Michael Rothberg. Multidirektionale Erinnerung: Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung. Aus dem Englischen von Max Henninger. Berlin: METROPOL, 2021. 404 Seiten, EUR 26, ISBN 978-3-86331-558-0

Hans-Joachim Hahn  
Universität Basel
hansjoachim.hahn@unibas.ch

Inhalt

Anmerkungen

Im Frühjahr 2021 erschien Michael Rothbergs zweites Buch, mehr als zehn Jahre nach seiner englischen Erstveröffentlichung bei Stanford University Press, in deutscher Übersetzung im Berliner Metropol Verlag. Entstanden war es während der Nullerjahre vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Auseinandersetzungen um historische Traumata, während es vor allem französische erinnerungskulturelle Texte – Bilder und Filme eingeschlossen – zum Holocaust während der Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg zum Gegenstand hat. Weil die Studie des Kulturwissenschaftlers, Holocaustforschers und Komparatisten so erkennbar einem anderen Debattenkontext angehört und nicht unmittelbar die deutsche Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen betrifft, wurde sie für die deutsche Übersetzung von zwei gewissermaßen kulturell „übersetzenden“ Paratexten gerahmt. Vorangestellt ist ein ausführliches Interview mit Rothberg, das die beiden Herausgeber:innen Felix Axster und Jana König vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung mit dem Autor im September und Oktober 2020 über Email führten, sowie ein Nachwort der beiden zur Multidirektionalität in Deutschland. Im Lichte einer außergewöhnlich kontroversen Diskussion um die Studie während der vergangenen Monate muss der hier offenbar unternommene Versuch einer Einhegung der darin vertretenen Thesen und einer Adaptation des Konzepts multidirektionaler Erinnerung für Fragen deutscher Erinnerungspolitik als gescheitert angesehen werden. Warum aber lösen die in der Monographie vorgelegten dichten literatur- und kulturwissenschaftlichen Analysen zu einer Reihe kultureller Texte, in denen der Autor die darin anzutreffenden Verknüpfungen von Bezugnahmen auf den Holocaust mit solchen zu Kolonialismus, Massakern an People of Colour und antikolonialistischen Befreiungsbewegungen aufzeigt, so vehemente Ablehnung aus? Was erscheint an einer Theorie „multidirektionaler Erinnerung“, die die erklärte Absicht verfolgt, durch eine veränderte Perspektive auf kollektive Erinnerungen an traumatische Geschichtsereignisse zu einem „neuen Rahmen für Gerechtigkeit in einer globalisierten Welt“ beitragen zu wollen (46), eigentlich so anstößig? Mit einem Wort von Hannah Arendt (nicht nur in dieser Studie eine Bundesgenossin des Autors) ließe sich annehmen, die Debatte gelte einem Buch, das nie geschrieben wurde. Mit dieser Annahme gab Arendt sich allerdings ebenso wenig zufrieden, wie dies mit Blick auf Rothbergs Studie weiterhilft. Stattdessen nahm die Philosophin die Aussagen in der Debatte zum Anlass, das darin Verhandelte im Sinne einer symptomatischen Lektüre zu analysieren. So vermutete sie, wenn viele Leute, ohne manipuliert zu werden, anfingen, Unfug von sich zu geben, gehe es gewöhnlich um mehr als bloß Unfug.

Worüber aber wird ein gutes Jahrzehnt nach ihrem ersten Erscheinen in den Besprechungen von Rothbergs in einen anderen Kontext transferierten Studie – und inzwischen auch darüber hinaus, wenn man an den Schlagabtausch zwischen dem Genozidforscher A. Dirk Moses und verschiedene Veröffentlichungen im deutschen Feuilleton denkt – tatsächlich gestritten? Um es vorwegzunehmen: Kern der Auseinandersetzung sind unversöhnlich erscheinende Sichtweisen auf die Paramater der heutigen deutschen Erinnerungskultur und Geschichtspolitik sowie deren offensichtliche Defizite. Den einen erscheint der Bezug auf die „Singularität des Holocaust“ in Gefahr, einer Bedrohung durch „Gleichmacher“ (Jürgen Kaube) zu erliegen, während andere gerade in solchen formelhaften Bekenntnissen die Abweisung gegenwärtiger Forderungen nach Anerkennung spezifischer Diskriminierungs- und Verfolgungserfahrungen vermuten. Rothberg bezeichnet die Frage, wie „das Verhältnis unterschiedlicher Viktimisierungsgeschichten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen zu denken“ sei, „als eines der quälendsten Probleme heutiger multikultureller Gesellschaft“ (25). Mit seinem Modell multidirektionaler Erinnerung antwortet er auf eine Debatte, die einen theoretischen Ausgangspunkt bereits in Arendts 1950 veröffentlichtem Aufsatz „Social Science Techniques and the Study of Concentration Camps“ besitzt, die aber konflikthaft erst in den 1990er Jahren zutage tritt und, darin ist Rothberg zweifellos zuzustimmen, von Arendt nicht betrieben wurde.

