Lachen und Gedächtnis: Humoristische Darstellungsstrategien in den Jüdischen Kulturbildern von Armin Schnitzer
Paris Lodron Universität Salzburg, Zentrum für Jüdische Kulturgeschichte
Autobiographien sind eigenartige, spannende Texte, die mit gebührender Kritik gelesen auch als relevante historische Quellen dienen können. Verfasst aus einer individuellen Perspektive, gewähren sie Einblick in teilweise unbekannte oder vergessene Welten, erzählen und kommentieren Ereignisse des öffentlichen und des privaten Lebens. Durch bisher unbeachtete Details und ihre Fokussierung auf den Alltag ergänzen und differenzieren sie vorhandenes Wissen. Neben ihrer vielfältigen Thematik sind diese Selbstzeugnisse auch durch vielfältige Stilmittel gekennzeichnet: der tongebende sachlich-beschreibende Stil geht oft in Klage, Pathos, Lob oder Humor über. Sie können die Kontexte, in denen sie entstanden sind, verklären, private Umwelten stilisieren und idealisieren, eigene Ideologien apologetisch verteidigen, aber auch soziale Missstände kritisieren. Sie sind auch Bausteine zum selbst erschaffenen Bild des Autors für die Nachwelt. Dementsprechend fordern sie bei Lektüre und Interpretation heraus.1 Auch Autobiographien aus jüdischen Kontexten2 sind sinnvolle Ergänzung zu den oft bruchstückhaft erhaltenen oder fehlenden oder einfach nur einseitigen Quellen jüdischer Geschichte, vor allem der Kultur- und Alltagsgeschichte.
Die vorliegende Arbeit widmet sich den Lebenserinnerungen von Rabbiner Armin Schnitzer, genauer gesagt einer darin enthaltenen speziellen Darstellungsstrategie: dem Humor. Armin Schnitzer (1836–1914) war eine führende Gestalt der Neologie, der gemäßigt progressiven Richtung im ungarischen Judentum.3 Er war Teilnehmer und aktiver Mitgestalter der religiösen und politischen Entwicklungen im ungarischen Judentum und zugleich Chronist seiner Zeit, der Epoche der Emanzipation. Schnitzer amtierte 52 Jahre lang in der jüdischen Gemeinde von Komárom (dt. Komorn, heute Komárno, Slowakei), einer Kleinstadt an beiden Seiten der Donau im gleichnamigen Komitat in Ungarn. Als einer der wenigen ungarischen Rabbiner schrieb er seine Lebenserinnerungen und veröffentlichte sie auch. Er wollte nicht nur eine Autobiographie im engeren Sinne über seinen eigenen Werdegang schreiben, sondern er wollte die jüdische Welt seiner Zeit, das (Alltags-)Leben der jüdischen Gemeinden in Ungarn und in den benachbarten Ländern darstellen. Deshalb wählte er einen Titel, der beide Perspektiven, den biographischen Einblick und den populär-ethnographischen Ausblick miteinander vereinigt: Jüdische Kulturbilder. Aus meinem Leben.4 Im Vorwort des Buches formuliert er sein Ziel wie folgt:
Mit den hier folgenden ‚jüdischen Kulturbildern‘ will ich das Kleinleben von der Kehilla (Judengemeinde) mit ihren Volks- und Rabbinerschulen (Cheder und Jeschiwah) schildern, um dem Leser einen Einblick in die jüdische Volksseele zu gewähren, die in kleinster Enge allzeit doch Großes hat geschaffen. (S. 3.)
Der Text umfasst etwa 70 Jahre jüdische Geschichte in Ungarn von den 1830ern bis zur Jahrhundertwende, ein Zeitalter wichtiger politischer, wirtschaftlicher, sozialer und religiöser Veränderungen im Leben der jüdischen Gemeinden. Es war die Zeit der Emanzipation, der Gleichstellung der Juden als gleichberechtigte Staatsbürger und der Rezeption, der rechtlichen Gleichstellung der jüdischen Konfession. Das war ein Zeitalter voller Hoffnung auf nicht nur rechtliche Egalität, Frieden und Prosperität. Die Kulturbilder sind eine höchst spannende Lektüre, aber als historische Quelle wegen ihrer Subjektivität und Selektivität in Bezug auf Themenwahl, Personen und Ereignisse nicht unproblematisch. Als historische Quelle können sie – wie alle anderen schriftlichen Quellen – nur mit gebührender Quellenkritik gelesen werden.
Von Anfang an fällt beim Lesen der Humor auf. Der Autor will nicht nur informieren, sondern erheitern, belustigen, manchmal verspotten. Er will Sympathie erwecken, zum Mitlachen oder – bei der Schilderung von Missständen – zum Nachdenken animieren. Dafür benutzt er vielfältige textuelle Strategien. Diese thematische und sprachlich-stilistische Vielfalt und Kreativität motivierte mich, diese kulturhistorische Quelle jüdischen „Kleinlebens“ aus einer speziellen Perspektive zu lesen5 mit dem Ziel, den Humor der Kulturbilder, besonders die humoristischen Darstellungsmittel und Strategien, zu analysieren. Es wird dabei gefragt:
Welche sprachlichen Mittel setzt Schnitzer ein? Wie werden Situations- und Charakterkomik sowie sprachliche Komik erzeugt?
Welche Themen (Szenen aus dem Alltag, religions- und sozialpolitische Ereignisse, bekannte und unbekannte Personen) werden humoristisch behandelt und dargestellt?
Welche Funktionen hat der Humor – von der Bewältigung der Unzulänglichkeiten des Alltags durch Neckerei und Spott über Personen und Charaktere bis hin zur satirischen Sozialkritik bestimmter innerjüdischer Verhaltensmuster?
Wie profiliert sich Schnitzer durch Humor als Stilist und Persönlichkeit? Wie setzt er (bekannte und beliebte) Anekdoten ein, wo kommen andere Stilmittel, z. B. Apologie oder Pathos, zur Geltung?
Diese Perspektiven, die deskriptive, die funktionale und die symbolische, werden bei der Analyse stets berücksichtigt. Die Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Zuerst wird Schnitzers Biographie zusammengefasst, Aspekte seiner Identität und die (teilweise daraus resultierenden) potentiellen Konfliktfelder während seiner Rabbinerkarriere skizziert. Danach folgen Überlegungen zum Humor anhand ausgewählter Fachliteratur: zum Begriff, zum Verhältnis von Lachen und Normverletzung und zu den Arten des Lachens. Im Anschluss daran sind die exemplarischen Textanalysen zu lesen. Die Reihenfolge der Beispiele ist durch die genannten Aspekte gesteuert, obwohl einzelne Sichtweisen sich stets überschneiden.
Armin (Herschel) Schnitzer6 wurde am 8. Dezember 1836 in Hunfalva (dt. Hunsdorf, heute Huncovce, Slowakei), im damaligen Oberungarn, in eine traditionelle jüdische Familie geboren. Sein Vater Moritz stammte aus Andrichau/Andrychów, aus dem westlichsten Teil Galiziens, und kam mit 15 Jahren nach Ungarn, wo er in Liptószentmiklós (heute Liptovky Mikulas Slowakei) in der Jeschiwa studierte und später als schlecht bezahlter Melamed (Lehrer im Cheder, in der jüdischen Elementarschule) tätig war. Schnitzer verbrachte seine Kinderjahre in einer Gemeinde, die von den sozialen und religiösen Modernisierungsbestrebungen der Zeit noch unberührt war. Das Leben war durch die Halakha, das jüdische Religionsgesetz, bestimmt, ergänzt durch eine lebhafte, heute fast unbekannte Volksreligiosität mit ihren zahlreichen Bräuchen und Aberglauben, die die Weltanschauung der Menschen und ihre Auseinandersetzung mit der Außenwelt prägten. Viele dieser Alltagspraktiken hat Schnitzer in seinen Kulturbildern verewigt. Seine Familie war jiddischsprachig, das Deutsche war für den jungen Schnitzer die Kultursprache, die er bemüht war zu erlernen und zu pflegen. Noch sechzig Jahre später erinnert er sich stolz an seine früh erworbene religiöse und weltliche Bildung:
Im Alter von zwölf Jahren hatte ich bereits zwei Traktate des Talmud allein, ohne alle Beihilfe, gründlich durchgenommen. […] Ich hatte den größten Teil der Bibel inne, ich konnte hebräisch und deutsch fehlerfrei schreiben, weil ich die Grammatik beider Sprachen wusste. Außerdem hatte ich schon Schillers Dramen und Gedichte gelesen und wusste sie zum Teil auswendig. (S. 26-27.)
Auch Schnitzers Begeisterung für den ungarischen Freiheitskampf in den Jahren 1848-1849 folgte den Freiheitsidealen der deutschsprachigen Literatur (er schildert diese Erinnerungen in den Kulturbildern auf S. 32ff.).
Mit 14 Jahren ging Schnitzer, wie damals üblich, in eine Jeschiwa, und zwar nach Mähren, denn sein Vater wollte den Sohn nicht, wie er schreibt, in eine „rückständische“ ungarische Jeschiwa schicken. Schnitzer erinnert sich an die Worte und die Entscheidung seines Vaters wie folgt:
Ich gebe dich in keine ungarische Jeschiwa, es sind dies lauter Brutstätten des finsteren Zelotismus, die jedem Lichtschimmer von weltlichem Wissen den Zugang wehren. Du wirst nach Mähren gehen, wo man ein tüchtiger Talmudist und dabei ein wissenschaftlich gebildeter Mensch werden kann. Du gehst nach Leipnik zu dem berühmten Rabbi Salamon Quetsch.7 (S. 38.)
Schnitzer ging zuerst nach Leipnik (heute Lipník) dann nach Nikolsburg (heute: Mikulov, beide in der Tschechischen Republik). Dort lernte er Samson Raphael Hirsch (1808-1888) kennen, einen Rabbiner, der als Erneuerer des traditionstreuen Judentums galt und dem jungen Schnitzer als Vorbild diente. Hirsch, damals Landesrabbiner von Mähren und Schlesien (1847-1851), war Begründer der modernen Orthodoxie (auch Neo-Orthodoxie genannt) und Schnitzer war, als junger Bocher (Jeschiwaschüler), Zeuge der Entfaltung einer neuen Mentalität, die die religiösen Reformen ablehnte, sich aber der Moderne nicht ganz verschließen wollte.8
Als Hirsch ganz unerwartet einen Ruf nach Frankfurt am Main erhielt und Nikolsburg verließ, kehrte auch Schnitzer nach Ungarn zurück. Er lernte weiter in Gyöngyös und Késmárk, heiratete im Alter von 20 Jahren und setzte seine Studien im Hause seines Schwiegervaters Mendel Kirz, eines angesehenen Gelehrten in Liptószentmiklós, fort. Schließlich wurde er zum orthodoxen Rabbiner ordiniert. Die Befähigung dazu, die Hatara, erhielt er von drei anerkannten Tora-Gelehrten. Einer von ihnen war der in orthodoxen Kreisen hoch angesehene Pressburger Rabbiner Avraham Schmuel Sofer (1815-1871), genannt Ksav Sofer, Sohn des Moses Schreiber (1762-1839), genannt Chatam Sofer, der seinerzeit der Anführer der streng konservativen, antimodernen Orthodoxie in Ungarn war. Kurz danach, 1862, wurde Schnitzer zum Rabbiner nach Komárom (dt. Komorn, heute Komárno, Slowakei) berufen und blieb dort – hoch angesehen – 52 Jahre lang im Amt bis zu seinem Tode am 23. Dezember 1914.
Das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, die Epoche der Doppelmonarchie nach dem Ausgleich im Jahre 1867, war in Ungarn die Zeit der raschen wirtschaftlichen Entwicklung und Urbanisierung während einer relativen politischen Stabilität – später von vielen als eine Art Blütezeit erinnert. An diesem Aufschwung hatten weite Kreise der jüdischen Bevölkerung ihren Anteil.9 Zugleich war es die Epoche der patriotisch motivierten, aber auch staatlich forcierten Magyarisierung der Juden, eine Bestrebung, zu Ungarn zu werden, sich in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zum Ungarntum zu bekennen und damit auch den Anteil der ungarischen Nationalität in den Statistiken des Vielvölkerstaates zu erhöhen. Dazu gehörte der Sprachenwechsel vom Deutschen und Jiddischen zum Ungarischen und die Identifikation mit der ungarischen Nation. Die Mehrheit der Juden, auch der neologen Rabbiner, sah sich als ungarische Staatsbürger jüdischen Glaubens, und bekräftigte diese Auffassung mit engagiertem Patriotismus und durch Verwendung des Ungarischen im Alltag, im Unterricht und in der Wissenschaft. Auch Schnitzer erlernte die ungarische Sprache (nach seiner Berufung nach Komárom) und pflegte sie in der Öffentlichkeit, in der Predigt und in seiner publizistischen Tätigkeit. Die Kulturbilder verfasste er jedoch auf Deutsch und veröffentlichte sie in Wien.
