The dialogic structure in Benyoëtz’s aphorism and specifically the conspicuous dominance of the “Du” has already been illuminated several times in the context of letters and quotations. The essay sheds light on it as a specific feature of his work. On the one hand, it establishes the connection with the history of the genre of aphorism, where quotation and thou-aphorism are deeply rooted. On the other hand, it combines this structure with syntactic and grammatical observations. For quotations, the aspects of remembrance and visualization are identified as their main functions – from the perspective of both the quoted and the quoter. For the thou-aphorism, the essay provides an elaboration on moral as well as religious authority, on the author-reader relationship, on soliloquy and on a visionary “thou”. Examples of the determining grammatical structures (imperative, negation, conditional clause) are presented and analyzed.
Der Aspekt des Dialoges im Werk von Elazar Benyoëtz ist von verschiedenen Seiten her schon erörtert worden. Explizit „Zum Begriff ‚Dialog‘“ hat sich Christoph Grubitz in der Einleitung zu einem Aufsatz über „Deutsche und Juden, Juden in Deutschland“ geäußert, insbesondere über die „Lektüre als Dialog“ und den Brief als „Bewährungsprobe des Dialogs“: „Im Brief bekommt der Dialog eine Physiognomie“,1 allerdings mit einem skeptischen Akzent. Neben dem Brief ist es vor allem das Zitat, das in diesem Zusammenhang herangezogen wurde, vor allem von Werner Helmich in seinem „Tauchgang in die neuere Poetik von Elazar Benyoëtz“2 sowie in dem Band „Zitat und Zeugenschaft“ von 2017. Dem Motto als Sonderform des Zitats wie auch der Widmung kommt dabei eine besondere Rolle zu. Die Glosse – auch sie findet sich ja bei Benyoëtz – macht das Dialogische explizit. Es wird darüber hinaus auch in der Lesung, die der Autor geradezu zu einer neuen Gattung erhoben sehen will, virulent. Im Einzelnen findet es sich besonders ausgeprägt in dem Band „Olivenbäume“ von 2012. Im erweiterten Sinne schließt das Dialogische auch das produktive Selbstgespräch ein, das den Autor seit 2001 (Aw) zu Neufassungen älterer Bücher bringt.
Und vor allem wirkt es sich in den Aphorismen in der zweiten Person Singular aus, die ein bestimmendes Element überhaupt sind. Auch diese auffällige Dominanz des „Du“ in Benyoëtz’ Aphoristik ist nicht unbeobachtet geblieben. Grubitz hat sie mehrfach gestreift. Auch in meiner Einführung zur Lesung des Autors vor der Lichtenberg-Gesellschaft 2006 habe ich sie entsprechend herausgehoben:
Die Dominanz des ‚Du‘ bezeugt den Einfluss des dialogischen Denkens von Martin Buber und hinter Buber zurück auf Ferdinand Ebner, dem Wiener Religionsphilosophen und Aphoristiker. Der Einfluss Ebners wirkt sich nicht nur im Sprechgestus des Aphorismus aus, sondern auch in Brief und Spruch.3
Schon damals war auch die „innovative Veränderung“ und funktionale Neubestimmung des Zitats innerhalb der Textstruktur erkennbar. Meine Feststellung gilt nach wie vor: „Erste Verbindungslinien sind gezogen, ohne dass die Dialogizität bei Benyoëtz überhaupt schon hinreichend geklärt wäre.“4 Das wird wohl auch in diesem kurzen Essay nicht gelingen, aber es soll hier doch, vornehmlich mit Blick auf die frühe und mittlere Phase bis ca. 2004, der Versuch einer Zusammenschau unternommen werden, in der Hoffnung, die dialogische Struktur des Werkes in einem weiteren Zwischenschritt zu verdeutlichen und hier und da Verbindungen aufzuzeigen, die das Werk in dieser Beziehung in die Tradition der Gattung einbetten und übersteigen: Prolegomena zu dem, was Helmich nicht von ungefähr die „Poetik“ des Autors nennt.