Denn die gegenwärtige Ideologisierung der Singularitätsdebatte, in deren Folge Rothbergs Studie in einer Reihe von Besprechungen verzerrt wahrgenommen wurde, folgt Argumenten, die bereits vor 25 Jahren ausgetauscht wurden. Insbesondere nach dem Versagen der Weltgemeinschaft mit Blick auf den Genozid in Ruanda 1994 erschienen eine Reihe von Aufsätzen und Studien, die die erst in dieser Zeit auch dank populärer Darstellungen wie der Holocaust-TV-Serie (1978/79) und Filmen wie Schindlers Liste (1993) im Westen allmählich konsensuelle Vorstellung von der Einzigartigkeit des Holocaust unter dem Gesichtspunkt der Prävention gegenwärtiger und künftiger Massengewaltverbrechen kritisch befragten. Die Clinton-Administration hatte bekanntlich alle Hinweise auf den sich anbahnenden Genozid in dem afrikanischen Land ignoriert. 1996 erschien in den USA der von Alan S. Rosenbaum herausgegebene Sammelband Is the Holocaust Unique? Perspectives on Comparative Genocide, in dem vielleicht erstmals innerhalb der vergleichenden Genozidforschung über Singularität gestritten wurde. Ein Jahr danach veröffentlichte Jean-Michel Chaumont in Frankreich La concurrence des victimes, das das Schlagwort von der „Opferkonkurrenz“ im Titel führt. Chaumonts Ausgangspunkt ist allerdings ein anderer: Seine Studie antwortete auf die damals aufbrechenden Konflikte innerhalb der Gedenkorganisationen, die unterschiedliche Opfergruppen der Verfolgten des „Dritten Reichs“ vertreten: zwischen Juden und Jüdinnen, Sinti und Roma, Homosexuellen oder Widerstandskämpfer:innen.

Diese unterschiedlichen internationalen Debatten fanden auch im wiedervereinigten Deutschland einen Nachhall. In einem Aufsatz für den Merkur 1997 sah Manfred Hennigsen die Vorstellung einer Einzigartigkeit des deutschen Genozids an den Juden Europas durch Daniel Goldhagens These eines seit Jahrhunderten kulturell entwickelten „eliminatorischen Antisemitismus“ der Deutschen endgültig ad absurdum geführt; eine Privilegierung deutscher Inhumanität hielt er für dem Umstand geschuldet, dass diese dem ‚Volk der Dichter und Denker‘ weniger zugetraut worden war als anderen Tätergruppen. Auf Grund dieses Missverständnisses habe fatalerweise der Holocaust den Blick auf die Normalität des „Demozids“, wie Hennigsen Rudolph Rummel folgend „Tötungsprojekte“ bezeichnet, die sich auf Ensembles unterschiedlicher Opfergruppen beziehen, im 20. Jahrhundert verstellt.1 Siegfried Kohlhammer vertrat 2001 in einem ebenfalls im Merkur veröffentlichten Aufsatz und an Hennigsen anknüpfend die These, die „Erhöhung“ des Holocaust fördere eine „Erniedrigung“ der anderen Massentötungen und Genozide. Weder Hennigsen noch Kohlhammer bestreiten dabei jedoch die jeweiligen historischen Spezifika. Kohlhammer bezieht sich u. a. auf Peter Novicks 2001 gerade auf Deutsch erschienene Studie Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord, wenn er die „einzigartige Unvergleichbarkeit“ des Holocaust als eine retrospektive Wahrnehmung charakterisiert und, genau wie Rothberg ein knappes Jahrzehnt später, die Dynamik von Erinnerungsprozessen zum Thema macht.2 Auf Kohlhammer antwortet in derselben Ausgabe der Zeitschrift deren damaliger Herausgeber Karl Heinz Bohrer apodiktisch, dass das anhaltend „zutiefst Beunruhigende des Nazihorrors“ – und damit seine Unvergleichbarkeit, die Unterscheidung von anderen Massenmorden – darin läge, dass er „sich sowohl in seiner Begründung als auch in seinem Vollzug absolut jenseits des menschlich Erklärbaren ansiedelt“. Nimmt man noch Formulierungen wie „afrikanische Stammesschlächtereien“ hinzu, die Bohrer für andere Massentötungen verwendet, wird deutlich, welches Konfliktpotential in mancher Verteidigung der Einzigartigkeitsthese steckt.3