Bereits zu Beginn seiner langen Amtszeit, 1868-69, fand in Ungarn der Jüdische Kongress statt, der zur fatalen Spaltung des ungarischen Judentums und seiner Gemeinden führte.10 Mitglieder, die die beschlossenen Reformen ablehnten, traten aus und bildeten „traditionstreue“ (später „orthodox“ genannte) Gemeinden. Jene, die den modernisierenden Beschlüssen folgten, wurden zu „Kongressgemeinden“, die später „neolog“ genannt wurden. Schnitzer musste die Spaltung seiner Gemeinde miterleben und blieb Rabbiner der gemäßigt progressiven, neologen Gemeinde. Später wurde er auch gemeindepolitisch aktiv: Er gründete und leitete zuerst den Transdanubischen Rabbinerrat (1897), später den Ungarischen Landesrabbinerrat (1907).11 Bei der Stadtverwaltung und beim Komitat schaffte er den berüchtigten Juden-Eid, den more judaico, ab, einen demütigenden Text, den Juden bei gerichtlichen Eidesleistungen vorzutragen hatten. Dies wird in den Kulturbildern als pathetische und zugleich humoristische Geschichte geschildert. Er pflegte aktiv, wie man heute sagen würde, interreligiöse Beziehungen, was sich auch in seiner Freundschaft mit dem reformierten Bischof Gábor Pap (1827–1895) zeigt.12 Pap war Mitglied der Oberkammer des ungarischen Parlaments und spielte eine entscheidende Rolle bei der Anerkennung der jüdischen Religion als staatliche, gleichberechtigte Religion (sog. „Rezeption“) im Jahre 1895). Bei der Abstimmung wurde der Gesetzesentwurf nur deshalb knapp angenommen, weil der schwer kranke Bischof – trotz Ermahnung seines Arztes – an der Sitzung teilnahm und dafür stimmte. Mit seiner Stimme entstand eine Stimmengleichheit und der Vorsitzende stimmte ebenfalls dafür. Ohne Paps Pro-Stimme hätte man den Entwurf abgelehnt, denn die Vertreter der ungarischen Aristokratie waren entschieden dagegen, erinnert sich Schnitzer in großer Dankbarkeit.
Schnitzers religiöses Leitprinzip lässt sich mit jenen Worten wiedergeben, die er über sein Vorbild, Samson Raphael Hirsch formulierte: „altes, glaubenstreues Judentum in modernem Gewande“ (S. 60). Dies bedeutete die Koexistenz von jüdischer Tradition und moderner Kultur gleichermaßen, das Bejahen des fundierten religiösen Wissens und der nicht nur beruflichen, sondern auch weltlichen Bildung. In seinem Nekrolog wird festgehalten: „Er hat beispielhaft gezeigt, wie man in Einklang bringen kann die Treue zur Tradition und die Erfüllung der Aufgaben unseres Kulturlebens, mit der seriösen, hingabevollen und erfolgreichen Arbeit. […] Er war konservativ im besten Sinne und modern im edelsten Sinne des Wortes.“13 Er war für die Vereinbarkeit von Gelehrsamkeit und tiefer Religiosität, zugleich gegen Mystik und Aberglauben, für das „Wesentliche“ statt das Partikuläre im Judentum, vor allem bei der „äußeren Form“ der Religionspraxis. Dies wird bei der Diskussion um die Almemor-Frage deutlich.14 Er lehnte liturgische Reformen ab, so auch die Verwendung der Orgel, die in vielen neologen Gemeinden verbreitet war, trat aber für die anspruchsvoll gestaltete Predigt ein, die wiederum von vielen Traditionalisten abgelehnt wurde, nicht nur wegen der Verwendung der Landessprache (Deutsch, später Ungarisch, statt Jiddisch), sondern auch wegen der Nachahmung eines als christlich konnotierten Stils. Schnitzer plädierte stets für die Verwendung von Kultursprachen bzw. der Landessprache – im Falle Ungarns waren das das Deutsche und das Ungarische – im Alltag und in der Predigt (jedoch, im Gegensatz zu manchen radikalen Reformern, nicht in der Liturgie). Dem Jiddischen stand er ablehnend gegenüber (war z. B. nicht bereit, auf Jiddisch zu predigen), bezeichnete es als „Jargon“. Trotzdem äußerte er sich nicht scharf polemisch gegen die Sprache seiner Kindheit. Schnitzer vereinigte in sich ungarischen Patriotismus und Dynastie-Treue dem Hause Habsburg gegenüber, gekoppelt mit einer Verehrung des Kaisers und seiner Familie. Dies wurde in den Kulturbildern in positiven Kontexten verewigt. Das war eine übliche Einstellung unter den meisten ungarischen Juden der Monarchie und zugleich Ausdruck der Dankbarkeit dem Regime gegenüber, das eine kurze Zeit von Prosperität und ein Gefühl der Akzeptanz ermöglichte. 1912 wurde er zu seinem 50sten Dienstjubiläum mit dem Ritterkreuz des Franz-Josef-Ordens ausgezeichnet.
Nach dieser kurzen Vorstellung des Autors seien noch vor der Analyse jene Themen kurz angesprochen, die in den Kulturbildern als Konfliktpotentiale thematisiert werden und als Anlass humoristischer Situationen dienen können. Denn viele humoristisch präsentierten Alltagskonflikte und Ungereimtheiten sind gerade auf die Diskrepanz zwischen moderner und traditioneller Lebensweise, zwischen Modernisierungsbestrebungen und traditionstreuer Zurückhaltung, oder auf den Konflikt rationaler Religionsausübung mit Praktiken der Volksreligiosität zurückzuführen, allesamt zentrale Themen aus der Zeit in der Schnitzer lebte und wirkte. Als Vertreter rationalen Denkens und weltlicher Bildung lehnte Schnitzer Mystik und Aberglauben konsequent ab. Dies wird deutlich bei seinen teils scherzhaften, teils kritisch-satirischen, manchmal bissigen oder gar nicht mehr komischen Schilderungen des Aberglaubens, oder auch der Ideologie und Praktiken des Chassidismus. Oft war seine Kritik mehr eine Sozialkritik als reine Ideologiekritik. Vehement kritisierte Schnitzer die durch mangelnde Ausbildung entstandene Arbeitslosigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit, die dadurch verursachte Armut einzelner Gruppen und ihrer Herkunftsregion. Doch in den Kulturbildern dominieren die komischen Situationen und Charaktere der Gemeinden. Bei der Sprachkomik kann man mit der humoristisch aufgelösten Spannung zwischen Jiddisch und Deutsch, mit durch Code-Mischung verursachten Sprachspielen rechnen, die auch in den jüdischen Witzen der Jahrhundertwende reichlich vorkommen. Obwohl Schnitzer eine Reihe von Personen und Zuständen zur Zielscheibe des Lachens macht, ist dies meistens ein solidarisches und kein Überlegenheitslachen (zu den Begriffen s. den folgenden Abschnitt). Die Namen werden bei „peinlicheren“ Szenen sorgfältig anonymisiert. Schnitzer bleibt seinem Amt und seiner Würde als Rabbiner treu, er vermittelt das Gefühl, dass ihn die Sorge um und nicht gegen seine Gemeinde im weitesten Sinn leitet.
Vor der Textanalyse sollen drei miteinander eng verbundene Begriffe „Humor“, „komisch“ und „Lachen“ differenziert werden. Lachen wird als psychophysiologischer, sozial geregelter (und somit kulturspezifischer) Vorgang aufgefasst, also eine rezeptive-reaktive Tätigkeit eines Subjektes (jemand lacht über etwas, das er wahrnimmt). Komisch ist dagegen eine Eigenschaft eines Objektes (textueller, materieller, körperlicher usw. Art), das dem Rezipienten Anlass zum Lachen gibt. Humor wird als Gemütszustand verstanden, eine Fähigkeit des Menschen über Eindrücke aus der textuellen oder materiellen Welt zu lachen, Konstellationen mit Lachen zu betrachten, zu thematisieren oder zu reflektieren und dadurch den durch Konflikte erzeugten Stress mit Lachen abzureagieren. Die gängigen Humortheorien sind im Grunde Theorien des Lachens oder Theorien des Komischen.15 „Humoristisch“ wird im Folgenden als Oberbegriff für Lachen erregende Darstellungsstrategien verwendet, unter „humoristischen Texten“ werden Zeichenprodukte verstanden, die den Rezipienten zum Lachen bringen wollen bzw. können. Dass man nicht über alles lachen kann und nicht jeder dasselbe komisch findet, lässt sich durch den Charakterzug des Humors als individuellen Gemütszustand und die subjektive Art des Komischen erklären: Jeder findet etwas Anderes komisch (lustig, lächerlich) und nicht jeder reagiert mit Lachen auf bestimmte Phänomene. Die Humortheorien berücksichtigen diesen Umstand unterschiedlich. Im Folgenden sei ein neuerer Ansatz vorgestellt, der die unterschiedliche Wirkung des Komischen erschließen und somit bei der Lektüre hilfreich werden kann.
Nicht alle Diskrepanzen rufen Lachen hervor, nicht alle Normverletzungen wirken komisch. So bemerkte bereits Aristoteles: Das Lächerliche sei „ein Mangel und etwas Schimpfliches, das aber weder schmerzt noch ins Verderben bringt“ (zitiert in Hügli 2012: 4). Es muss also ein Gleichgewicht geben zwischen der Wahrnehmung einer Normverletzung (dem besagten „Fehler“ oder „Mangel“) und ihrer Akzeptanz beim Betrachter („schmerzt nicht“). Diesen alten Gedanken formuliert Thomas Veatch in seiner „Allgemeinen Theorie des Humors“ neu (Veatch 1998). Nach seiner Auffassung spielen zwei Hauptkomponenten bzw. ihre drei Kombinationen im humoristischen Prozess eine zentrale Rolle.16 Diese sind einerseits der Grad der Verletzung der Ordnung der Dinge (markiert als V) und andererseits der Grad ihrer Hinnahme und des Gefühls der Normalität (markiert als N). Sie sind Voraussetzungen für den humoristischen Effekt und müssen im Gleichgewicht stehen: +V und +N, damit wirklich Lachen (keine Gleichgültigkeit) und nur Lachen (kein Schmerz) verursacht wird.
Demnach wird in einer Situation nicht gelacht, wenn – parallel zum Gefühl der Normalität – keine nachvollziehbare Normverletzung wahrgenommen wird (-V, +N: keine Normverletzung, alles scheint in Ordnung zu sein). Einfach formuliert: Es fällt nichts Merkwürdiges auf. Solche Beispiele kommen im Alltag oft genug vor („Was soll daran komisch sein?“). Sind die beiden Komponenten gleich stark präsent und stehen im Gleichgewicht (+N, +V: eine Norm wird verletzt, doch für den Betrachter akzeptabel – mit Aristoteles formuliert: „schmerzt nicht“) dann wird eine witzige Verletzung der Ordnung der Dinge wahrgenommen und als Reaktion wird gelacht. Wenn aber die verletzende Komponente ohne das Gefühl der Akzeptabilität dominiert (-N, +V), entsteht eine angreifende Verletzung und es wird ebenfalls nicht gelacht.17
Dies erklärt auch, warum jemand über bestimmte Situationen und Konstellationen lacht, und über andere nicht (subjektives N-Element) oder warum Phänomene (Texte, Bilder usw.), die einst komisch gewirkt haben, mit der Zeit ihre humoristische Wirkung verlieren oder sogar Schrecken und Entsetzung auslösen können.
Auch die Formen des Lachens (wie lacht man, mit welcher Absicht, zu welchem Zweck) variieren. In seiner „Semiotik des Lachens“ unterscheidet Lothar Fietz zwischen zwei Formen des Lachens nach der Art der zugrundeliegenden Normabweichung (Fietz 1996). Die Verletzung von Normen, die als gültig und richtig angesehen werden, löst ein moralisch-kritisches Überlegenheitslachen aus (Typ A). Gelten aber die Normen als bereits überholt, kann man bei ihrer Verletzung mit einem zustimmenden, sympathisierenden Lachen (Typ B) rechnen.18 So kann man den Protagonisten aus der Position der Überheblichkeit auslachen oder mit ihm solidarisch mitlachen. Es können auch Praxen dargestellt werden, die zwar den Gewohnheiten des Alltags entsprechen, aber nicht dem Ideal des Erzählers oder der Gemeinschaft. In diesem Fall wird weder der dargestellte Akt, noch die Norm dahinter gebilligt. Wenn wir die Kategorisierung von Fietz in diese Richtung weiterführen, ergibt sich ein dritter Typ, nennen wir ihn Typ C: Die Darstellung löst kein Lachen aus, sondern vielmehr Erbitterung oder Nachdenken. Als Ergebnis entstehen keine Spottbilder, sondern Denk- oder Mahnbilder.19
Zusammenfassend lassen sich diese Typen der Normverletzungen wie in Tabelle 1 darstellen.