Zum Brief, der seit 1990 (TS) neben dem Zitat das entscheidende neue Element in Benyoëtz’ Büchern bildet, kann ich es bei einem Verweis belassen. In meinem Aufsatz zu „Epistolographie und Aphoristik bei Elazar Benyoëtz“5 gehe ich schon auf „die gemeinsame Mitte von Brief, Zitat und Aphorismus“ ein und skizziere, der Anregung des Autors folgend, die Berührungspunkte zwischen Brief und Aphorismus in der Gattungsgeschichte, von Johann Caspar Lavater über Rahel Varnhagen bis Ernst Jünger, immer unter der vorgegebenen Prämisse: das gerichtete Wort.
Beim Zitat im Besonderen zeigt sich Benyoëtz als Philologe seiner selbst, ein gattungsreflexiver Autor, der die Funktion des Zitats in seinem Werk unzählige Male aphoristisch umkreist. In den „Korrespondenzen“ haben Helmich6 und ich7 die Zitate zum Zitat schon zum Teil gesammelt und ausgewertet.8 „Eine Poetik des Zitats“,9 wie sie Helmich bezogen auf den Abschnitt „Namen und Ausnahmen, Anmerkungen, Bücher, Credos“ in dem Band „Die Eselin Bileams und Kohelets Hund“ (BK 159–165) verwirklicht sieht, ist dezidierter schon in „Die Zukunft sitzt uns im Nacken“ vorgebildet. Ich greife nur dieses aphoristische Cluster heraus: „Zitate – Lautstärker“ (ZN 123–128; in der Neuausgabe unter dem Titel „Zitate – Lautverstärker“ erweitert; ZN2 169–180), in dem der Autor die Gesichtspunkte auf poetische Weise anspricht, die ich im Weiteren diskursiv erörtern möchte, indem ich die Vielfalt der Funktionen des Benyoëtz’schen Zitats entfalte.
Zuvor sind in diesem Zusammenhang aber mehrere spezifische Aspekte festzuhalten. Es fehlt der einleitende Bezugstext, der explizit den Rahmen vorgibt, in den das Fremde gestellt wird, sei es affirmativ („In gleicher Absicht führt X aus:“), sei es in besonderer Weise autoritätsbezogen („Schon X hat in seiner wegweisenden Studie die These vertreten:“), sei es illustrativ („Dazu führt auch X ein Beispiel an:“) oder kritisch-polemisch („Ein weiterer Beleg dafür, dass die Meinung von X schwerlich zu halten ist:“). Da die referenziellen Bezüge zwischen Bezugstext und Aufnahmetext entfallen, von denen in der theoretischen Literatur zum Zitat gelegentlich die Rede ist, ist es umso wichtiger, den jeweiligen Stellenwert zu bestimmen, den das Zitat in der Collage des Autors gewinnt. Indirekte Relationen lösen die direkten ab, der Bezugstext verändert sich zum Bezugsfeld. Besonders wichtig scheint es mir, in einem Punkt auf die Etymologie zurückzugreifen. Wer zitiert wird, wird angerufen und tritt in Erscheinung. Es ist bei diesem Autor nicht das vorliegende Stück Literatur, es ist nicht das Exzerpt, das ‚herbeizitiert‘ wird, es ist der Autor, der angerufen wird und in seinem Zitat in Erscheinung tritt: „Man zitiert nicht das Buch, sondern seinen Autor. Darum kann man die Bibel nicht zitieren.“ (V 125) Hervorzuheben ist schließlich, auf welche Aufnahmetexte Benyoëtz für seine Bezugsnetze oder -felder zurückgreift. Eine intertextuell orientierte Untersuchung fände ein ebenso breites wie lohnendes Untersuchungsgebiet, das hier nur summarisch angedeutet werden kann. Bevorzugt werden neben den Kernbereichen der (deutschen) Literatur und Philosophie sowie der jüdischen Theologie und hebräischen Literatur die Weltreligionen und die Weltliteratur in einer Spanne von Christina von Schweden und Kenko bis zu D. H. Lawrence und Aldous Huxley, insbesondere natürlich die Gesamtheit der jüdisch-deutschen Traditionen. Es sind ganz eigene Wege, die er für seinen „Ausdruck“ sucht: „Erst im Zitat komme ich zum Ausdruck“ (Im [33]). Entlegenes gibt es für ihn eigentlich nicht.
