zurückhaltung bei philosophischen Zumutungen. Ähnlich ist in beiden Fällen immerhin die Erkenntnis, dass nur Gleichgesinnten und -gebildeten gefahrlos Zugang gewährt werden kann. Moshe Idel analysierte bereits in einigen Veröffentlichungen drei kabbalistische Kommentarwerke Abulafias zum „Führer der Unschlüssigen“ (in Samuel ibn Tibbons hebräischer Übersetzung Moreh Nevukhim). Doch in Abraham Abulafia’s Esotericism wird eine bisher nur angeklungene These ausformuliert, die auf Leo Strauss’ Interpretation des esoterischen Schreibens in Persecution and the Art of Writing (1941/1952), und zwar speziell in Bezug auf Maimonides, basiert. Kann dessen politisch motivierte Form der Esoterik auch zur Erklärung der kabbalistischen Geheimnisse dieses Maimonides-Kommentators herangezogen werden? Nach Idel gibt es zwar diverse esoterische Ansätze bei Abulafia, z. B. messianisch-eschatologischer Art – was allein schon der waghalsige Versuch des vierzigjährigen Abulafia nahelegt, Papst Nikolaus III. auf dessen Landsitz zu besuchen –, aber erst die persönliche Verfolgung, der er sich ausgesetzt sah, habe zu einer besonderen Akzentuierung geführt: „political esotericism is the most important kind found in Abulafia’s work“ (17). Im Mittelpunkt stehe dabei ein intellektualistisches Gottesbild, das der gesellschaftlich etablierten Mehrheitsmeinung traditionell gehaltener oder wörtlich genommener Gottesvisionen widersprochen habe.

Das Buch ist in vier Hauptteile gegliedert, umklammert von einer Einleitung in die Problemstellung, in die neben Strauss noch Mircea Eliade und Gershom Scholem einbezogen werden, sowie von fünf Appendizes mit teils übersetzten Quellen (und einer hebräischen [diplomatischen] Edition zu MS Florenz, Medicea-Laurentiana Plut. II.20/1, fol. 17a-18b [Perlenparabel]), teils Detailanalysen zu Themen und Texten. Das Vorwort von Warren Zev Harvey („A Maimonidean Kabbalist“) würdigt den Autor – fast wie eine vorgezogene Laudatio zu dessen 75. Geburtstag (2022) – und signalisiert bereits, dass Idels Bezüge und Diskussionen philosophischer Kontexte im engen Austausch mit diesem Maimonides-Kenner entstanden sind. Der erste Hauptteil („Abraham Abulafia’s Studies and Teaching“) kann als Einstieg – nicht als allgemeine Einführung – in Abulafias Leben und Werk gelten. Wichtig ist Idel die Wendemarke in den 1270er Jahren, als Abulafia in Barcelona begann das „Buch der Schöpfung“ (Sefer Yeẓirah) mit seinen Kommentaren zu studieren. Hier erwarb und vertiefte er seine kabbalistischen Vorstellungen, doch ohne – wie manch andere, die zur Kabbala fanden – seine bisherige philosophische Haltung aufzugeben. Deren Fundament war und blieb Maimonides’ Hauptwerk, welches er weiterhin als Lehrer unterrichte, wie ein Unterkapitel anhand Abulafias autobiographischer Berichte in Italien und Spanien erläutert. Unter den Schülern gab es viele enttäuschende, aber auch hervorragende wie Josef Gikatilla, den Abulafia als besten lobt, und Nathan ben Sa’adya Ḥarar, den Idel als Verfasser der mystischen Erfahrungen in Sha’are Ẓedeq („Pforten der Gerechtigkeit“) identifiziert; auf ihn wird in Appendix B gesondert eingegangen, da er in Abulafias Widmung der sog. Perlenparabel als „Nathan der Weise“ (Nathan ha-navon) bezeichnet wird, was zumindest die Assoziation mit Gotthold Ephraim Lessings gleichnamigem Drama nahelegt.