Norm | Dargestellter Akt | Art des Lachens | |
---|---|---|---|
Typ A | + richtig | - richtig | moralisch-kritisches Überlegenheitslachen |
Typ B | - richtig | + richtig | Zustimmendes Lachen |
Typ C | - richtig | - richtig | Kein Lachen, Denkbild, Mahnbild |
Wie aus den obigen Überlegungen hervorgeht, spielen die unterschiedlichen Ansichten des Autors – in diesem Fall Schnitzers – und der Rezipienten, der damaligen und der heutigen Leser, eine entscheidende Rolle. Sie können von der vorbehaltlosen Bejahung bis zur gänzlichen Ablehnung der jeweiligen Normen reichen, einschließlich der neutralen oder kritischen Distanz. Diese Einteilung wird sich auch bei der Analyse der humoristischen Szenen in den Kulturbildern als hilfreich erweisen. Nach diesen Überlegungen folgen nun die Analysen. Beginnen möchte ich mit humoristischen Beispielen aus dem (Gemeinde-)Alltag.
Eine stets beliebte Erzähltechnik in humoristischen Texten ist die Schilderung von lustigen Szenen und die Verwendung der Charakter- und Situationskomik dabei. Auch bei Schnitzer kommen sie zahlreich vor. Es werden typische Gestalten und Bräuche seiner Kindheit und Jugend, aus Familie und Gemeinde zum Leben erweckt und etwas karikiert bzw. übertrieben dargestellt. Zu den komischen Figuren gehört berufsbedingt der Hochzeitsnarr und Spaßmacher der Gemeinde in Hunsdorf aus Schnitzers Kinderjahren, Berl Baß:
Berl Baß war auch der Hochzeitsnarr, „Marschalik“ genannt, der seine improvisierten Reime, sein Hochzeitscarmen an die Braut und Knittelverse auf jeden einzelnen der Gäste auf seiner Violine begleitete, sowie er überhaupt der Spaßmacher der Gemeinde war. Dazu befähigte ihn ganz außerordentlich sein kautschukartiges Gesicht, mit dem er gar possierliche Grimassen schnitt. Besonders am Purim ließ er sein Licht leuchten: er hatte jedesmal einen neuen, originellen Einfall beim „Verstellen“ (Maskieren). (S. 13.)
Hier sei seine „kreative Purim-Überraschung“ aus seinem Repertoire zitiert:
Ich erinnere mich an einen lustigen Streich, den er einst am Purim ausführte. Einige Tage früher hatte er der Gemeinde bekannt gegeben, dass er am Purim nachmittags 2 Uhr als Moses das Meer spalten werde. Auf dem Hauptplatze hatte sich zur bestimmten Stunde Jung und Alt eingefunden, gewärtig der Dinge, die da kommen sollten. Da kam Berl Baß, als Moses verkleidet, wie er auf den alten Gebetbüchern abgebildet ist. Gravitätisch schritt er einher, eine lange, den Mosesstab darstellende Stange in der Hand, und kam an die recht große Pfütze, die auf dem Hauptplatze wie ein See sich ausdehnte und nur im Hochsommer eintrocknete, damals aber durch den geschmolzenen Schnee eine ansehnliche Breite und Tiefe erlangt hatte. Einen langen Bibelspruch rezitierend, teilte er mit kräftigem Schlage die Pfütze, und die schmutzige, schlammige Flut bedeckte die Umstehenden vom Kopf bis zum Fuß. Ein Glück war es, dass man in Hunsdorf an dem Satze festhielt: „Purim ist kein Jomtov“ („Purim ist kein Festtag“)20 und die Feiertagskleider vor diesem Attentat bewahrt blieben. Das war ein echter Purimscherz – für Hunsdorf. (S. 13-14.)
Dieser Humor mag (bedingt durch den zu starken Grad der Normverletzung den Gemeindemitgliedern gegenüber) heute vielleicht kein Lachen mehr hervorrufen, zeigt allerdings einen der eher derben humoristischen Interaktionen im Kontext von Purim, der in der jüdischen Lachkultur ähnliche Züge wie das Faschingsfest trägt und somit im Rahmen des Karnevalesken auch aggressivere Formen des Lachens, des Lächerlich-Machens zulässt.21
Der primäre Lebensbereich und somit auch Bezugskontext in Erinnerungen ist die Familie. Schnitzer spart nicht mit humoristischen Anlässen aus eigener Erfahrung und mit eigener Beteiligung. Die Situationskomik der folgenden Szene basiert auf der Reaktion seiner traditionellen Familie auf den Erfahrungsbericht des jungen Schnitzers in der neuen Welt – bei seinem lang erwarteten Besuch zu Hause. Er schildert unter anderem, wie ihm seine Begeisterung für die (deutsche) Literatur zum Verhängnis wurde. Stolz berichtete er zum Beispiel über den „Deklamatorischen Verein“:
Alle Mitglieder meiner Familie lauschten mit gespannter Aufmerksamkeit auf das, was ich ihnen erzählte: von dem deutschen Rabbiner ohne Pelzmütze, von dem Wagen ohne Pferde und von dem deklamatorischen Verein, dessen Mitglied ich war. „Deklamatorischer Verein? Was ist das?“ War die allgemeine Frage. Ich konnte ihnen das nicht deutlicher erklären, als indem ich sofort etwas vortrug. Ich wählte die Kindsmörderin22, die ich mit Kraft, genialem Pathos und mit verwegenster Mimik nun deklamierte. „Weißt Du, Schwager, mir scheint, das Jüngel ist meschugge geworden“ – war die Reaktion der Verwandtschaft. (S. 78.)
Die ungewohnte Vereinsbezeichnung, die verblüffende Themenwahl und der Vortragsstil haben sicherlich alle zur besagten Reaktion beigetragen.
Dafür, dass auch Veränderungen der materiellen Kultur für komische Situationen sorgen können, sei die erste Begegnung der Familie Schnitzer mit dem Brausepulver erwähnt:
Ich dachte lange darüber nach, was ich Neues, Überraschendes aus fremden Landen heimbringen könnte, ohne allzu tief in die nicht besonders gefüllte Tasche greifen zu müssen. Und da kam mir der glückliche Gedanke, dass man in meinem geliebten Hunsdorf – Brausepulver noch nicht kennt. Ich kaufte daher ein Pfund Weinstein und ein entsprechendes Quantum doppelkohlensaures Natron und freute mich schon im Vorhinein auf den sensationellen und imponierenden Effekt, den mein ‚Mitgebrachtes‘ zu Hause auf meine Lieben üben wird. (S. 75.)
Doch die Überraschung ging schief, was die Worte der Mutter beweisen:
Mein liebes Kind, es ist sehr gut, was Du mitgebracht hast, aber ein zweitesmal werde ich kein Brausepulver unseren Gästen „verehren“. Mehr als ein Pfund Zucker ist aufgegangen, damit hätte ich zwei Wochen auskommen können. (S. 79.)
Mit viel Selbstironie macht er sich Jahrzehnte später selbst zum Objekt des solidarischen Mitlachens wegen seines übertriebenen Eifers.
Ein konfessions- und kulturübergreifend beliebtes Mittel der Komik sind Zitate aus dem „Kindermund“. Schnitzer schildert eine Situation aus seiner Praxis als Gehilfe seines Vaters als Religionslehrer, der nicht mehr in einem privaten Cheder, sondern im staatlich anerkannten, deshalb auch regelmäßig staatlich geprüften Religionsunterricht in der Schule von Késmárk (dt. Käsmark, heute Kežmarok in der Slowakei) tätig war. Die angekündigte Prüfung in Anwesenheit eines Pfarrers, dem Prüfungsbeauftragten, sorgte beim Vater für Unmut, handelte es sich doch beim Aufsagen der gelernten Lesestücke bzw. eines (nach christlichem Vorbild erstellten) jüdischen Katechismus in Frage-Antwort-Form um eine neue, bisher ungewöhnliche Prüfungsvariante. Doch der Kindermund lockerte die Situation:
Höchst komisch war die Antwort eines Kindes, die mir noch im Gedächtnis geblieben. Diesem Kinde war die Aufgabe zugefallen, das Gedicht „Wo wohnt der liebe Gott!“ aufzusagen. Ich forderte es dazu auf mit den Worten: „Nun sage, wo wohnt der liebe Gott?“ „Numero 83“ war die Antwort. Das war nämlich die Zahl dieses Lesestückes im Buche. Wir lachten alle herzlich, wie genau der Junge die Hausnummer der himmlischen Gotteswohnung kennt. Der Pfarrer lachte am lautesten, und da wir den Lacher auf unserer Seite hatten, hatten wir gewonnenes Spiel. (S. 126.)
Auch dafür finden wir Belege in den Kulturbildern, dass Schnitzer seine Grenzen in Sachen Humor hatte. Manche Situationen fand auch er nicht komisch, etwa wenn die bissigen-boshaften Bemerkungen das religiöse Studium betrafen. Hier führt er eine Begegnung aus seiner Jugendzeit an:
Meine erste Privatstunde erhielt ich in einem der vornehmsten Häuser, und zwar infolge einer recht derben Antwort, die ich einem jungen Manne gab, der in einem Kaufladen mit dem Hausfräulein sich unterhielt. Ich kam in das Geschäft mit einem Folianten unter dem Arme, um eine Kerze für die Nacht zu kaufen. „Fräulein Marie“, sagte der junge Mann, „nehmen Sie vielleicht Unterricht im Talmud?“ „Mein Herr!“ erwiderte ich, „dazu ist der Talmud viel zu gut, als daß Sie Ihre ungeziemenden Witze über ihn machen dürften.“ (S. 90-91.)
Auch wenn die beabsichtigte Adressatin des jungen Mannes eher Fräulein Marie gewesen sein dürfte, indem er das damals unübliche Talmudstudium bei Frauen angesprochen hat, kam die Pointe bei Schnitzer gar nicht an. Das ist ein gutes Beispiel im Veatch’schen Modell für das Ungleichgewicht vorhandener Normverletzung (+V) und mangelndem Normalitätsgefühl (-N) bei Schnitzer, dem Zuhörer (mit den Worten „dazu ist der Talmud viel zu gut“ verdeutlicht). Oder mit Aristoteles gesprochen: Dieser Fehler schmerzte und führte somit nicht zum Lachen.
Schnitzer schreibt ausführlich und durchaus positiv über die Rolle der Rebbezen, der Frau des Rabbiners, ihre Stellung und informelle Macht in Gemeinde und Gemeindepolitik:
Innerhalb der enggezogenen Grenzen des jüdischen Gemeindelebens in der Provinz, wo die Persönlichkeit des Einzelnen leichter als in der Großstadt in den Vordergrund sich drängt, um sich durchzusetzen und Einfluß zu gewinnen, da war die Rabbinerin, recte Rebbezen eine vielgenannte, oft die – bestgehaßte Person. Die Rabbinerin war es, welche die Verbindung des Hauses mit der „Gesellschaft“ vermittelte. Denn während der Rabbiner, den alten Traditionen entsprechend, „nicht aus dem Zelte wich“23 und die Mauern des Lehrhauses nicht verließ, machte und empfing die Rabbinerin Besuche, und es hing von ihrer Klugheit und ihrem Takte ab, sich nicht in die Vorderlinie der aus purer Freundschaft einander anschwärzenden Damen stellen zu lassen und der Mittelpunkt unliebsamer Affairen zu werden. (S. 108-109)
Schnitzer zitiert gerne Anekdoten, in denen unter anderem weibliches Verhalten als Quelle des Komischen dient.24 So auch über die „nörgelnde“ Prager Rebbezen, die Ehefrau des Ezechiel Landau, die sich bei ihrem Ehemann wie folgt beschwerte:
„Sieht der Rebbe den Feiwel Wasserträger da unten stehen, diesen verkrüppelten, schmutzigen, blöden Menschen, und der sagt jeden Tag das Dankgebet: Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, schelo uszani ischu [shelo asani ischa] – daß Du mich nicht als Weib geschaffen hast. Ich bin Prager Rebbezen und dieser Feiwel dankt Gott, daß er nicht ist, was ich bin! Ist das Recht?“ „Aber Liebe, wie kannst Du nur so reden?“ antwortete ihr der Rabbi. „Kennst Du denn Feiwels Weib? Meinst Du nicht, daß sie noch verkommener, schmutziger, blöder ist als er? Nun, jeder Mann sagt den Segenspruch, daß er nicht als Weib geschaffen wurde, in Beziehung auf sein eigenes Weib. Feiwel dankt Gott, gewiß mit Recht, daß er nicht ist wie sein Weib.“ (S. 112-13.)