Mit einem Wort des im November 2020 verstorbenen Berliner Religionsphilosophen Klaus Heinrich lässt sich von einem „Skandalon“ sprechen. Nicht ohne Grund nennt Rothberg einen knapp fünfseitigen Abschnitt seiner Einleitung „Von der Einzigartigkeit zur Multidirektionalität“ und argumentiert darin wie auch an anderen Stellen seiner Studie gegen solche ahistorischen Ansätze, den Holocaust aus der Menschheitsgeschichte auszuklammern. Außerdem weist er etwa die Behauptung, die Vernichtung sei bei anderen Genoziden und sonstigen Massentötungen außer beim Holocaust vom Kosten-Nutzen-Kalkül bestimmt, als ideologisch zurück. Denn akzeptiere man die Behauptung, dass bestimmte Massaker – wie etwa der Genozid an den Armeniern oder die Vernichtung der mexikanischen und peruanischen Indios – aus pragmatischen Gründen erfolgten, mache man sich häufig zugleich die Sichtweise der Täter:innen und deren Begrifflichkeiten zu eigen. Der „Pragmatismusdiskurs“ reproduziere obendrein kolonialistische Ideologien, wie er mit Verweis auf Jodi Byrd, eine Angehörige der Chickasaw, ausführt, die sich gegen die Vorstellung verwahrt, die nordamerikanischen first nations würden in „einer solchen Konkurrenz um den ‚wahren‘ Genozid“ gewissermaßen zu logischen Opfern des Fortschritts gemacht (77).

Vor allem aber liegen die Verdienste dieser beeindruckenden Studie in der Rekonstruktion von vielfältig überlagerten Erinnerungsschichten in Romanen, Bildern oder Filmen, deren diskurspolitische Bedeutung Rothberg immer wieder reflektiert. Dies wird etwa in seiner Interpretation von Michael Hanekes preisgekröntem Film Caché deutlich, der nur kurze Zeit nach der umstrittenen französischen Gesetzesvorlage, die vorsah, im Unterricht die „positiven Aspekte“ des Kolonialismus zu betonen, im Mai 2005 in Cannes mit drei Preisen ausgezeichnet wurde (322). Auf komplexe Weise bezieht sich Hanekes Psychothriller auf das jahrzehntelang aus dem öffentlichen Diskurs in Frankreich verschwundene Massaker an Algerierinnen und Algeriern vom 17. Oktober 1961. Für diesen Mord an über 200 Menschen mitten in Paris, vor dem Hintergrund des Algerienkriegs, zeichnete Maurice Papon verantwortlich, der als Polizeipräfekt in Vichy u. a. die Deportation von 1700 Jüdinnen und Juden aus Bordeaux verfügt hatte. Die Enthüllung dieser lange im Dunkeln gebliebenen Deportationen als „verborgener“ Teil einer inzwischen anerkannten Vergangenheit – der Kollaboration des Vichy-Regimes – hätte die Diskussion einer einmal bekannten, dann aber „verborgen[en]“ – die Rolle Papons beim Massaker des 17. Oktober – zutage gefördert (328).

In den neun Kapiteln der Multidirektionalen Erinnerung zeichnet Rothberg beginnend mit Arendts Totalitarismusbuch, einem kurzen Text, den W.E. Du Bois über das Warschauer Ghetto schrieb und 1952 in der Zeitschrift Jewish Life veröffentlichte, sowie einer Reihe weiterer, teils wenig bekannter kultureller Texte „Transformationen des Holocaustgedenkens“ (229) vor dem Hintergrund von Prozessen der Dekolonisierung nach. Mit seinen Analysen führt der Kulturwissenschaftler anschaulich vor, wie sich Erinnerungsdynamiken immerzu durch Verknüpfungen unterschiedlicher Bezugnahmen auf diverse Gedächtnisse ergeben. Wenn etwas zu bemängeln bleibt, so ist es, worauf Jan Philipp Reemtsma bereits hingewiesen hat, die leider teilweise unbeholfene Übersetzung.

Anmerkungen

  1. Manfred Hennigsen, „Die Regime des Terrors“, in Merkur: deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 51 (1997), H. 575: 105–116.

  2. Siegfried Kohlhammer, „Über Genozid, moralische Ressourcen und Belange der Gegenwart“, in Merkur: deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 55 (2001), H. 627: 586–587.

  3. Karl Heinz Bohrer, „Warum Unvergleichbarkeit?“, in Merkur: deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 55 (2001), H. 627: 642.