Im Gegensatz zu Elliot R. Wolfsons Darstellung, so Idel, verstehe er Abulafias kabbalistische Ausrichtung nicht als Abkehr von seinen philosophischen Auffassungen, sondern messe diesen dauerhaft eine entscheidende Bedeutung zu. Das verdeutlicht Idel auch anhand von Abulafias Beschäftigung mit anderen philosophischen Quellen als den maimonidischen. Bekannt ist der Verweis auf eine hebräische Übersetzung des Liber de Causis in seiner letzten Schrift, Imre Shefer („Worte der Schönheit“), dazu kommt der Einfluss von Al-Fārābī, Avicenna und Averroes, den Idel nicht nur in Abulafias Kommentaren zu den sog. „sechsunddreißig Geheimnissen“ (nach dem Zahlwert von לו in Lev 25, 31.48) des Moreh Nevukhim feststellt, sondern auch in dessen Exodus-Kommentar „Schlüssel der Namen“ (Mafteaḥ ha-Shemot), der sonst eher durch die Erklärung der Atemtechnik bei der Aussprache des „Unaussprechlichen Namens“ (i.e. das Tetragrammaton) bekannt ist. Speziell Averroes’ Auffassung von der potentiellen Vereinigung des menschlichen Intellekts mit dem intellectus agens – und zwar nicht erst post mortem – scheint bei Abulafias ekstatischem Ziel einer unio mystica Pate gestanden zu haben, auch wenn Idel einräumt, anders als in seinem Aufsatz „Abraham Abulafia and Unio Mystica“,3 dass Abulafia dazu nicht aus einer arabischen Quelle oder hebräischen Übersetzung schöpfte. Die indirekte Vermittlung, vor allem durch Hillel von Verona, der auch Einblick in ein ähnliches Konzept bei Thomas von Aquin hatte, ist in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, als sich averroistisches Denken zunehmend verbreitete, wie Idel erläutert, durchaus naheliegend. Ein entscheidendes Kriterium, das für die Kontinuität philosophischen Denkens bei Abulafia spricht, wenngleich in amalgamierender Weise, ist dessen Umgang mit Abraham ibn Ezras Schriften, dem Idel in einem Unterkapitel nachgeht. Zentrale Bedeutung hatte offenbar Ibn Ezras Sefer ha-Shem, das Spekulationen zu den Buchstaben des Tetragrammatons und ihre Rolle als matres lectiones in Kombination mit dem Buchstaben Alef präsentiert. Ibn Ezras Bedeutung wird mit Sicherheit immer noch eher unter- als überschätzt. Das gilt ohne Zweifel auch für dessen Einfluss auf Abulafia, ist aber im Einzelnen nicht leicht nachweisbar, wie sich bei Idels Versuch zeigt, Abulafias Aussagen (in seinem Sendschreiben Sheva Netivot ha-Tora [„Sieben Pfade der Tora“]) zu Ibn Ezras angeblicher (bzw. von Abulafia angenommenen) Verhüllung einer positiven Wertung der Gematria-Methode als implizite Bestätigung der eigenen Adaption politischer Esoterik nach maimonidischem Vorbild aufzufassen.