In besonderer Weise prägt sich das Dialogische im Bereich des Zitates dort aus, wo dieses als positives wie negatives Mahnmal kommentiert wird. Das Zitat dient dort als Ausgangspunkt für Weiterarbeit wie als Abschluss, wo etwa eigene Texte von Mombert- und Valéry-Zitaten eingerahmt und zu einem Ganzen verwoben werden (Br 46). Die Sonderform dessen ist der explizite Dialog mit Werner Kraft, den Benyoëtz 1992 publiziert hat (Fi 77–78), „In Jerusalem geschrieben und von WK (Werner Kraft) glossiert.“ Da kommt es zu einem Gedankenaustausch, der den ersten Partner weiterführt und befruchtend wirken kann: „Nicht nur das Wort, auch der Sinn hat einen Klang. WK: gehört in eine neue Äshetik!“10
Zwei Beispiele zum Bezugsfeld aus dem Band „Filigranit“, mit dem Benyoëtz nach „Treffpunkt Scheideweg“ diese neue Form seiner Aphorismenbücher begründet: Auf den Seiten 19 und 20 findet sich dort eine Komposition aus eigenen Aphorismen im Umfeld zweier Zitate, eins von der mexikanischen Nonne und Dichterin Juana Inés de la Cruz aus dem 17. Jahrhundert, in dem es heißt: „ich will […] mit beiden Händen beide Augen halten / und nichts, als was ich so begreife, sehen“, eines von Erich Fried: „Man fühlte uns ins Gesicht / man fragte: ‚Was habt ihr begriffen?‘ / ‚Wir haben gesehen / wir waren im Lande der Augen.‘“ Die Leserin oder der Leser ist nun gehalten, das Assoziationsfeld, in das diese beiden Zitate eingebettet sind, aufzudecken und produktiv zu entfalten:
Leibhaft vor Augen: ein Bild der Sehnsucht
Die Dinge liegen im Augenschein
[…]
Im Zustand der Entrückung erhebt sich das Naheliegende und tritt uns vor Augen
Es ist dabei nicht der semantische Bereich allein, das Visuelle und Visionäre, der ‚gelesen‘ werden muss, es ist insbesondere das metaphorische Feld, das hier in eine Beziehung zwischen Fremdem und Eigenem gesetzt wird: das ‚Handgreifliche‘ bei Juana Inés de la Cruz und das Haptische bei Fried einerseits (Fühlen, auch Be-greifen), das ‚Leibhafte‘ und Personifizierte (erheben, vor Augen treten) andererseits. Über die Frage, welche „Dinge“ denn nun wirklich „im Augenschein“ liegen, wird Sinn evoziert; Leser und Leserin sind gehalten, sich dabei in der Spannung von ‚Entrücktem‘ und ‚Naheliegendem‘ zu positionieren.