Obwohl eine Anspielung auf weibliche Eitelkeit unverkennbar ist, wird weniger die Frau verspottet als vielmehr die Klugheit des Rabbiners gepriesen, dass er für jede Herausforderung in jeder Situation eine passende Antwort parat hat. Damit ähnelt diese Anekdote den beliebten Witzen über die rabbinische Weisheit als Hauptmotiv.
Die Rebbezen-Anekdoten sind auch als typische Partnerschaftsneckereien, in denen über beide Parteien gleichermaßen gespottet wird, wo am Ende keine/r den Wettkampf gewinnt, und der Leser mit einem Überlegenheitslachen über beide Seiten reagiert. Dies zeigt Schnitzers „Hindekes-Geschichte“ des Rabbiners von Sandec, der „Sanser“.
Eines Tages kam die Rebbezen ganz entrüstet vom Marktplatz nach Hause und lief ins Zimmer des Rabbi, um eine Klage vorzubringen. „Rebbe, Moischele Vorhand, der von uns acht Gulden Wochengeld bekommt, hat mir einen Hindek (Indian, Truthahn) ausgekauft. Der Schnorrer muß Hindekes essen! Und noch dazu für unser Geld!“ „Wart nur mein Weib“ sagte der Rabbi ruhig, „ich wird‘ ihm schon meine Meinung sagen, er wird dir keine Hindekes mehr auskaufen.“ Er schickte sofort um Moschele. Dieser kam zitternd und zögernd vor Angst und Bangen, seiner schweren Schuld sich bewußt. Und da stand er, in „seines Nichts durchbohrenden Gefühle“ vor dem Heiligen, dem Allgewaltigen, gewärtig der Dinge, die da kommen sollten. Und der Rabbi begann erregt und streng: „Moischele, ich hör, Du bedarfst (hast das Bedürfnis) Hindekes zu essen. Nun, da kannst Du ja mit acht Gulden die Woche nicht auskommen. Von nun an bekommst Du zehn Gulden die Woche, und jetzt geh! Eines aber sage ich Dir, mit der Rebbezin fang nicht an!“ (S. 119-120.)
Während der Leser über die Weisheit des Rabbiners zufrieden nickt, schmunzelt er doch sowohl über die überempfindliche Rebbezen als auch über den Rabbiner als „armen Ehemann“, der solchen Beschwerden (wohl nicht nur im Einzelfall) ausgesetzt war.
Auch der Rabbiner aus Liptószentmiklós dient als Beispiel für den Ehemann als Opfer in der Ehe, der stets „schikaniert wird“:
Bald füllte sich das Gotteshaus, nur der Rabbiner fehlte. Wie? Sollte er, der alte „Zaddik“, seiner Zeit vorangeeilt sein, jener Zeit, wo der Rabbiner einer derjenigen ist, die am spätesten zum Gottesdienste kommen? Ach nein! Wie ich mich später überzeugt habe, kam er Freitag regelmäßig zwei Stunden vor Beginn des Sabbats in die Synagoge, damit er – wie er das motivierte – seiner Rebbezen kein Geld mehr zu geben brauche! (S. 131-132.)
Natürlich könnte eine solche Geschichte aus der Frauenperspektive anders erzählt werden, mit einem Mann im Mittelpunkt, der vor seinen Ernährungspflichten flüchtet.
Durch sprachliche Mittel erzeugte Effekte sind neben der Situations- und Charakterkomik eine ebenfalls beliebte Strategie in humoristischen Texten. Die zum komischen Effekt nötige Spannung wurzelt in jenem Widerspruch, der durch Inkongruenzen in Grammatik, Wortschatz und Stil erzeugt wird. Dazu gehört u. a. die Mehrdeutigkeit von Wörtern (und die dadurch offene Deutung), basierend auf der Homophonie, dem gleichen Klang mit unterschiedlicher Form oder auf der Kontamination, die Verschmelzung zweier Lexeme in einem Wort. Auch die Code-Mischung, der Verwendung verschiedener Varietäten (Einzelsprachen, Dialekte oder Stilebenen) in der gleichen Kommunikationssituation führt zur Inkongruenz und spielt eine wichtige Rolle bei der Inszenierung des Konflikts zwischen „korrekter“ und „falscher“ Sprachverwendung. Dadurch wird indirekt ein Bildungs- oder Modernisierungskonflikt zwischen den Protagonisten mitinszeniert.
Zuerst seien einige „Sprachfehler“ als Quellen komischer Effekte zitiert. Schnitzer war, wie bereits erwähnt, begeisterter Vertreter des Deutschen, des korrekten Deutschen, und Liebhaber der deutschen Literatur, womit auch die Hochachtung der Literatursprache gegenüber einherging. Wohl auch deshalb erinnert er sich gern an seine „Rolle“ als Sprachpfleger. Diese Tätigkeit konnte er bereits als junger Jeschiwa-Bocher in Leipnik, ausüben, was ihm nicht nur Sympathie entgegenbrachte:
Am Schabbatmorgen vor 9 Uhr sah ich den Tempeldiener, […] Er rief die Gläubigen in die Synagoge. Das war mir nichts Neues, das geschieht auch in Hunsdorf. Aber während dort der Schames in jedes Fenster kurz und sprachrichtig in Schül (= in die Synagoge) rief – schrie der in Leipnik aus Lebenskräften: „in der Schül”. Das verletzte mein grammatikalisch geschultes Ohr so sehr, dass ich unwillkürlich lauter als ich wollte und sollte, rief: „Auf die Frage ‚wohin‘ – in die Schul”. Der Mann drehte sich um und maß mich vom Kopf bis zum Fuß, was freilich nicht lange dauerte, denn das, was er maß war gar zu klein, und ging gravitätisch weiter. Ich aber folgte ihm um mich zu überzeugen, ob meine Belehrung auf fruchtbaren Boden gefallen. Er blieb unverbesserlich. Unentwegt schrie er weiter „In der Schül”. Ich korrigierte wieder und das ging so eine Weile fort, bis ihm endlich diese unerbetene, beharrliche Korrektur doch zu bunt wurde und der Polizeimann in ihm sich regte. Er griff nach der Stelle, wo sonst sein Degen hing, begnügte sich aber mir zuzurufen: „M’schirst (pack dich!), sog ich Dir!” Ich sah ein, dass dem Mann nicht zu helfen sei und dass ich doch endlich nicht als Sprachreiniger von Hunsdorf nach Leipnik gekommen. (S. 44)
Dialektologen könnten Einwand erheben und auf die vom Hochdeutschen abweichende Verwendung von Dativ und Akkusativ hinweisen, die in bestimmten Kontexten als „normal“, normgerecht, gilt. Doch Schnitzer hatte keine deskriptiven Erläuterungen im Sinne, sondern die durch Sprachfehler erzeugte Situationskomik. Zugleich lacht er über sich selbst und übt im Rückblick humorvolle Selbstkritik als „gescheiterter Sprachreiniger“.
Hochdeutsch war im 19. Jahrhundert, in der Epoche der Nationalstaatbildung und der amtlichen Standardisierung/Vereinheitlichung des Deutschen, eine Herausforderung, nicht nur für Schüler oder Kleinstadtbewohner (noch dazu mit Jiddisch als Muttersprache). Auch angesehene Professoren hatten manchmal ihre Schwierigkeiten, wie Schnitzer aus seiner Zeit in Nikolsburg berichtet. Besonders interessant ist die Geschichte, weil der Protagonist dieser wohl kaum bedeutsamen Affäre der berühmte Historiker und spätere Professor des Breslauer Jüdisch-Theologischen Seminars, Heinrich Grätz (1817-1892) war. Schnitzer erinnert sich wie folgt:
Besonders lehr- und genussreich waren die Vorträge über jüdische Geschichte die Dr. Heinrich Grätz, der spätere berühmte Historiker, zweimal wöchentlich hielt. Er war mit dem Landesrabbiner als Hauslehrer nach Nikolsburg gekommen. Leider hörte ich nur zwei Monate, da er zum Direktor der Schule in Lundenburg gewählt wurde. Interessant ist es, dass dieser Meister des deutschen Stils von dem dortigen Rabbiner M. der mit ihm in Fehde lebte, als Ignorant der deutschen Sprache ausgeschrien wurde. Grätz hatte ihm die Geburt einer Tochter auf einer Karte angezeigt, und dabei ist ihm der Lapsus unterlaufen, seine Frau sei mit (statt von) einer Tochter glücklich entbunden. Der Rabbiner zeigte diese Karte aller Welt als willkommenes corpus delicti. Das hat aber das Kuratorium des Breslauer Rabbinerseminars durchaus nicht abgehalten, ihn – nicht den Rabbiner, sondern Grätz – als Professor zu berufen, und das Kuratorium hat es nicht bereut. (S. 70)
Der Schlusssatz der Geschichte zeigt, wie Schnitzer seinen Bericht über den Angriff gegen Grätz – mit dem er sich solidarisch zeigt – in einen nachträglichen Spott gegen den nicht namentlich genannten übereifrigen Rabbinerkollegen umzuwenden wusste.
Der Einsatz von Wortspielen fiel Schnitzer auch deshalb leicht, weil die Meta-Sprache der Kulturbilder, das Deutsche, zugleich eine der Sprachen der Protagonisten ist. Die Sprachspiele waren für den damaligen Leser sicherlich leicht nachvollziehbar und kommen auch bei heutigen Lesern gut an, wenn die religiösen, historischen, religionspolitischen Hintergründe bekannt sind. Folgende Beispiele der Sprachkomik basieren allesamt auf Homonymien und Homophonien im Kontext des Deutschen bzw. Jiddischen. Die folgende, aus der Traditionsliteratur motivierte „Schriftparabel“ zitiert Schnitzer in Bezug auf eine Rabbinerwahl in Nikolsburg. Die Kandidaten der Geschichte sind Salomon Quetsch, Eleazar Löw, ferner die namentlich nicht genannten Söhne des verstorbenen Rabbiners Mordechai Benet:
Für Feinschmecker und Kenner will ich folgenden trefflichen Witz mittheilen, der damals die Runde machte. Ein guter Kopf hat nämlich herausgefunden, daß diese drei Kandidaten schon in der Hagada stehen: „Gott sah unser Elend“ – das ist der Mangel an Anstand. Kann da ein anderer gemeint sein, als der Pole, der Triescher Rabbi? „Unser schweres Leid“ – das sind die Söhne; „und unser Druck“ – das ist der „Quetsch“. Besonders gefördert wurde durch den Witz die Kandidatur dieser Herren nicht. (S. 45-46.)
Hier entstand die Pointe durch die Homonymie eines Namens (Quetsch) und eines Verbs (quetschen). Über die reine Sprachkomik hinaus sorgt auch die bissige Schilderung des Wettbewerbs zwischen den Rabbinerkandidaten für den komischen Effekt, auch wenn diese Wahl heute in Vergessenheit geraten ist. „Feinschmecker und Kenner“ kann sich höchstens auf die Inhalte der Hagada beziehen und kann so keine Empfindlichkeiten bei den Lesern mehr hervorrufen. Mit Veatch gesprochen: ein Gleichgewicht zwischen +N und +V ist vorhanden, es kann gelacht werden.
Dialektale Merkmale und die parallele Verwendung des Deutschen und Jiddischen führten zu vielen komischen Situationen, wie auch der folgende Fall zeigt, in dem die Inkongruenz durch die Mehrdeutigkeit des Wortes Tier(e) entsteht. Vom ehemaligen Rabbiner von Gyöngyös, Lippman Stein, der „ein gelehrter Talmudist und geistreicher, witziger Kopf“ gewesen sei25 (S. 86.), erzählt Schnitzer folgendes:
Beim Antritte seines Amtes, als er das erste Mal die Synagoge besuchte, fragten ihn die ihn begleitenden Vorstandsmitglieder; Wie gefällt dem Rabbi unsere Schul? „Die Schul ist schön, aber – seid mir mauchel (verzeiht mir) die Tieren (Türen) drin gefallen mir nicht.” Das konnte sich damals ein Rabbiner erlauben, und man belachte den Witz. Heute würde man ihm eine solche Malice gar übel vermerken. (S. 86)
Nicht nur die Sprachkomik sorgt hier für den komischen Effekt, sondern, wie Schnitzer es explizit benennt, die „Malice“ – eine nicht gerade positive Meinung des Rabbiners über die Gemeindeleitung –, die sich hinter einer unschuldigen Mehrdeutigkeit versteckt. Die Gelegenheit zum Spott über die Gemeindeleitung, das Verlachen als symbolischer Sieg über die administrative Obrigkeit ist zeitunabhängig und immer wirksam – bei damaligen wie heutigen Lesern gleichermaßen.
Auch folgende Anekdote aus Gyöngyös, mit demselben Rabbiner Stein als Protagonist, basiert auf dem Wortspiel Moor – Mohr, einer Homonymie.