Der zweite Hauptteil, „Persecution and Secrets“, geht über Idels frühere Verweise auf Maimonides’ esoterisches Schreiben, wie es Leo Strauss rekonstruierte, hinaus. Der biographische Einblick, den Idel mit Hilfe einschlägiger Zitate aus Abulafias Werken vermittelt, erhellt die Konfrontation mit innerjüdischen Gegnern. Dazu gehört die subversive Qualität nicht weniger seiner Äußerungen, gerade auch solcher, die nicht typisch für Kabbalisten sind, etwa seine Kritik einer „genetic vision of the nation“ oder seine – zumindest von Idel so interpretierte – relativierende Interpretation der Gebote, die leicht den Verdacht der Häresie wecken konnte (110–112). Das stärkste Argument für Abulafias Strategie maimonidischer Camouflage findet sich in Idels anonymem Zitat aus MS Jerusalem NUL 8° 1303, fol. 50b–51a, das er Abulafia zuschreibt. Hier wird klar und deutlich ein gezielt eingesetzter „konfuser“ (mebulbal) Schreibstil zur Verhüllung der wahren Botschaft benannt, die nur der „Scharfsinnige“ erkennen kann und die deshalb dem oberflächlich lesenden „Ignoranten“ verborgen bleibt. Auf diesem Hintergrund kontrastiert Idel sein Verständnis von Abulafias universalistischer Erklärung der Sinai-Offenbarung mit Wolfsons Lesart, wonach sich Abulafia die rabbinische Auslegung der Paradiesgeschichte zu eigen gemacht habe, die auf eine „ontische Differenz“ zwischen Juden und Nicht-Juden hinauslaufe, da sie das Sinai-Geschehen als exklusive Befreiung des auserwählten Volkes von Evas (sexuell konnotierter) Kontamination durch die Schlange deute. Idel führt einige Belege an, wie Abulafia seine diesbezügliche (maimonidische) Position durchblicken lässt, beispielsweise das Wortspiel in seiner Polemik gegen magischen Praktiken rabbinischer Gelehrter (in Otsar Eden Ganuz, einem Kommentar zu Sefer Yeẓirah): die Wendung „Berg Sinai“ (har sinai) wird mit dem Wort „Zügel“ (resen) assoziiert und die Kernaussage des biblischen Narrativs im Sinne einer jedem Menschen (’adam) möglichen Selbstbeherrschung gedeutet, die der zügellosen Einbildungskraft der Begierden Einhalt gebietet. Insgesamt präsentiert Idel Abulafia nachdrücklich als einen nur dem intellektuellen Anspruch verpflichteten Denker, der keine nationalen oder religiös-partikularistischen Tendenzen zeigt. Nebenbei bemerkt er jedoch, dass die Entdeckung einer solchen (anderen) Seite an Abulafia trotzdem „nicht überraschend“ wäre, schließlich bestünde das intellektuelle Profil eines Menschen nicht aus „frozen entities“ (141). Nach seinem mit Verve geführten Plädoyer für eine Korrektur irreführender Abulafia-Interpretationen – neben Wolfson nennt er vor allem Robert Sagerman – stimmt eine solche Aussage zumindest nachdenklich und liest sich fast selbst wie eine versteckte Anmerkung politischer Esoterik, zumal Idel im nächsten Satz sofort klarstellt „I doubt whether it is possible to find material dealing with this precise topic … that could challenge this evaluation of Abulafia’s universalist position“ (142). Die gleiche philosophische Grundhaltung, einschließlich des esoterischen Zugangs, bestätigt sich nach Idel auch bei Abulafias Umgang mit der Tora, teilweise inspiriert von Baruch Torgami, Abulafias Lehrer und Vorbild in Sachen exegetischer Methodik.