Aus den Briefen Alexander von Villers’, den Benyoëtz mehrfach für den Zusammenhang von Brief und Aphorismus reklamiert, zitiert er: „Sprache ist kein Pinsel. Sie ist lebendig da. Im Munde, in der Feder, aus denen sie fließt, und im Ohr, durch das Auge, wo sie hingeht, wird sie Fleisch von unserm Fleisch und Blut von unserm Blut“ (Fi 71). Dem gehen Verse voraus über „die Sprache, die mich ausgibt, / als wäre ich selbst ein Wort“, es folgen Aphorismen zu Sprache, zu Satz und Wort, genauer: zur „Physiognomie des Satzes“, zur „Magie des Wortes“, die den Kerngedanken der Lebendigkeit der Sprache, wie ihn Villers extrem metaphorisiert („Fleisch von unserm Fleisch und Blut von unserm Blut“), vielfach variieren. Dieses Miteinander, diese wechselseitige Erhellung, ist wohl auch gemeint, wenn Helmich schreibt: „Der Autor hat also namentlich genannte Mitautoren oder ist umgekehrt der Mitautor seiner Zitatgeber.“11
Der Zusammenhang mit dem Aphorismus, ein besonders bemerkenswerter Gesichtspunkt für das Zitat bei Benyoëtz, ist in vielfacher Weise in der Gattungsgeschichte verankert. Einerseits muss man sich einer zweifelhaften Nachbarschaft bewusst sein. Aus dem Gesamtwerk exzerpierte, mehr oder weniger pointierte Zitate werden unter älteren Titeln wie dem der Religion entlehnten und auf Lebenshilfe weisenden „Brevier“, neutral als „Gedanken“, aber auch scheinbar gattungsgenau als „Aphorismen“ gesammelt; Sekundäraphorismen könnte man sie nennen. Die aus dem Ende des 19. Jahrhunderts bekannte, vor allem von Büchmann bediente Grundintention besteht darin, dass das prägnante, intellektuell ansprechende Zitat in Vortrag und Lehre zum Erfolg verhilft; die Differenzierung zwischen Aphorismus und Zitat wird darüber vernachlässigt. Andererseits erklärt sich der Überschneidungsbereich der Gattung mit dem Zitat schon aus ihrer mehrfach verästelten Vorgeschichte. Der literarische Aphorismus entwickelt sich unter anderem von Exzerpt und Zitat, von Glosse, Anmerkung und Marginalie her. Fremdes kann unausgewiesen mit dem Eigenen verschmelzen, Fremdem wird Eigenes angefügt, das sich verselbstständigen kann.
Diese Vorgeschichte wirkt in bedeutenden Teilen auch noch in die Gattungsgeschichte hinein. Bei Jean Paul steht das Zitat- und Exzerpthafte im Zentrum, Goethe lässt den Zusammenhang noch erkennen, wenn er unbedenklich auch Zitate oder nur leicht Abgewandeltes, eben „Angeeignetes“, ohne Herkunftsnachweis unter seine Maximen aufnimmt. Auch Carl Gustav Jochmann, einer der politischen Aphoristiker des Vormärz, geht in seinen „Stylübungen“ so vor, dass er seinen Aphorismus aus einem verknappten Zitat und einem affektiven Zusatz formuliert und die Verbindung von beidem der Rezeptionsleistung der Leserin/des Lesers anvertraut. Besonders deutlich ist die Geburt des Aphorismus aus dem Zitat bei Rahel von Varnhagen zu beobachten. Sie rezipiert und zitiert die Vorbilder, französische wie deutsche, kommentiert im nächsten Schritt das Zitat, woraus im dritten Schritt der eigene Aphorismus erwächst.12 Auch bei Arthur Schopenhauer gehen „Zitate paränetischen, charakterbildenden Inhalts“, die er schon seit 1822 sammelte und „die er stets vor Augen haben wollte“, seinen „Aphorismen zur Lebensweisheit“ lange voraus.
Im 20. Jahrhundert ist der Zusammenhang nicht minder zu beobachten: im trivialisierten Aphorismus der Lebensregel, bei Karl Kraus in gelegentlichen Zitatvariationen, besonders deutlich bei Hugo von Hofmannsthal, der in seinem „Buch der Freunde“ ganz wie bei Goethe eigene Aphorismen „angeeigneten“ Stücken gegenüberstellt. Das Zitat, an das sich oft ein Kommentar anschließt, ist ein Merkmal der Lebenshilfe-Aphorismen, etwa bei Hans Margolius. Bei Kurt Deschner dient es primär dem Widerspruch; in diversen Mischformen, etwa den Aphorismen, Gedanken und Impressionen Kurt Martis oder den Bänden Peter Handkes mit ihren Erinnerungspartikeln und Lektüre-Reflexionen, Werkstattnotizen und Impressionen sowie dem gesamten Bereich des aphoristischen Tagebuches ist es dem Aphorismus benachbart.