Rabbiner Stein hatte ein gutes Andenken in Gyöngyös hinterlassen, umsomehr, als er einmal eine von der Gemeinde in Moor an ihn ergangene Berufung zurückgewiesen hatte, freilich in der ihm eigenen witzigen Art, die auch die eigene Gemeinde nicht schonte: „Da kreiße ich schon sieben Jahre in Gyöngyös, und nun soll ich ein Moorl (Mohr) bekommen, da kreiße ich schon lieber hier weiter.“ Daß er der Berufung nach der großen angesehenen Gemeinde in Duna-Szerdahely Folge gegeben, war eher eine Ehre als eine Zurückweisung für Gyöngyös. (S. 87)
Neben lokalgeographischen Kenntnissen (was ist/wo liegt Moor bzw. Mór, auf Ungarisch26) wird hier auch auf die übertragene Verwendung des Wortes Mohr gebaut. Gerade dieses Wort kann heutige politisch korrekte Leser empören. Man denke nur an die „M*Straßen-Debatte“ in Deutschland und an den Konflikt um den Namen und die Umbenennungskampagne der Mohrenstraße in Berlin Mitte. Damit wird es nicht mehr als komisch rezipiert. Mit Veatch zu sprechen: Ein zu starker V-Effekt führt bei mangelndem N-Wert (Gefühl der Normalität in der Situation, in diesem Fall die mangelnde Akzeptanz des Wortes) nicht zum Lachen, sondern höchstens zu Unmut. Doch zu Schnitzers Zeiten war es nur ein Wortspiel.
Das folgende Beispiel für sprachliche Komik, die dialektal gefärbte mündliche Homonymie des Wortes firter (aus Fürther und Vierter) verbindet Familiengeschichte mit jüdischer Regionalgeschichte und baut stark auf das religiöse Hintergrundwissen des Lesers – damals wie heute: die Kenntnis der Pesach-Hagada. Von der Form und vom Stil her ist es eine typische jüdische Anekdote, die Schnitzer oft und gern verwendet. Es geht um den Großvater seines Schwiegervaters, R. Löbisch-Holleschau, der vier Schwiegersöhne hatte.
Der erste und hervorragendste unter ihnen war der in [Liptószent] Miklós 1765 geborene Rabbi Sinai Simandel, unter dem Namen R. Sinai Lamdan bekannt, der eine wahre „Zisterne, die keinen Tropfen Wasser verliert“27 gewesen. Die anderen drei berief er aus Amsterdam, Rußland und Fürth (Bayern), so daß ein Witzbold diese vier Schwiegersöhne mit den vier Söhnen der Hagada verglich und sagte: Der Fürter (Vierte) ist der scheeno jodea lisch’ol [der nicht einmal fragen kann, der dümmste unter den vier Söhnen der Hagada], weil er als schwacher Debatter im talmudischen Disput „Fragen aufzuwerfen“ nicht verstanden hat. (S. 138-139.)
Auch ohne die Protagonisten zu kennen, kann man den intendierten Spott im Allgemeinen gut nachvollziehen, und zwar anhand des komischen, dafür im jüdischen Kontext trefflichen Vergleichs, wenn man die Hagada-Parabel mit den vier Söhnen kennt.
Das folgende Beispiel führt zum Konflikt um die Stellung des Almemors, des Tora-Lesepultes in der Synagoge. Der modernisierende, neologe Standpunkt erlaubte es, den Almemor vor den Tora-Schrein zu verlegen. Der orthodoxe Standpunkt dagegen plädierte für sein Belassen in der Mitte der Synagoge. Schnitzer schildert zwar auch solche Konflikte in den Kulturbildern, legt aber nahe, er selber zähle diese Frage zu den wenig bedeutsamen Aspekten der Synagogenarchitektur, die eine solche polarisierende Debatte, ja eine Spaltung, nicht wert ist. Die Schilderung des „verrückten“ Tora-Lesers basiert ebenfalls auf einer Mehrdeutigkeit, des Ausdrucks „verrückt sein“.
Ein Beispiel für Viele wie weit die Kluft zwischen den Parteien geworden: Im Jahre 1873 ist unser guter Rabbiner Frieden heimgegangen, seine Leiche wurde, wie üblich, in die Synagoge gebracht, wo Trauerreden gehalten wurden, und da standen einige seiner Amts- und Gesinnungsgenossen draußen vor der Türe und wollten die Stätte nicht betreten, auf der der Hingeschiedene ein ganzes Jahrzehnt sein Gebet verrichtet hatte. Dies nur darum, weil der Almemor ‚verrückt‘ geworden! (S. 215.)
Dass Schnitzer bereit ist, selbst diese – aus der Sicht des Gemeindewohls – tragische Angelegenheit mit einem Wortwitz zu veranschaulichen, zeigt seinen Sinn für Humor als Bewältigungsstrategie unlösbarer Konflikte, geht es doch um eines der Anzeichen der fatalen Spaltung des Judentums mit jahrzehntelanger Wirkung.
Die humoristischen Szenen der Kulturbilder dienen oft der Erheiterung der Leser wie die Scherze beim Purimspiel oder die lustigen Familien- bzw. Gemeindeszenen. Doch Humor bedeutet nicht nur die Darstellung lustiger Situationen, sondern er dient auch als Bewältigungsstrategie der Unzulänglichkeiten des Alltags: „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“, wie der Volksmund Humor so treffend definiert. Humor ist eine Strategie, die vor allem den macht- und dadurch hilflosen „kleinen Leuten“ das Elend des Lebens zu ertragen hilft. Auch solche Schilderungen finden wir in den Kulturbildern, handelt es sich doch um Szenen aus dem osteuropäischen jüdischen Leben, in dem sich die jüdischen Protagonisten nur selten in Macht- bzw. Siegerpositionen befanden.
Dass man auch Krankheit humoristisch thematisieren kann, ist ein klares Beispiel für die oben skizzierte Rolle des Humors. Schnitzer erinnert sich an Berl Baß, den bereits vorgestellten Spaßmacher seiner Gemeinde, wie er mit seinem erzwungenen Humor versucht, mit der Krankheit seiner Frau umzugehen:
Dieser Humor verließ Berl Baß auch in den schwersten Stunden nicht. Einmal war seine Frau bedenklich krank, so dass man sogar aus Késmárk, einer drei Kilometer entfernten Stadt, Ärzte holen musste. Die Ärzte untersuchten die Frau und konstatierten eine sogenannte „Moll“ (Inneres Geschwür – im Jargon aber auch Kleidermotte.) Das hörte unser Berl und sagte: „Sie entschuldigen schon meine Herren Doktoren! Ich verstehe von Medizin gar nichts, aber was Sie da sagen, kann nicht sein. Eine Moll kann sie nicht haben“. Verblüfft schauen ihn die Ärzte an. „Warum nicht?“ „Nun, darum nicht, weil ich sie regelmäßig alle 14 Tage ausklopfe.“ (S. 14)
Zugegeben: Es ist die Krankheit anderer, die hier humoristisch verarbeitet wurde. Auch die Schlusspointe, heute als klarer Fall familiärer Gewalt eingestuft, mag bei Betrachtern unserer Tage eher Unbehagen als Lachen hervorrufen. Mit Veatch formuliert: ein zu starkes +V Element ohne begleitendes Normalitätsgefühl (-N) verursacht kein Lachen, eher Unmut.
Dass man beim eigenen Unglück auch über die Dummheit anderer lachen kann – und nicht nur sich empören –, zeigt die schlagfertige Antwort des Gyöngyöser Rebbe, Rabbiner Stein, bei einem unangenehmen (Un-)Fall:
Er war damals nach Pest gereist. Auf der Fahrt dahin stürzte der Wagen und Rabbiner Stein erlitt einen Beinbruch. Er wurde in den nächsten Ort gebracht, es war Dima, und der Rabbiner daselbst machte ihm den Krankenbesuch. Er hatte dabei die Rücksichtslosigkeit, dem greisen, von Schmerzen heimgesuchten Gelehrten gegenüber zu bemerken: „Der Rebbe hat gewiß das T’fillas haderech nicht mit der nötigen Andacht verrichtet.“ „Meint Ihr? Glaubt Ihr denn, daß der Heilige, gelobt sei Er, alle Gebete erhört? Seht, da betet Ihr schon fünfzig Jahre dreimal des Tages zum lieben Gott, daß er Euch Verstand und Einsicht gebe, und Er hat Euch noch nicht erhört.“ (S. 87.)
Die schlagfertige Antwort erzeugt ein solidarisches Lachen mit dem Rebbe Stein und ein begründetes Überlegenheitslachen dem Amtskollegen aus Dima gegenüber. Seine Unterstellung (Ursache des Unfalls sei ein mangelhaft ausgeführtes Gebet) und seine in religiösem Eifer verpackte Rücksichtslosigkeit (bei einem Unfallopfer die Schuld zu suchen) wird als menschliche Dummheit gekonnt mit den eigenen Mitteln („Argumenten“) verspottet.
Humor bzw. humoristische Schlagfertigkeit half immer, kleinere Konflikte des Alltags zu bewältigen. Wie auch dieser Fall bei Schnitzers Vater, dem armen Dorflehrer, der jede auch noch so kleine Vergütung wahrhaft (verbal) erkämpfen musste:
Da kamen regelmäßig Klagen über den ungenügenden Erfolg des Unterrichts, um das Honorar herabzudrücken. Einmal, gelegentlich eines solchen Feilschens von Seiten einer reichen Gutspächterin, führte der Vater eine Talmudstelle ins Treffen, wo es heißt, daß Gott den Eltern, außer dem gewöhnlichen Hausbedarf, für den Unterricht der Kinder ganz besonders beschere, daß also diese Ausgabe der liebe Gott auf sein eigenes Konto schreibe, indem er sagte: „Warum wollen Sie nun, liebe Frau, für den lieben Gott so knauserig sein?“ Sie antwortete: „Sehen Sie, ich muß den Buben auch Französisch unterrichten lassen, und das kostet viel“. Da kam ich naseweiser Junge dem Vater zu Hilfe und sagte: „Jawohl, aber für Französisch beschert Gott nicht extra“. Die Frau lachte und bewilligte das geforderte Honorar. (S. 27.)
Neben dem spürbaren „Culture-Clash“ der Epoche im Hintergrund zwischen traditionellen und modernen Lehrinhalten und Dilemmas (Soll das Kind Französisch oder Talmud lernen?) trägt der pfiffige Einsatz des Kindes zur Pointe bei. Als genuin jüdischer Humor gilt diese Textstelle auch deshalb, weil in der Konfliktsituation mit Zitaten aus der Traditionsliteratur, mit einer Talmudstelle, argumentiert wurde.
Manchmal setzt Schnitzer einen beinahe absurden Humor ein zur Veranschaulichung ebensolcher Situationen – absurd nicht nur aus heutiger Sicht, sondern auch aus einer modernen, aufgeklärten Perspektive seiner Zeit. So eine war die Verlobung junger Menschen, ohne dass sie sich vorher länger (oder überhaupt) kannten und die erste Begegnung der Braut und des Bräutigams zugleich die Verlobungsfeier war. Einmal erinnert sich Schnitzer an die Verlobung eines Verwandten, der seine Verlobte erst bei der Feier kennen lernte und dieses Ereignis gab ihm Anlass zu weiteren Assoziationen und er zitiert eine bekannte Anekdote:
Endlich kamen die Erwarteten. Die Herren vertieften sich sofort in ein talmudisches Thema, das Mittagsmahl war gut, und ein Gott hat Erbarmen! Unser Heiratskandidat gebrauchte nicht einmal die Vorsicht, die der bekannte Rabbi aus Kolomea anwendete, der, als er die Tochter eines Pressburger Talmudisten freien wollte, sich doch wenigstens überzeugte, ob sie lahm sei, indem er zu ihr sagte: „Geh‘ Sie hinauf und geh‘ Sie zurück – so – Maseltow!“ Unser Rabbinats- und Ehekandidat war sofort gefangen und verlobte sich. (S. 29.)