In den letzten beiden Hauptteilen folgt zuerst eine Detailanalyse zu Abulafias berühmtestem Text, seine Adaption der Perlenparabel in dem Handbuch Or ha-Sekhel (“Licht des Intellekts“), danach eine Zusammenfassung von Beobachtungen zur Sonderstellung dieses „maimonidischen Kabbalisten“ in der Geschichte der mittelalterlichen Kabbala. Der Perlenparabel, die gern als „hebräische Version“ der Ringparabel, die in Boccaccios Decamerone aufgenommen wurde, mit dieser verglichen wird, wandte sich Idel bereits in früheren Veröffentlichungen zu, vor allem in „The Pearl, the Son, and the Servants in Abraham Abulafia’s Parabel“ (2013).4 Leider wird dieser wichtige Beitrag nirgendwo erwähnt und fehlt auch im sonst sehr ausführlichen Literaturverzeichnis, das rund 130 Titel von Moshe Idel aufweist. Wie zum ersten Mal in diesem Artikel wird auch in der vorliegenden, von dort übernommenen Übersetzung der rahmende Kontext – wie überhaupt das ganze Handbuch zur Gottesnamen-Meditation – einbezogen, den Idel für unverzichtbar hält, der in der Forschung aber immer noch nicht genügend beachtet würde. Seine Analyse macht deutlich, dass in dieser mehrschichtigen Parabel mit historischen und eschatologischen Bezügen die Ebene der „psychological allegory“ die ausschlaggebende ist. Diese kulminiert, christlich-anagogischer Interpretationsweise nicht unähnlich (167), in der individuellen Erlösung, die als aktiv herbeiführbare Wirklichkeitserfahrung möglich ist. Damit verbunden sind die Kritik real existierender Religionen und die prophetische Botschaft einer neuen „universalen Religion“ (ha-dat ha-kelalit), die die Perle symbolisiert. Natürlich ist hier wieder das Hauptkriterium des notwendigen Einsatzes politischer Esoterik erfüllt, die nach Idels Beschreibung nichts anderes bedeutet als die Verklausulierung nicht gesellschaftskonformer Überzeugungen (man kann bedauern, dass in Zeiten der Corona-Epidemie „politische Esoterik“ nur fragwürdige politische Demonstrationen der sog. esoterischen Szene meint). Abulafia sah keinen Anlass, ein jüdisches Proprium für die Offenbarung der Tora zu reklamieren, das in einem tieferen Verständnis der Halacha zu finden wäre. Darüber hinaus betont Idel, dass Abulafia keinesfalls eine „more democratic Rabbinic form of Judaism“ (265) intendiert, wenn das hohepriesterliche Ritual der Aussprache des Gottesnamens am Versöhnungstag durch die allegorische Übertragung auf die Erlernbarkeit der mit dem Gottesnamen verbundenen Kombinationstechniken in gewisser Weise „demokratisiert“ wird (262). Vielleicht hatte Idel bei dieser Formulierung die populär gewordene Vereinnahmung der Kabbala (gemeinhin durch dankbare Aufnahme weiblicher Aspekte der Gottesvorstellung) im modernen konservativen und Reform-Judentum kritisch im Blick. Abulafia verkündete nicht nur eine exklusiv auf die Sprachauffassung bezogene „neue Tora“ (torah ḥadashah), sondern auch ein nicht-historisches und nicht-genetisches „Israel“, dessen Zahlenwert (yisra’el=541) er nicht zufällig in der hebräischen Bezeichnung des intellectus agens (sekhel ha-po’el=541) wiederfand (181).

Was unterscheidet diesen Kabbalisten von allen anderen Kabbalisten? Nach Idel ganz wesentlich seine messianischen Ambitionen. Die messianische Idee ist die Tonart, die mit unterschiedlichen Modulationen in seinen fast fünfzig Schriften immer wieder hörbar wird. Anders jedoch als bei Kombinationen von Kabbala und Messianismus, wie sie ab dem 15. Jahrhundert virulent werden sollten, werden Inhalt und Adressaten von vornherein universalistisch gedacht und bestimmen so auch den esoterischen Modus seiner Schreibweise. Abulafias Kabbala bedient sich exegetisch der Allegorie, methodisch der Buchstabenkombinatorik und intentional der ekstatischen Erfahrung, und gemeinsam lösen die drei Aspekte das messianische Versprechen individueller Erlösung ein. Das sind nicht die theosophischen Geheimnisse der Tora oder solche, die ihren glorreichen Interpreten wie Rabbi Akiva oder Rabbi Shimon bar Jochai, auf die sich kabbalistische Tradition sonst gern beruft, zugeschrieben werden. Es sind vielmehr die Geheimnisse des Abraham Abulafia, seinem eigenen Selbstverständnis nach ein Prophet und messianischer Lehrer.