In diese Traditionsreihe nun stellt sich Benyoëtz auf unverkennbar eigene Weise. Das Zitat wird, in jeder einzelnen Realisation, geradezu zur „Gattung“ erhoben: „Jedes Zitat – / Gründer seiner Gattung“ (FS 121). Zum einen ist es die genuin aphoristische Metaphorik, die den Zusammenhang herstellt, ob in „Keim“ und „Kern“ („Keim und Kern des Denkbaren“; ZN 125; BK 164) oder in der paradoxen Diskrepanz des Kleinsten als Größtem („Zitat – / die kleinste Ernte, / die größte Beute”; FF 85). Die kernhafte Kürze ist das Ideal, sei es im Aphorismus, sei es im Zitat: „Mit Zitaten / beruhigt man sich über die Länge / und kommt über die Runden“ (ZN 126).13 Zum andern ist es, gleichfalls nicht anders als beim Aphorismus, die spezielle Leitvorstellung, die der Autor vom „Satz“ entwickelt, die den Zusammenhang signalisiert. An zentraler Stelle, in den beiden „rezeptionslenkenden Begleittexten“14 seiner Zitatnachweise zu dem Band „Die Zukunft sitzt uns im Nacken“, kommt sie zum Ausdruck:
Nicht seine Evidenz, / seine Zitierbarkeit / ist die Seele des Satzes
Wahre Sätze kommen schon als Zitate zur Welt und können nicht oft genug widerlegt
werden; sie sind des Bleibens Bleibe
Auch Helmich zitiert sie beide, gewissermaßen unter dem korrespondierenden Gesichtspunkt des „poetischen Wahrheitsäquivalents“.15 Und ist es nicht so, dass der Autor seine Zitate auch mit diesem angemessen überspitzten Aphorismus in die kreative Nähe rückt, die eben seine „Sätze“ ausmacht: „Das Zitat muss nicht passen, aber glücklich gefunden sein.“ (VV 76; mit einem Uhland-Zitat als Zusatz: Br 43; ZN 124), und dass er sie in diesem Zusammenhang gar „zur eigentlichen Poesie“ erklärt? Freilich mag hier auch ein Gran Ironie hineinspielen.
Erinnerung als lebendig-ganzheitliche Vergegenwärtigung ist eines der großen Themen Benyoëtz’, wenn es nicht gar an vorderster Stelle steht, und Erinnerung ist auch die vornehmliche Funktion des Dialogs im Zitat. Das ist in der Sekundärliteratur zu dem Autor mehrfach gesehen worden, so schon in meiner Geschichte des Aphorismus von 2004,16 sodass ich diesen Gesichtspunkt nur kurz aufrufe. „Zitate – des Vergessens Erinnerungsstücke“ heißt es in dem Bändchen der Lesung von 2000 (Im [37]). Zehn Jahre zuvor hatte er es einmal breiter ausgeführt; die entscheidenden Stichworte dabei sind neben Erinnerung die dem Zitat „eingegebene“ Richtung, der „Zusammenhang“, pointiert im Wortspiel „syntaktvoll“, und das „Gedenken“:
Die Richtung des Zitats ist eine ihm eingegebene, nicht eine ihm entnommene. Diese bleibt unbekannt, bis sie Erinnerung hervorruft, Gesinnung erzeugt, Anstoß erregt. So wird wiederum ein Zusammenhang hergestellt, in dem das Zitat jede Fühlung mit Eingebung und Poesie verliert und syntaktvoll geworden, sich gezwungen sieht, seines Verfassers zu gedenken (TS 73)
Wenn er schreibt: „Das Gedenken ist – allen Gedenkreden zum Trotz – aphoristischer Natur“; Br 38), dann ist es angesichts der Nähe von Aphorismus und Zitat auch für Letzteres gültig. In diesem Gedenken ist im Geiste „längeres Leben“, „Nachleben“, ja ewiges Leben angelegt und intendiert:
Zitieren – ins Nachleben rufen (ZN 128)
Das Zitat ist das längere Leben, / es steigt noch aus dem Grab (Sa 268)
Ähnlich heißt es in poetischer Umschreibung: „Ein Ruhepunkt nach einem / jahrtausendelangen / Zitat“ (TS 97). In eben diesem Sinne entnimmt Benyoëtz auch das Mottozitat für den Zitatnachweis zu „Brüderlichkeit“ einem Gedicht Gertrud Kolmars:
„Ihr lebt ja, Ihr Toten, Ihr lebt; denn heute lebe ich.