Auch sich selbst schont Schnitzer im Rückblick nicht, er bezieht jedoch die implizite Kritik der „vormodernen“ Zustände mit ein. Denn während der Leser über das Schicksal beider unmündigen, dadurch ziemlich unbeholfen wirkenden Heiratskandidaten schmunzelt, schüttelt man zugleich den Kopf über die Heiratspraktiken. Humor diente als Beruhigungsmittel in einer Situation, auf die man keinen Einfluss nehmen kann. Nachdem Schnitzer sich an seine eigene Verlobung erinnert, die ebenfalls bei der ersten Begegnung mit der zukünftigen Braut – und vor allem ihrer Familie – vollzogen wurde (ohne ihn vorher gefragt zu haben!), schildert er eine bei aller Komik etwas fragliche „individuelle“ Praxis des damaligen Gemeindesekretärs:
Und so wurde ich Bräutigam – fast wider Willen, allenfalls aber ohne meinen Willen, ohne daß ich mit der Braut mehr als einige Worte gesprochen hätte, ja ohne auch nur ihr Alter zu wissen, da ich selbst durch ihr Geburtszeugnis, welches man zur Heiratsbewilligung bedurfte, nicht erfahren konnte. Denn der jüdische Gemeindesekretär, der die Standesregister führte, schrieb, um die oft grausame Wahrheit mit der liebenswürdigsten Galanterie gegen die Damen zu verbinden, in das amtliche Geburtszeugnis jedes Miklóser Mädchens: „Fräulein N. N. hat bereits das neunzehnte Lebensjahr überschritten.“ Vor wie viel Jahren diese „Überschreitung“ bereits stattgefunden hat, hat er wohlweislich verschwiegen. Glückliche Zeit, wo der Matrikelführer so galant sein konnte, ohne mit dem Gesetz in Kollision zu geraten! (S. 136.)
Ein spezieller Fall ist die Komik der „edlen Einfalt“. Schnitzer ruft Reb Bär Mikulasch, Rabbiner von Lipótszentmiklós in Erinnerung:
Ich erinnere mich an eine Rede, die er zu Kaisers Geburtstag hielt. Er sagte wörtlich: „Rebossai! Heute ist der Malchus28 geboren worden, und es steht geschrieben: ‚Bete für das Wohl des Malchus‘. Das haben wir getan.“ Und nun begann er ohne allen Übergang über ein talmudisches Thema zu sprechen und glaubte damit der Feier des Tages am würdigsten entsprochen zu haben. (S. 144)
Die Diskrepanz zwischen der gebotenen Feierlichkeit des Anlasses (Geburtstag des Kaisers) und dem „Erledigen“ der Pflicht durch Rabbiner Mikulasch führt nicht zur Empörung, eher zum solidarischen Mitlachen. Dabei wird die Bewältigungsstrategie frommer Menschen (in diesem Fall frommer Juden) deutlich: die komisch wirkende (Schein-)Gleichgültigkeit und die implizierte Kritik an den unnötigen Formalitäten, die die für das Talmudstudium nötige Zeit rauben.
Eine wichtige Funktion des (Ver-)Lachens ist, die Kritik an Personen, Handlungen oder Zuständen zu formulieren und diese erfolgreich zu kommunizieren. Hier gilt die bekannte Formel „Humor als Waffe“. Diese können durch das Lachen bloßgestellt, entlarvt, kritisiert oder gar mittels Satire bekämpft werden. Schnitzer führt eine Reihe solcher Szenen auf, in denen die kritische Funktion des Lachens und des Lächerlich-Machens dominiert. Eine der problematischen Eigenschaften ist die menschliche Eitelkeit. Diese mit Humor bloßzustellen ist ein beliebtes und wirksames Mittel der Satire. Auch Schnitzer macht davon Gebrauch, wenn er sich an Gestalten seiner Gemeinde erinnert, denen es an Selbstsicherheit nicht mangelte, wie im Falle eines Gast-Vorbeters, dessen Auftritt durch den Einsatz von Berl Baß, dem Spaßmacher der Gemeinde, etwas anders endete als vorgesehen:
Wo es eine Schelmerei aufzuführen galt, da war ihm nichts heilig. Manchmal ward er auch als Bassist in Anspruch genommen, und zwar von Dilettanten-Vorbetern, die als Berufskantoren zu gelten glaubten, wenn sie sich ‚zuhalten‘ (kantoral begleiten) ließen. Und da stand er einmal am Jom Kippur an der Seite eines solchen Vorbeters und – schnitt Grimassen. Die Keduscha, ein lange und sorgfältig eingeübtes Stück – aus welcher Oper die Melodie stammte, ist mir nicht erinnerlich – sollte der Glanzpunkt des Tages sein. Da führte der Kobold den Vorbeter richtig dahin, dass das ‚Kodausch, kodausch, kodausch‘ in die Melodie – der Pinzgauer ausklang, worauf der Schelm, zum Publikum gewendet, schmunzelnd seine schönste Grimasse schnitt. (S. 14-15.)
Die beschriebene Szene gibt Einblick in die Scherzkommunikation der Gemeinde sogar während des Gottesdienstes. Lachen entsteht durch Interaktion der Gruppenmitglieder (in diesem Fall Berl Baß und die Zuschauer/Zuhörer, die Lachenden). Die Funktionen solchen In-group-Lachens sind vielfältig: necken, scherzen, verspotten, je nach Absicht der Teilnehmer und Intensität des ausgelösten Lacheffektes.
Gerade aus der Jugendzeit kann man sich an zahlreiche humoristische Szenen mit Beteiligung von Mitgliedern der gleichen Altersgruppe erinnern. So auch bei Schnitzer, der in der folgenden Szene einen wichtigen, religiösen Brauch, die Totenwache, in Erinnerung ruft. Diese Szene ist zugleich ein Beispiel für die Scherzpraxis in der peer group gekoppelt mit einer speziellen Funktion des Lachens: Auslachen als mahnende Sanktion gegen jene, die gegen die Solidarität zwischen Arm und Reich, verstoßen.
Einmal traf es sich, daß auch ein „reicher“ Bochur, - reich nannten wir den, der „keine Kosttage aß“ – der aber ungemein geizig war, und so, um zu einem Nebeneinkommen zu gelangen, zu einer solchen Totenwache sich herandrängte, zur berechtigten Entrüstung der Armen, die sich in ihrem Erwerbe durch einen Unberufenen verkürzt sahen. Er kam, aß sich satt, trank einige Gläschen, die ihn nichts kosteten und entschlummerte. Da sagte der Eine, ein rechter Schelm, zu seinem Kollegen: „Wart nur, du wirst sehen, der wird uns armen Bocherim keine „Schmiere“29 (Totenwache) mehr wegnehmen.“ Sprach’s und nahm eine Katze, wickelte sie in ein Tuch und legte sie unter das schwarze Bahrtuch, das über der Leiche gebreitet war. Dann weckte er den Schlafenden. „Stehen Sie auf! Das Meß (der Tote) ist lebendig geworden.“30 Der reißt die Augen auf, sieht die Bewegungen unter dem Bahrtuch und mit einem furchtbaren Schrei stürzt er hinaus und alarmiert das ganze Haus: „Das Meß ist lebendig geworden!“ Die Leute liefen herbei, was denn Wahres daran sei, aber mittlerweile war die Katze entfernt worden und die Wächter sagten mit der unschuldigen Miene: „Der Junge war besoffen und ist eingeschlafen, wahrscheinlich hat ihm das geträumt.“ Der aber meldete sich von da ab zu keiner „Schmiere“ mehr. (S. 99-100.)
Die Szene zeigt, wie Lachen als Waffe der – in diesem Fall finanziell – Schwächeren den Stärkeren gegenüber eingesetzt werden und zum symbolischen Sieg verhelfen kann. Die überzeitliche Eigenschaft des solidarischen Lachens mit den Schwächeren und das Überlegenheitslachen über den Stärkeren sichert den Lacheffekt bei Lesern auch Jahrzehnte später.
Auch in der Gemeinde wurden – für die Außenwelt oft unbemerkt – auf verschiedenen Ebenen politische, religionspolitische Machtkämpfe ausgetragen. Zu den öffentlichen Mitteln zählten im 19. Jahrhundert die Streitschriften, auch die publizistischen Auseinandersetzungen in den zahlreichen Zeitschriften der Epoche. Der Ton war von der Vehemenz und der Persönlichkeit des Autors bestimmt, ebenso der Einsatz von Humor – in diesem Fall satirischem Humor – hing vom individuellen Stil des Meinungsgegners ab. In der informellen, mündlich verbreiteten Scherzkommunikation entstanden auch kurze und bissige, sarkastische Sprüche, die den Gegner der Lächerlichkeit preisgeben und somit wirksam kritisieren konnten. Der von Schnitzer so hoch geehrte – und in der deutsch-jüdischen Geistesgeschichte so erfolgreiche – modern-orthodoxe Rabbiner, Samson Raphael Hirsch, war auch Ziel von bissigen Anekdoten. Eine wird auch von Schnitzer berichtet:
Als er [Rabbiner Quetsch] einmal seine Vaterstadt besuchte und ihm, wie üblich, die Abhaltung einer Predigt vom Vorstande angeboten wurde, welchem Ansuchen er auch Folge gab, da absentierte sich der Landesrabbiner, ein Halsleiden vorschützend. Rabbiner Quetsch bemerkte hierauf mit beißendem Sarkasmus: Ein Lamdan (Gelehrter) hat Kopfweh, ein Sänger – Halsweh. Rabbiner Hirsch galt nämlich als vorzüglicher Pianist und guter Sänger. (S. 46.)
Da Schnitzer, wie auch die meisten seiner Leser, mit Hirsch sympathisierte, konnte mit der Anekdote eher ein solidarisches, nicht wie vom Rabbiner Quetsch beabsichtigt, ein Überlegenheitslachen evoziert werden, denn von der Technik her ist die Pointe durchaus gelungen.
Schnitzer war ein traditioneller, aber der Wissenschaft und der weltlichen Kultur gegenüber offener Rabbiner. Dies hat ihn keinesfalls zu radikalen Reformen bewegt, die Hauptbereiche der Halakha ließ er unhinterfragt gelten. Trotzdem gab es religiöse Praxen, denen er kritisch gegenüberstand und die er für sekundär hielt. Dieser Ansicht hat er auch in humoristischen Szenen Ausdruck verliehen, wie in der folgenden Anekdote über den besonders frommen Reb Fischmann, ebenfalls in Gyöngyös:
Er liebte ein zurückgezogenes, asketisches chassidisches Leben. Besonders aber wendete er seine Tätigkeit einer Richtung zu: er erklärte nämlich allen Patentknöpfen den Krieg! Er hatte herausgefunden, daß in diesen Knöpfen Leinen sei, demnach diese auf Schafwollkleidern rituell verboten seien. Wer zu ihm kam, wurde auf Patentknöpfe untersucht, die dann sofort abgeschnitten wurden! Gelegentlich eines Besuches bei seinem Vater, wohin er sein eigenes Kochgeschirr mitnahm, weil er das Haus seines Vaters, des alten Rabbiners, nicht genug koscher fand, kam der Vorstand der Miskolczer Gemeinde, ihn zu begrüßen, und sie gingen alle – ohne Knöpfe weg. (S. 104.)
In der Anekdote wird der religiöse Eiferer bloßgestellt, wobei seine Schlagfertigkeit beim Umgang mit den für ihn unakzeptablen Verhaltensformen, dem Tragen von Patentknöpfen, durchaus für solidarisches Lachen sorgen kann. Auch der namentlich nicht bekannte Vorstand wird als „Opfer des Patentknopfkrieges“ der Lächerlichkeit preisgegeben, denn Schnitzer sparte nie mit Seitenschlägen gegen Gemeindevertreter. Der Krieg gegen Patentknöpfe war für strenge Orthodoxe eine relevante und umkämpfte, für Aufgeklärte eine eher marginale Frage und erinnert an die bereits erwähnte Anekdote mit dem „verrückten Almemor“.
Nicht nur die Gemeindeleitung, auch einfache Mitglieder wurden gern der Lächerlichkeit preisgegeben, wenn sie Gewohnheiten folgten – vor allem im zwischenmenschlichen Bereich – die Schnitzers ethischen Ansichten widersprachen. So ein Thema war der Umgang mit Geld und die Geldspende an den Rabbiner, vor allem wenn die öffentliche Übergabe mit der Absicht verbunden war, die finanzielle Überlegenheit des Spenders zum Ausdruck zu bringen. Schnitzer erinnert sich an eine kommunikative Spannung zu Beginn seiner Karriere, die er durch den Einsatz einer lehrhaften Geschichte humoristisch aufzulösen vermochte. Er wurde just am Tag vor Jom Kippur von einem Gemeindemitglied „einem alten angesehenen Balbos“, wie er formuliert, angesprochen, der ihm „Geld in die Hand stecken“ wollte – direkt in der Synagoge. Schnitzer antwortete mit folgender Anekdote, einem Gespräch zweier Brüder, Schmule und Chajim:
„Sage mir einmal, Schmule, wieso bist Du ein Rebbe geworden? Was braucht man dazu?“ „Was man dazu braucht? Ich werde es dir sagen, Chajim – nichts anderes als die Kunst muß man kennen, Geld zu nehmen und dabei nicht zu lachen. Denn, muß man die Leute nicht auslachen, die da scharenweise kommen und mir für nichts und wieder nichts so viel Geld geben? Dabei aber ernst zu bleiben – das ist die Kunst!“ (S. 193.)