Moshe Idels Antwort auf die Ausgangsfrage hinsichtlich der Implikationen esoterischen Schreibens bei Abulafia fällt in dieser Monographie nicht überraschend neu aus, aber systematischer und umfassender als in seinen bisherigen Einzelanalysen und in seiner immer noch grundlegenden Dissertation. Weitergehende Überlegungen oder zu Einzelaspekten neu herangezogenes Handschriftenmaterial werden ebenfalls eingearbeitet. Grundsätzlich geht es Idel darum, das Profil Abulafias als dasjenige eines originellen, facettenreichen Kabbalisten nachzuzeichnen, das auch in dessen persönlicher Entwicklung abwechslungsreich nuanciert ist, etwa bei der Einstellung zu den Geboten, die sich in der mit ihrem Titel nicht im Widerspruch befindenden Schrift Shomer Miẓwah („Bewahrer des Gebots“) auffällig von der radikalen Position seines Sefer Ḥayye ha-Nefesh („Buch des Lebens der Seele“), ein Kommentar zu Moreh Nevukhim, unterscheidet. Ein Beispiel zu letzterem ist das Anlegen der Gebetsriemen (Tefillin), dessen Internalisierung Abulafia über den gleichen Zahlenwert (=575) von Tefillin und yeẓer ha-ra‘ („der böse Trieb“) anzeigt. Damit will er nicht ein religiöses Gebot verteufeln, sondern (esoterisch) verdeutlichen, worum es eigentlich geht: die „Loslösung“ der Seele von körperlicher Gefangenheit, um sie an die intelligible Welt zu binden. Die Tefillin selbst haben dabei nur ornamentale Funktion. Das veranschaulicht laut Idel die berühmte Illustration in MS Vatikan 597, fol. 113a,5 in der nur die Kopf-Tefillin zu sehen sind, um die es in diesem Kontext geht, aber eben keine Tefillin am linken Arm, weil das Ritual als solches keine Rolle spielt, mithin für Idel ein treffendes Beispiel von „spiritual allegorisation“ (286). Die gleiche Stelle gibt auch einen Hinweis auf die Vielschichtigkeit von Abulafias Esoterik, da sie eine für Abulafia ebenfalls typische Reminiszenz an die pythagoreische Tetraktys enthält, die seine Zahlenspekulationen inspirierte und die Idel verspricht in einer gesonderten Studie anhand von MS New York, JTS 1813, zu kontextualisieren (285, Anm. 134; vgl. auch 335 f.).

Die abschließenden „Methodological Remarks“ gelten einerseits den Unterschieden zwischen Abulafias hybridem Sonderweg und rein philosophischen sowie theosophisch-kabbalistischen Ansätzen, andererseits den Differenzen zwischen Idel und anderen Interpreten, die in Abulafias Kabbala klar partikularistische Sichtweisen oder eine erkennbare Nähe zur theosophischen Richtung hervorheben oder den Anteil der maimonidischen Philosophie überbetonen. Ganz grundsätzlich empfiehlt Idel vor allem der jüngeren Forschergeneration, vorsichtig alle Behauptungen, Vermutungen oder „impressionistic treatments“ (300) zu prüfen, statt diese einfach zu übernehmen, wodurch erst der eigentliche Schaden in der Wissenschaft entstünde. Bei einem weiteren caveat bezieht er Stellung gegen eine Überschätzung des Einflusses, den Abulafia auf so unterschiedliche Autoren wie Ramon Lull, Dante, Meister Eckhart, Johanan Alemanno usw. bis Spinoza, Leibniz oder Israel ben Eliezer (Besht) und den Wilnaer Gaon gehabt haben soll, gibt dazu auch eigene Studien an und empfiehlt letztlich eine Rückkehr zu den Quellen. Trotz der Vielzahl erst in jüngerer Zeit erschienener Ausgaben6 – da aufgrund Rabbi Salomo ibn Adrets Bann (Abulafias Reaktion darauf wird in Appendix C behandelt) Drucklegungen offiziell nicht geduldet waren – gibt es mit einer Ausnahme, die im Literaturverzeichnis leider nur in die Fülle der Sekundärliteratur eingeordnet wird, kaum kritische Editionen zu Abulafias Texten.7