Einmal wohl mögt ihr gestorben, mögt anders gewesen sein;
Nun seid Ihr und seid so: für mich.“ (Br 79)
Es gilt nicht nur: „Man kommt nicht anders voran als rückblickend“ (TS 20), es ist sogar so, dass die Perspektive umgekehrt werden kann oder muss und es zu einer Formulierung kommen kann wie: „Dichten, / die Zukunft / mit Zitaten belegen“ (Br 43; ZN 125; Sa 74). Deutlicher ambivalent heißt es dazu in den „Sandkronen“: „Zitierend wird man aus der Vergangenheit klug“ (Sa 262). Und auch eine andere Form des Perspektivenwechsels lässt sich im Spätwerk beobachten: „Werde ich zitiert, / habe ich etwas gesagt“ (Sa 161).
Nicht exakt davon zu trennen, aber doch eine bemerkenswerte eigene Komponente innerhalb der Funktion der Erinnerung ist der des Zeugnisses oder Mahnmals, der dem Zitat zukommt. „Zitat – ein Wort / gemahnmalt“ heißt es lapidar in „Ichmandu“ ([43]). Der Autor ‚legt‘ an solchen Stellen explizit ‚Zeugnis ab‘: „Der Mann, von dem das lange Zitat stammt“, „heißt Samuel Hirsch und verdient, mit mehr als nur einem guten Grund, neben Rosenzweig genannt zu werden“ (TS 24). Er spricht durch den Mund der Zeugen, seien es auch so unterschiedliche wie Ricarda Huch und Charles Baudelaire (TS 77) zu „teuflischem“ Mitläufertum, sei es eine Collage von Texten Rudolf Pannwitz’, Alfred Momberts und Honoré de Balzacs zum mythischen „Namen“ (Br 52). „Dem Geschrieben muss widerschrieben, kann nicht widersprochen werden“ (TS 77): Das Mahnmal kann auch ein Pranger sein, so im Fall des antisemitischen NS-Philosophen Hugo Dingler oder von Hans Blüher.17
Die Funktionen des Zitats kann man aus der Perspektive des Zitierten wie aber auch des Zitierenden selbst erläutern. Im Kolmar-Zitat heißt es nicht nur: „Nun seid Ihr“, sondern es folgt: „und seid so: für mich.“ Bei der Vergegenwärtigung, wie sie im Zitat erreicht wird, mag noch beides ineinander wirken: „Zitate beleuchten unsere Lage und setzen uns / zugleich in ein besseres Licht“ (Tr [8]; Br 49; ZN 126). Wo es dagegen um die Erschließung von Wirklichkeit geht, ist die Perspektive eindeutig von dem her zu verstehen, der sich seine eigene „Wirklichkeit“ erschließen will, indem er herbeiruft: „Wirklichkeit / erschließt sich am einfachsten / zitatenweise“ (ZN 126). Erst recht ist das dort der Fall, wo es zur Identifikation mit dem Zitierten kommt: „Wir sprechen uns aus, aber erst das Zitat bringt uns zum Ausdruck“ (Q [71]).18
Deutlicher als Ambivalenz gewertet scheint dieses Verhältnis im Spätwerk, wenn das Ich im ‚aktiven‘ Nominativ wie sogleich im ‚passiven‘ Akkusativ erscheint und es heißt: „Ich mache das Zitat, / das Zitat ruft mich hervor“ (Sa 229). Überhaupt wäre das Spätwerk mit der verstärkten Reflexion – wohl auch: Rezeptionslenkung – dessen, was das Zitat für Benyoëtz ausmacht, eine gesonderte Betrachtung wert. Da wäre neben „Feindeutig“ von 2018 besonders auch „Lebtag und Leseabend“ aus demselben Jahr heranzuziehen, in dem ein Abschnitt „Mit meinen Zitaten läuft die Geschichte wieder an“ überschrieben ist:
Ich musste mir den deutschen Raum selber schaffen, das sind die Zitate. Ich schaffe mir meine Zeit und suche mir meine Zeitgenossen aus, das geschieht unfehlbar, weil ich nichts bezwecke und weil ich mein Gehör rein ausbilden und freihalten kann – in Jerusalem, durch keine Gegenwart verwirrt oder daran gehindert. […] So bin ich Großerbe und Herr mancher Schätze, die mir abgestritten, aber nicht abgesprochen werden können, da sie in meine Sprache eingegangen sind. (LL 60)
Aspekte, die im Frühwerk zu eruieren sind, werden hier explizit: Erinnerung („Großerbe“), Vergegenwärtigung („meine Zeitgenossen“), Verwobenheit von Zitat und eigenem Aphorismus („in meine Sprache eingegangen“).19
Mit den Kategorien von Halt und Orientierung ist dieses dialogische Verhältnis zu fassen: „Zitierend wissen wir, was wir gern sagten“ (Q [70]; ZN 126); später ist das auch selbstironisch gefasst: „Das Zitat macht die Fadenscheinigkeit / unabreißbar“ (Sa 160). Über die „schriftstellerische Total-Askese“ durch Auswahl und Zusammenstellung, wie sie Helmich am Beispiel Walter Kempowskis für unseren Autor erläutert,20 scheint es mir hinauszugehen. Vor allem ist es aber der Aspekt der Dankbarkeit, der hier aufgerufen wird: „Ein Werk wie meins kann nur in Dankbarkeit und mit ihr wachsen. Darum gehören Namen und Zitate zu den Eckpfeilern meiner Poetik” (Ad 179). Und vielleicht darf man auch das Zitat „In einer langen Tradition stehend darf ich endlich sitzen“ (ZN 272) für die Bekundung solcher Dankbarkeit in Anspruch nehmen: „Zitate sind die Blumen, durch die man seine Liebe erklärt“ (Sa 11). In den letzten Jahren kommt vermehrt auch eine selbstironische Färbung hinzu:
Der Bücherwurm macht die Hälfte meiner Zitate aus (Sa 16)
Das Zitat verbindet Kreuz und Quer (Sa 161)
Der Du-Aphorismus, der (neben dem Zitat) die dialogische Struktur der Aphoristik von Elazar Benyoëtz am stärksten bestimmt, ist tief in der Tradition der Gattung verwurzelt. Um nur die Hauptlinien zu skizzieren: Der didaktische Zweig der Lebenslehre durchdringt sie im 18. Jahrhundert bei Adolph von Knigges Lebensregeln21 oder mit religiöser Akzentsetzung bei Sebastian Mutschelle22, Anfang des 19. Jahrhunderts bei Gottfried Seume ins Politische gewendet23, in Einzelfällen bei Friedrich Hebbel24 auch als Lebensregel25 und bei Marie von Ebner-Eschenbach dort, wo sie sich auf gutartige Morallehre beschränkt.26 Bei Friedrich Nietzsche wie schon bei seinem Vorgänger Ludwig Feuerbach27 verbindet er sich mit der Autorität allumfassender Umwertung.28