Nach dieser Anekdote wandte sich Schnitzer dem unbequemen Gesprächspartner zu und zog folgenden Schluss:
Nun, sehen Sie, der Rabbiner ist schon dreißig Jahre im Amte und versteht schon die Kunst, ich aber habe diese Kunst noch nicht erlernt – es ist heute das erste Mal – wenn Sie mir das ins Haus schicken, so lache ich Sie zu Hause aus, und Sie sehen es nicht, wenn Sie mir aber persönlich Geld in die Hand geben, so kann es geschehen, daß ich Ihnen ins Gesicht lache – wozu soll Ihnen das?“ Nun lachte er und schickte mir das Geld ins Haus mit der Bitte, ja nicht zu lachen. (S. 193.)
Dass Humor nicht nur bei der Bewältigung alltäglicher Konflikte herangezogen werden kann, sondern auch im politischen Bereich bei der Bekämpfung von Diskriminierung, belegt Schnitzers Beschreibung seiner privaten Aktion, auf die er auch später mächtig stolz war, der Abschaffung jenes beleidigenden Judeneides, des more judaico31. Zuerst schildert er das Phänomen selbst, denn es war wahrscheinlich dem Leser der Jahrhundertwende bereits unbekannt und hebt suggestiv die verletzende, diskriminierende Wirkung der Vorschrift hervor:
Wenn ein Jude einen Eid ablegen sollte, so musste der Rabbiner kommen, um ihn zu admonieren, ihm die Heiligkeit des Eides ans Herz zu legen und ihm die Eidesformel vorzusagen, welche noch Verbőczy im Jahre 1514 formuliert hatte. Das war der Eid more judaico der als gelber Fleck dem Juden bis in die neueste Zeit angeheftet blieb. (S. 188-189.)
Die Eidesformel gibt Schnitzer mit folgenden Worten wieder, sein Entsetzen über diese judenfeindliche Verpflichtung ist, selbst Jahrzehnte später, deutlich spürbar:
„Ich N. N., Jude, schwöre … und wenn ich schuldig bin, so möge die Erde mich verschlingen, wie sie Dathan und Abiram verschlungen hat, und wenn ich schuldig bin, so möge Aussatz mich bedecken, wie er Naaman bedeckt hat“ – und so noch eine ganze Reihe von haarsträubenden Flüchen und Verwünschungen. Als ich diese entsetzliche Formel las, da wollte der Aufschrei eines tiefverwundeten jüdischen Herzens mir über die Lippen. (S. 189.)
Man merkt, dass Schnitzer nicht nur den Humor, sondern auch das Pathos als Stilmittel gekonnt instrumentalisiert. Doch an dieser Stelle der Geschichte greift er, der geschickte Redner, nach dem Mittel der Überraschung und dadurch der Verunsicherung des Gegenübers, der sich noch dazu in der Machtposition befand:
Doch sah ich ein, daß ich kaltes Blut bewahren müsse, und ich wendete mich an die Richter: „Sagen Sie mir, meine Herren, welcher Neumann ist denn da gemeint? Ich kenne hier einen Holzhändler Neumann, einen Kaffeesieder Neumann32, einen Schneider Neumann und dann noch gar viele Neumann – welcher von diesen war es denn?“ Die Herren lachten. „Ja, das können wir Ihnen nicht sagen. (Bibelfest war keiner von ihnen.) „Nun denn, solange ich nicht weiß, welcher Neumann da gemeint ist, kann ich diese Eidesformel nicht vorsagen.“ Der Ungar ist kein Pedant und ist freiheitlichen Ideen zugänglich, und so sagte ich diesmal und von da ab jedesmal jene Eidesformel dem Schwörenden vor, die ich selbst formulierte und die mit der allgemeinen gleichlautend ist. (S. 190.)
Mit diesen Zeilen lässt sich Schnitzer im Rückblick nicht nur als begabter Redner und Retter seines Volkes feiern, sondern versetzt einen spitzen Seitenhieb an die „nicht bibelfesten“ – sprich: ungebildeten – Richter, die Vertreter der Staatsmacht.
Mit Pathos und historischem Selbstbewusstsein erzählt Schnitzer die Fortsetzung der Geschichte, wie er fünf Jahre später den Juden-Eid ganz abgeschafft hat:
Es sollte ein dem Komitate gehöriges Grundstück samt Holzbauten vom Ärar behufs Erweiterung des Festungsrayons erworben werden und zur Abschätzung des Wertes wurden mehrere Sachverständige eingeladen, darunter auch ein Jude und zwar der Chef der ersten Bauholzhandlung in Budapest, Karl Neuschloß. Die Sachverständigen christlicher Konfession wurden vom Vizegespan Paul v. Ordódy, dem späteren Ackerbauminister, beeidet, an Neuschloß aber sollte ich mit der Bibel in der Hand herantreten, um ihm den Eid abzunehmen. Da erfasste mich der ganze Jammer schimpflicher Zurücksetzung, die seit Jahrtausenden uns Juden das Brandmal aufdrückt, und mit vor Aufregung bebenden Lippen sprach ich zur Versammlung: „Meine Herren! Ich habe noch nie die Demütigung und Zurücksetzung meiner Konfession so schmerzlich empfunden, als jetzt. Sehen Sie, die Herren alle haben den Eid abgelegt, ohne daß ihr Geistlicher an ihrer Seite gestanden wäre – und den Mann, dem Sie Ihr volles Vertrauen zugewendet haben, halten Sie für minderwertig und setzen voraus, daß er nur dann wahr schwöre, wenn sein Seelsorger neben ihm steht? Haben wir nicht alle einen Gott? Nun denn, Herr Vizegespan! Bei diesem einen Gotte beeiden Sie Herrn Neuschloß, und ich bin überzeugt, daß er auch allein und ohne meine Admonition durchdrungen sein wird von der Heiligkeit des Eides.“ Brausende Éljen-33 und Bravo-Rufe folgten meinen Worten, welche nachhaltigen Erfolg hatten. (S. 190-191)
Es gibt Zustände, die humoristisch betrachtet werden können, aber letzten Endes doch zu verändern sind. Dazu gehörten im 19. Jahrhundert – auch in jüdischen Kontexten – soziale Ungleichheit, Unterentwicklung, mangelnde (Aus-)Bildung und ihre Konsequenzen. Besonders betroffen waren die Komitate im Nordosten Ungarns (heute die Karpatho-Ukraine und in Rumänien Nordsiebenbürgen) deren Bevölkerung in großer Armut lebte. Viele dieser Gemeinden waren chassidisch geprägt. Der Chassidismus war in Ungarn eine, vor allem im Osten und Nordosten des Landes, regional bedeutende Strömung. In den Städten, in denen Schnitzer sich aufhielt und Chassiden begegnete, waren diese Gruppen eine Minderheit. Es gab chassidische Bethäuser, prägnante einflussreiche Persönlichkeiten, verschiedene „Typen“ von Anhängern, die bzw. deren Verhalten Schnitzers Aufmerksamkeit auf sich zogen. Natürlich waren ihm die Geschichten chassidischer Persönlichkeiten auch außerhalb des Landes, z. B Galizien, bekannt. Da Schnitzer „im Herzen“ ein moderner Orthodoxer war, lehnte er religiös motivierten Aberglauben und eine Reihe von chassidischen Praxen im Gottesdienst und Alltag strikt ab.
Die Vertreter dieser armen, aber traditionstreuen Gruppen wurden im deutschsprachigen Diskurs als „Ostjuden“ stereotypisiert und meistens negativ dargestellt. Die Attitüden in den literarischen wie journalistischen Repräsentationen reichten von Mitleid bis zur Idealisierung, von Ablehnung und Selbstabgrenzung bis Interesse und Stilisierung als Quelle der geistigen Erneuerung. Schnitzer als Rabbiner mit orthodoxem Hintergrund war ihnen gegenüber skeptisch und kritisch, aber nicht feindlich eingestellt. Er würdigte sie nicht herab, aber er idealisierte sie auch nicht. Er missbilligte oft ihre Ansichten, sozialen Verhältnisse, ihre Verhaltensformen und religiösen Praxen. Eine dieser Praxen ist die chassidisch geprägte Liturgie, die bei Schnitzer keinen Gefallen fand. Bekanntlich ist der intensive Emotionsausdruck mit Gesang, Bewegung und Tanz ein wichtiges Merkmal der chassidischen Religionsausübung, des Gebetes, des chassidischen Gottesdienstes insgesamt. Dies kann bei Betrachtern, die Gottesdienst mit Andacht und Erhabenheit assoziieren, durchaus Befremden auslösen. Nicht anders erging es Schnitzer, der über einen Synagogenbesuch bei den Chassiden wie folgt berichtet:
Am Sabbat ging ich zum Gottesdienst in die Klaus. Was war das für ein Hexensabbat! Während der Rabbi ruhig, mit allem Anstand seine Andacht verrichtete, machten die Andern einen ohrenreizenden Lärm, einer überschrie den anderen, und sie sprangen und liefen umher, so dass ich glaubte, unter tanzenden Derwischen zu sein. Besondern einer hatte die Kunst erlernt, mit beiden Füßen zugleich aus den Pantoffeln zu springen und wieder in dieselben hineinzuspringen. Und das nennen Sie Gebet! (S. 158.)
Zugegeben, heute würde niemand (auch kein kritischer Betrachter) einen chassidischen Gottesdienst als Hexensabbat bezeichnen. Nicht nur der politischen Korrektheit wegen, sondern weil die einzelnen Denominationen trotz ihrer Unterschiede immer mehr bereit sind, in der Religionsausübung voneinander zu lernen: Die Melodien, die Gebete begleitenden Bewegungen und andere Rituale sowie Emotionsausdrücke werden nicht mehr verpönt.
Nicht nur „ästhetische Meinungsunterschiede“ wollte Schnitzer mit seinen Schilderungen kommunizieren, sondern auch eine erbauende Kritik im Dienste eines sozial und wirtschaftlich entwickelten, prosperierenden Judentums ohne schmerzhafte Missstände. Die Pointen und zugespitzten Formulierungen dienten vor allem dazu, die Situationen treffend zu beschreiben und die Aufmerksamkeit der Leser den Problemen gegenüber zu wecken. Wie bei der folgenden Begegnung mit zwei Jeschiwa-Schülern aus Nordostungarn. Schnitzer ist bereits ein angesehener Gemeinderabbiner.
Im vorigen Jahr34, vor Jom Kippur, kamen zwei erwachsene Talmudjünger aus Marmaros, welches Komitat das größte Kontingent von ihnen stellt. Ich fragte sie: „Wer war der erste Melech (König) in Israel?“ „Schlome melech“ (König Salomon) war die Antwort, die ich erwartet hatte. Um sie auf König Saul hinzuführen, sprach ich von Samuel und fragte sie: „Wie hieß der Vater des Propheten Samuel?“ Das wussten sie nicht. „Aber Ihr habt doch erst vorige Woche am ersten Neujahrstage in der Haftara von Elkana gelesen?“ „In dem sind wir nicht verkennt.“ (Von dem haben wir Kenntnis). (S. 96.)
Die Kritik über die Unwissenheit wird gerade dadurch verstärkt, dass sich die „Prüfungsfragen“ auf religiöses, nicht auf ihr sowieso nicht vorhandenes weltliches Wissen bezogen, doch selbst in diesem Bereich wurden Wissenslücken der Bochurim offenkundig. Auch das kreative Wortspiel mit dem hebräischen Wort Mackos (Makkot: Schläge, Plagen) macht die Begegnung mit einem weiteren Bocher kaum lustig. Die Szene wirkt eher traurig und lehrreich, für den Witz sorgt höchstens seine Unhöflichkeit:
Soeben, während ich diese Zeilen niederschreibe – Ende Februar 1904 – tritt ein junger Mann bei mir ein, ohne anzuklopfen und ohne zu grüßen. Daran erkannte ich, daß er ein Bochur sei. Er hatte auch in Marmaros, und zwar in B. „gelernt“. Auf meine Frage, was er gelernt habe, nannte er mir einige bekannte talmudische Abhandlung, die im Traktate Kiduschin (Fol. 41-43) sich findet. Auf’s Gerathewohl fragte ich ihn, in welchem Traktate diese Abhandlung stehe. „In Mackos“, war seine Antwort. „Das sehe ich wohl“, bemerkte ich ihm, „dass Sie Mackos (Wunden – schlecht) gelernt haben.“ (S. 96.)
Humor muss allerdings nicht immer der Kritik dienen, manchmal will er einfach nur erheitern. So auch der Bericht über den Besuch von Erzherzog Johann Salvator im Jahre 1879.