Moshe Idels Monographie ist eine willkommene Zusammenfassung von Ergebnissen und Kerngedanken seiner jahrzehntelangen Abulafia-Forschung und gleichzeitig eine spannende Übertragung der Strauss’schen Analyse esoterisch-exoterischen Schreibens in der Philosophie auf das Verhältnis von Kabbala und Politik. Wie Harvey im Vorwort deutlich macht, trat Idel in gewisser Weise in die Fußstapfen seines Doktorvaters Shlomo Pines, dessen „anarchischen Argwohn“ gegenüber Theoriebildung er von Anfang an geteilt habe (XII). Ratlos macht allerdings Harveys Bemühen, einen zwar „zu vereinfachenden“, wie er selbst zugibt, gleichwohl aber seiner Meinung nach zutreffenden Gegensatz zu konstruieren, der ebenso einprägsam wie missglückt ist: „Scholem’s approach was dogmatic, Pines’s was sceptical“ (ebd.). Auch und gerade in Bezug auf Abulafia dürfte Harvey mit dieser Einschätzung falsch liegen. Das beginnt schon mit Scholems frühem Interesse an Abulafia und dessen angeblichem Verschwinden nach Veröffentlichung der Major Trends in Jewish Mysticism. Als Scholem während der Arbeit an seiner Dissertation in der Münchner Bibliothek kabbalistische Manuskripte studierte, begann er Abulafias Techniken auszuprobieren und stellte „Veränderungen im Bewusstsein“ fest, was ihn erkennen ließ, wie sehr sich die Ziele kabbalistischer Methoden doch unterschieden, wie er in seiner Autobiographie erklärt (entgegen der Darstellung von Harvey).8 Dass Scholem an Abulafia wegen dessen Affinität zu Maimonides – oder seiner eigenen Präferenz der Theosophie – zunehmend desinteressiert gewesen sei (XII), lässt sich widerlegen. In der deutschen Übersetzung zu Major Trends (1957) – nicht in den englischen Ausgaben – findet sich zu Abulafias More Nevukhim-Kommentar Ḥayye Nefesh die ergänzende Anmerkung, dass „mein Schüler Simeon Lowy eine Ausgabe vorbereitet hat“, und zwar auf der Basis von MS München, cod. heb. 408. Scholems (unveröffentlichter) Briefwechsel aus den Jahren 1954/55 mit dem zu dieser Zeit in Manila (Philippinen) ansässigen Simeon Lowy,9 der von dort seine kommentierte Edition mit Einleitung als Magisterarbeit bei Scholem und Pines einreichte,10 zeigt Scholems ungebrochenes Interesse an Abulafias Mystik. Dieser Kabbalist, so Scholem, habe sich zweifellos wie von Lowy beschrieben die Weltanschauung radikaler Maimonisten angeeignet. Abulafia habe sich aber auch als Kabbalist durchaus auf Maimonides berufen können, da dessen Begriff von Intellekt (sekhel) auf ein intuitives Verständnis abziele, das viel mit mystischen Ansätzen der neuplatonischen Schule gemein habe, wie sie sich schon bei Plotinus zeigten. Die Buchstabenkombinatorik, die eben diese intuitive Verstandeskraft hervorrufe, habe bei Abulafia Methode – mag sie ihren Ursprung (abgesehen von seinem Lehrer Togarmi) auch aschkenasisch-magischen Quellen verdanken11 – und sei für das inhärente, aber verborgene mystische Potential so weiterentwickelt worden, wie es der „Denkrichtung des Maimonides auf ihrem Höhepunkt“ (shiṭat ha-Rambam be-gulat ha-koteret shela) entsprach. Scholem lobt Lowys Arbeit, besonders, dass Abulafia von allen „theurgischen“ Aspekten ferngehalten würde, und trotz Lowys verfehlter, weil allzu philosophisch-rationalistischer Gewichtung. Er rät ihm aber dringend zu mehr sprachlicher Sorgfalt und umfassender Überarbeitung der hebräischen Einleitung. Auf Lowys Frage (Brief vom 3. 12. 1954), ob er, Scholem, empfehle, die Edition des More Nevukhim-Kommentars bei der religiösen Verlagsanstalt Mosad ha-Rav Kuk anlässlich der zum 750. Maimonides-Jubiläumsjahr ausgelobten Preise zum Druck einzureichen, gab jener die empathische Antwort, dass dieses Werk, wenn es denn angenommen würde, weit nützlicher sei als die meisten Publikationen dieses Verlags. Leider kam es nie dazu. Etwa zur gleichen Zeit stand Scholem mit Leo Strauss in brieflichem Kontakt,12 um ihn – zum zweiten Mal – für den Philosophie-Lehrstuhl an der Hebräischen Universität Jerusalem zu gewinnen. Nun ging es um die Nachfolge Julius Guttmanns, aber Strauss musste wieder absagen und beriet mit Scholem, dass von den potentiellen Kandidaten wohl Shlomo Pines der geeignetste sei. Strauss kam 1954/55 immerhin als Gastprofessor nach Jerusalem und hielt Vorlesungen zur Frage What is Political Philosophy?. Das war im Grunde die Vorgeschichte zu Scholems Vorlesungsreihe über Abulafia in den 60er Jahren und seinem Eranos-Vortrag von 1970 zur kabbalistischen Sprachtheorie mit besonderer Berücksichtigung Abulafias.13 Diese letzten beiden Aktivitäten stehen also im Zeichen einer kontinuierlichen Wertschätzung der mit Abulafia verbundenen Herausforderung, wie er auch Lowy gegenüber betonte, dessen „melancholische“ Skepsis gegenüber der Sinnhaftigkeit einer Beschäftigung mit Buchstabenkombinatorik er zerstreute und ihm (vergeblich) nahelegte, bei ihm zu promovieren. Zu einer Promotion über Abulafia kam es erst mit Moshe Idel, aber dann nicht bei Scholem, sondern bei seinem Schüler Ephraim Gottlieb und nach dessen frühzeitigem Tod, wie Harvey rückblickend im Vorwort schreibt, bei Shlomo Pines als Doktorvater.

In diesem Licht kann eine Neuorientierung die eingangs gestellte Frage ersetzen, ob Abraham Abulafia’s Esotericism mit der von Strauss übernommenen These einen Neustart in der Abulafia-Forschung provoziert. Moshe Idels Buch verbindet dieses aktuelle Thema mit einem anregenden Aufriss seiner bisherigen Arbeiten, der seine materialreichen Weiterentwicklungen mit teilweise alternativen Ergebnissen im Gang der Forschung aufzeigt und dieser wieder einmal neue Perspektiven beim Studium der prophetisch-ekstatischen Kabbala eröffnet. Doch deren vordringlichste Aufgabe sollte künftig gewiss in einer umfassenden wissenschaftlichen Edition der Werke des Abraham Abulafia bestehen.

Anmerkungen

  1. Jerusalem 1941, New York rev. 3. Aufl. 1954, frz. Übersetzung Paris 1950, dt. Übersetzung Zürich 1957 („Kapitel 4: Abraham Abulafia und die Prophetische Kabbala“, in: Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a. M. 1980).

  2. Idel stellte sein Manuskript bei einer vom Maimonides Center for Advanced Studies–Jewish Scepticism (MCAS) am 12.–15. März 2018 an der Universität Hamburg unter Leitung von Prof. Giuseppe Veltri und Prof. Racheli Haliva organisierten Tagung vor.

  3. Moshe Idel, „Abraham Abulafia and Unio Mystica“, in: Moshe Idel, Studies in Ecstatic Kabbalah, Albany, NY 1988, S. 1–32.

  4. Moshe Idel, „The Pearl, the Son, and the Servants in Abraham Abulafia’s Parabel“, in: Quaderni di Studi Indo-Mediterranei 6 (2013), S. 103–135.

  5. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/34/Abraham_abulafia.jpg

  6. Das Literaturverzeichnis listet rund zwanzig von Amnon Gross seit 1999 herausgegebene Bände.

  7. Siehe S. 13, Anm. 2: Arje Krawcyk (Hg.), Księga Znaku: Rabbi Abraham Abulafia, ספר האות, רבי אברהם אבולפיה, Warschau 2018. Im Literaturverzeichnis erscheint zu diesem Werk unter „Primary Sources“ nur die Ausgabe von Adolph Jellinek, “Sefer ha-Ôt. Apokalypse des Pseudo-Propheten und Pseudo-Messias Abraham Abulafia vollendet im Jahre 1285“, in: Jubelschrift zum Siebzigsten Geburtstage des Prof. Dr. H. Graetz, Breslau 1887, S. 65–88.