Ich kann den ganzen Inhalt unseres Gespräches nicht wiedergeben – wir sprachen aber über Religion im Allgemeinen und die einzelnen Religionen im Besonderen, daher auch über das Alte und Neue Testament. Und da machte ich die Bemerkung: „Kaiserliche Hoheit! Das Dienstreglement ist gegen das Evangelium.“ „Wieso denn?“ „Im Neuen Testament steht geschrieben: Wenn man Dich auf die eine Wange schlägt, so halte die andere Wange hin – darf das ein Offizier?“ Er lachte. „Da haben Sie wirklich recht, das darf ein Offizier nicht. Das Dienstreglement ist wirklich gegen das Evangelium.“ (S. 217.)
Dieses Moment ist wichtig, weil Schnitzer, der treue, emanzipierte Bürger, darin sowohl seine Hochachtung der Dynastie gegenüber zum Ausdruck bringt als auch die Gleichberechtigung beider Parteien (eines Rabbiners und des Erzherzogs) nahelegt, bei der jeder das Recht hat, Lachen zu initiieren, wie es in diesem Falle der Rabbiner auch tut.35
Armin Schnitzer war durchaus ein Mensch mit Humor und wusste ihn auch in seiner rabbinischen Praxis einzusetzen. Dies bezeugen zahlreiche Erinnerungen – sowohl die Memoiren seines Sohnes Jakab Schnitzer36 als auch Jahrzehnte später die Erinnerungen seines ehemaligen Schülers Ödön Kertész. Diese Anekdote, die nicht mehr aus den Kulturbildern stammt, sei noch zum Schluss zitiert:
Als Schüler in Komárom erhielt ich im Arbeitszimmer von Oberrabbiner Schnitzer Religionsunterricht. An einem Morgen gingen die Beter nach dem Sacharit [Morgengebet] unter seiner Leitung hinaus, schauten hoch zum Himmel und fingen an zu beten. Kantor Kurzmann rezitierte einen Psalm. Später habe ich erfahren, dass ein alle 85 Jahre wiederkehrendes, auch von unseren alten Weisen erwähntes astronomisches Phänomen diesen Freilichtgottesdienst ausgelöst hat. Trotz frühen Morgens sahen wir etwas, das einem Stern ähnlich war, vielleicht einen Meteorit, der noch am Himmel weilte. Nach dem Gesang des Kantors ging ein Besserwisser zum Rabbiner und sagte: „Hochwürdiger! Bei einem solchen Anlass wäre auch eine Predigt erwünscht.“ Der Oberrabbiner antwortete: „Sie haben Recht. Nächstes Mal werde ich auch predigen.“37
Seinen „legendären“ Humor konnte Schnitzer auch in seinen Memoiren zur Geltung bringen. Die Jüdischen Kulturbilder formen einen durch und durch humoristischen Text voller Situationen und Schilderungen, die die Leser zum Lachen bringen – damals wie heute. Neben der Situationskomik und der Charakterkomik einzelner Protagonisten gehören verschiedene Formen der sprachlichen Komik zu den zentralen Mitteln der Erzeugung humoristischer Effekte. Realisiert wurden sie durch (normbedingte) Sprachfehler, Wortspiele, Homonymien und Mehrdeutigkeiten, wobei auch die Interferenz von Jiddisch und (Standard-)Deutsch eine Rolle spielte. Neben Belustigung der Leser gehört vor allem die Charakter- und die Sozialkritik, auch innerjüdischer Zustände, zu den Hauptfunktionen des Humors der Kulturbilder. Eine Reihe von Beispielen bezeugen seine manchmal unterschätzte, dabei so zentrale Funktion, die Unzulänglichkeiten des Alltags zu bewältigen. Durch den gekonnten Einsatz von Humor und Pathos profilierte sich Schnitzer auch als Autor und Stilist, und suggerierte bei seinem historischen Rückblick ein „Happy End“ im kollektiven Schicksal der Juden in Ungarn – eine Ansicht, die 1904 als berechtigt erschien, auch wenn diese Gemeinden (auch seine in Komárom) nur Jahrzehnte nach Schnitzers Tod im Holocaust vernichtet wurden.
War der Humor der Kulturbilder nun „jüdischer Humor“38? Die Antwort hängt unter anderem davon ab, ob wir unter dem Begriff humoristische Texte von, für oder über Juden verstehen und den Akzent auf Produzent, Rezipient oder Inhalt setzen. Rabbiner Schnitzer erfüllt die erste Voraussetzung als Autor, auch die inhaltsbezogene Definition wäre gerechtfertigt: Es sind Szenen aus dem jüdischen Alltag sowie jüdische Protagonisten humoristisch abgebildet, die ihre Probleme und Konflikte ebenfalls mit Humor bewältigen. Und jüdischer Humor (als Humor von Juden) diente nun mal – als Gemütszustand und Weltanschauung – zur Bewältigung der Herausforderungen der nicht immer judenfreundlich gesinnten Welt, in der die Juden zu leben hatten. Schnitzers Memoiren sind erheiternde Lektüre und kulturhistorische Quelle zugleich, und verdienen es, wiederentdeckt und gelesen zu werden.39
Über Autobiographien als historische Quellen siehe u. a. Günther 2001, Depkat/Pyta 2017.⬑
Zu deutsch-jüdischen Autobiographien s. Schulte 1998, Varga 2003 und Malo 2015. Als „klassische“ jüdische Autobiographie gelten Die Memoiren der Glückel von Hameln, s. Kaufmann (Hg.) 1896. Einige jüdische Memoiren aus Schnitzers Zeit: Wengeroff 1908, Berliner 1913 und Blach 1924.⬑
Zur Geschichte der Neologie in Ungarn s. Turán/Wilke 2016 und Vajda 2014.⬑
Armin Schnitzer: Jüdische Kulturbilder. Aus meinem Leben. Wien 1904. Sämtliche Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Ausgabe, die Originalrechtschreibung wurde beibehalten. 2015 veröffentlichte die Jüdische Gemeinde in Komárno eine ungarische und eine slowakische Übersetzung des Textes: Schnitzer 2015.⬑
Schnitzers Rolle und Selbstdarstellung als „moderner Rabbiner – Rabbiner der Moderne” bzw. sein Verhältnis zum Chassidismus thematisiert Riszovannij 2018.⬑
Zu seiner Biographie s. Ujvári 1929, S. 774; Szinnyei 1908 und Schweitzer 2015. Zahlreiche Details zu Schnitzers Leben und Schaffen bedürfen weiterer Nachforschungen.⬑
Zu Salomon Quetsch (1798–1856) s. Brocke/Carlebach 2004 Bd. I. S. 726. Zur Geschichte der Juden in Mähren s. Miller 2011.⬑
Zur modernen Orthodoxie s. Breuer 1986; Katz 1986; zu Samson Raphael Hirsch s. Tasch 2011; Brocke/Carlebach 2004 Bd. I. S. 439.⬑
Zur jüdischen Sozialgeschichte im 19. Jh. in Ungarn s. Katz 1986, Ben-David 1997.⬑
Zum Jüdischen Kongress 1868/69 s. Turán 2020 und weitere Artikel in dieser thematischen Ausgabe der Zeitschrift Jewish Culture and History 21/3 (2020); zur Spaltung und ihre Folgen in Ungarn (und in Deutschland) s. Katz 1995.⬑
Schweitzer 2015, S. 11.⬑
Schweitzer 1983; Riszovannij 2017.⬑
Aus der Feder seines Amtskollegen Ede Neumann, zitiert in Bernstein 1931, S. 28.⬑
Mit „Almemor-Frage“ bzw. „Almemor-Streit“ werden im 19. Jahrhundert in Zentraleuropa die heftigen Debatten über die Stellung des Almemors, des Pultes für die Tora-Vorlesung (auch Bima genannt) in der Synagoge bezeichnet. Progressive Gemeinden (und dazu zählten in dieser Hinsicht auch die neologen Gemeinden in Ungarn) haben es erlaubt, den Almemor im vorderen Bereich der Synagoge, direkt vor dem Heiligen Schrein zu platzieren. Diese Praxis löste Unbehagen und Ablehnung bei den orthodoxen Gemeinden aus, die darauf bestanden, den Almemor in der Synagogenmitte zu behalten. Vgl. Jüdisches Lexikon Bd. I. Sp. 232–233.⬑
Neuere Zusammenfassungen dieser Theorien s. Attardo 1994, Attardo 2017 mit weiterführender Literatur.⬑
Veatch 1998: 163ff.⬑
Veatch 1998: 177.⬑
Fietz 1996: 19–20.⬑
Auch in der Klassifizierung von Fietz existiert ein Typ C, der jedoch nichts mit dem Verhältnis des Lachenden oder den Normen zu tun hat.⬑
Schnitzer will damit darauf hinweisen, dass Purim als Feiertag nicht aus einem Gebot der Tora abgeleitet und nicht mit entsprechenden Arbeitsverboten belegt ist. Es besteht auch keine Pflicht, Feiertagsbekleidung zu tragen.⬑
Zu den karnevalesken Zügen der Lachkultur siehe Bachtin 1985, Bachtin 1995.⬑
Friedrich Schiller: Die Kindsmörderin (1782). http://www.balladen.de/web/sites/balladen_gedichte/autoren.php?b05=20&b16=204 Zugriff am 4.10.2021.⬑
Eine Anspielung auf Gen 25,27.⬑
Die von Schnitzer zitierten Anekdoten bzw. ihre Pointen können für einige LeserInnen, gerade heute, aus einer vollkommen anderen Perspektive gelesen, als frauenfeindlich erscheinen, waren aber keinesfalls als solche intendiert. Auch diese Anekdoten(typen) waren damals legitimer Bestandteil der einstigen jüdischen Lachkultur und können aus der Analyse nicht weggelassen werden.⬑
Später wurde er von Gyöngyös aus nach Dunaszerdahely (heute Dunajska Sreda, Slowakei), berufen. Sein Schwiegersohn war in Gyöngyös Rabbiner bei der Ankunft des jungen Schnitzers.⬑
Eine ungarische Kleinstadt in Transdanubien.⬑
Zitat aus Mischna Avot 2,8.⬑
wörtlich „die Herrschaft” (מלכות), verwendet im Sinne von „die Herrschaftsinstanz”, in diesem Kontext der Kaiser.⬑
hebr.: שמירה, Wache, hier: Totenwache.⬑
Aschkenasische Aussprache von (Ha)Met, der Tote (Hebräisch).⬑
Der Judeneid, diese ritualisierte Diskriminierung der Juden vor Gericht, war ein dunkles Kapitel der europäischen Rechtsgeschichte und wurde mit Recht scharf kritisiert. In der Fachliteratur wird das Phänomen oft diskutiert. Bereits die „Klassiker“ der Wissenschaft des Judentums (Ludwig Geiger, Zacharias Frankel, Leopold Zunz) widmeten sich dem Thema. Eine umfassende Darstellung aus der Emanzipationszeit ist Löw 1868. Zu späteren Darstellungen des Themas s. Kisch 1978; Zimmermann 1973 sowie als Überblick die Lexikoneinträge Deutsch 1906 und Mutius 2003.⬑
Anspielung auf die biblische Geschichte über den aramäischen Feldhauptmann Naaman (in 2 Kön 5) und zugleich Wortspiel mit dem (unter Juden nicht unbekannten) Familiennamen Neumann.⬑
Ungarisch: „Es lebe!“⬑
Es geht also um das Jahr 1903, die Kulturbilder wurden 1904 veröffentlicht.⬑
Bei der Beschreibung asymmetrischer Lachkulturen, etwa am hierarchisierten Arbeitsplatz, wird darauf hingewiesen, dass das Recht, Lachen zu initiieren dem Vorgesetzten oder einer in der Hierarchie höherstehenden Person vorbehalten ist, vgl. Kotthoff 1996.⬑
Schweitzer 2015, S. 12.⬑
Új Élet [Neues Leben] 1965/6, S. 2. (Übersetzt vom Autor)⬑
Die Fragen nach dem und die Ansätze zum „Wesen“ von jüdischem Humor gehören weiterhin zu den Grunddebatten jüdischer Kulturgeschichte. „Jüdischen Humor“ zu definieren und umfassende Kriterien für seine Bestimmung zu liefern ist nicht das Thema des vorliegenden Textes, es werden lediglich einige Aspekte genannt (Humor von, über und bei Bedarf für Juden, Humor als Bewältigungsstrategie), die bei der Behandlung des Humors von Schnitzer hilfreich sein können.⬑
Einige Beispiele der Schnitzer-Rezeption: Wilke 2003 zitiert reichlich aus den Kulturbildern bei der Schilderung des Lebens junger Rabbinerkandidaten im 19. Jh. Fenyves 2010 ordnet Schnitzer als Vertreter der zweiten (erfolgreichen) Generation jüdischer Assimilation/Akkulturation ein und schildert seine Aktivitäten bei der Magyarisierung. Nemes 2016 beschreibt Schnitzer exemplarisch als einen von acht Typen des ungarischen Landlebens („der Rabbiner”) und bietet dabei eine detaillierte englischsprachige Nacherzählung der Kulturbilder.⬑
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