  8. Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem. Erweiterte Fassung, aus dem Hebräischen von Michael Brocke und Andrea Schatz, Frankfurt a. M. 1994, S. 169. Harvey (XI) stützt sich auf die kürzere englische Fassung und offenbar auf Moshe Idel, Old Worlds, New Mirrors: On Jewish Mysticism and Twentieth-Century Thought, Philadelphia 2010, S. 169. – Idel beruft sich hier auf die hebräische Fassung der Autobiographie und gibt an, Scholem habe in einem Gespräch mit Walter Benjamin im November 1920 den Wechsel seines Dissertationsthemas mit der Schwierigkeit, Abulafias Texte zu entziffern, begründet. Von diesem Gespräch berichtet Scholem aber nicht in seiner Autobiographie, sondern in Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft (Frankfurt a. M. 1975), 118. Dort heißt es jedoch schlicht, dass er nach der „Lektüre sprachmystischer kabbalistischer Werke, besonders denen des Abraham Abulafia“, sich ein „weniger anspruchsvolles Thema als die Sprachtheorie der Kabbala“ suchen wollte, was sich aber mit der Wahl des Sefer Bahir als Irrtum herausgestellt habe, weil er erst vierzig Jahre nach der Dissertation eine „Einleitung“ dazu vorlegen konnte (nämlich Ursprung und Anfänge der Kabbala, Berlin 1962). Ähnlich bewertete er dann seinen Vortrag „Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala“, der das ursprüngliche Thema erst „50 Jahre später“ (Briefe III, hg. v. Itta Shedletzky, München 1999, 14 [Brief 12]) zur Veröffentlichung gebracht habe. Natürlich lässt sich in beiden Fällen eine Spur Koketterie erkennen.

  9. Die Briefe und Notizen finden sich im Scholem-Archiv, ARC. 4* 1599 01 1647 (auf den Briefen: Nr. 4686).

  10. Idel verweist S. 13, Anm. 38 (sowie S. 89, Anm. 208) auf diese hebräische Magisterarbeit, allerdings mit dem Verfassernamen „Shimeon Levy“, so auch im Literaturverzeichnis (offenbar in Verwechslung mit dem bekannten Tel Aviver Theaterwissenschaftler). Lowy wurde 1960 Dozent für Semitistik in Leeds und promovierte dort zu Samaritanischer Bibelexegese.

  11. In seinen Notizen notiert Scholem (ebd.), dass mit der Polemik am Ende der Einleitung von Jakob Anatolis Sefer Malmad ha-Talmidim (das auch Abulafia kannte) gegen diejenigen, die „Namen erfinden“ und diesen „Namensunfug“ (havle shemot) als ma’aseh merkavah bezeichneten, auch Praktiken der Ḥaside Ashkenaz gemeint sein könnten. Scholem weist darauf hin, dass sich Maimonides (in More Nevukhim 1:61) ebenfalls gegen Amulettschreiber und deren Zauberbücher voller Namen wendet, doch ohne auf die Bezeichnung ma’ase merkavah einzugehen (er selbst interpretierte das sog. „Thronwagenwerk“ im Übrigen als Metaphysik). Bei den Ḥaside Ashkenaz sei dieser Zusammenhang aber gängig. Scholem hat hier natürlich auch die Bedeutung von ma’ase merkavah bei Abulafia im Blick, der sie von „Zusammenfügen“ (harkavah) der Buchstaben ableitet.

  12. Leo Strauss, Gesammelte Schriften, Band 3: Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften – Briefe, hrsg. von Heinrich und Wiebke Meier, Stuttgart/Weimar 2001/08, S. 699–772.

  13. Harvey spricht von „zwei Ausnahmen“ (XII) bezüglich Scholems Veröffentlichungen Die Kabbala des Sefer ha-Temunah und des Abraham Abulafia (hebr.), Jerusalem 1965 (zur Vorlesungsreihe) und „Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala“, in: Eranos-Jahrbuch 39 (1970), S. 243–299.