Aus derselben Wurzel, aber in völlig anderer Ausprägung kommt um die Wende zum 20. Jahrhundert die Maxime in der vertraulichen Du-Ansprache hinzu,29 eine Aphoristik der bis auf Knigge zurückgehenden trivialen Lebensregeln30 und der vertraulichen Du-Ansprache an eine Innerlichkeits-Gemeinde ängstlich-konservativer Opposition.31 Abgelöst wird sie von einer Aphoristik in der Fortführung klassischer Moralistik, die im Anspruch wirklicher neuer Menschenkenntnis deren inhärente didaktische Tradition fortsetzt.32 Sie bleibt aber in ihrer spezifisch deutschen Innerlichkeit und Rückzugsorientierung im NS-(Kalender-)Spruch einer Autorität, die Anweisungen erteilt,33 wie im trivialen Unterstrom der Gattung bis in die 1950er- und 1960er-Jahre hinein im Imperativ eines selbsternannten Lebenslehrers erhalten.34 Der linke Aphorismus mit seinem gesellschaftliche Emanzipation intendierenden Denken verwirft natürlich die schlichte Maxime im Prinzip, wenn sie sich andererseits dann doch auch hier wieder anfindet, bei Bertolt Brecht in der lehrhaften Kürze seines Lebenslehrers Me-ti ebenso wie in der Folge bei Horst Drescher in der DDR-Opposition35 und Erich Fried im Exil über 1945 hinaus.36 Ein Du-Aphorismus und ein Imperativ, dessen moralistischer Ansatz nicht zur Erkenntnis, sondern zunehmend in Verwirrung führt, findet sich bei Franz Kafka37 und in der Folge auch bei Ludwig Strauß.38 Mit ihnen sind wir unserem Autor am nächsten, bei dem sich im Übrigen – von der eigenen Akzentsetzung abgesehen – die verschiedenen Färbungen wiederfinden und differenziert betrachtet sein wollen.
Das Du in Benyoëtz’ Aphoristik zeigt sich in verschiedenen Ausgestaltungen; immer aber ist es von dieser Überzeugung getragen: „Die Wahrheit liegt in der Mitte: zwischen / zwei Menschen, die aufeinander zugehen“ (TS 85). Es bezeichnet zum einen das Gegenüber einer moralischen Instanz, einer Autorität (3.2.1), zum andern bezeichnet es selbst eine höchste religiöse Instanz (Gott), der ein Gläubiger gegenübersteht (3.2.2). Beide Formen zusammen verhalten sich hierarchisch konträr zueinander und machen den Großteil aus. Zum dritten kommt das Du als Gegenüber eines Autors (Leser/-in) hinzu (3.2.3). Daneben sind ein Du als Gegenpart des eigenen Ich (Selbstgespräch) und ein visionäres Du zu beobachten (3.2.4). Aus der Fülle der Belege wähle ich die Jahrzehnte hindurch nur wenige aus.
In der prophetenähnlichen Autorität gegenüber einem Du sind neben den Wurzeln aus der deutschsprachigen Gattungsgeschichte, die das didaktische Element betonen und ein Verhältnis von Lehrer und Schüler(in) bewirken, die jüdischen Wurzeln bestimmend. Zum einen nähert der Autor sich, ohne damit im Geringsten zum späten Nachahmer zu werden, hier einer Maximenmoralistik, wie wir sie von Hebbel, Ebner-Eschenbach oder auch Schnitzler kennen, zum andern nimmt er eine an Kohelet erinnernde prophetenähnliche Stellung ein, die auf eine bereitwillig aufnehmende des Hörers/Lesers oder der Hörerin/Leserin trifft.
Das beginnt in der Frühzeit, „Einsprüche“ 1973, mit Texten, die sich dem didaktischen Zweig der Gattung nahtlos einfügen:
Urteile nach deinem Wert, nicht nach deinen Werten. (Eü 28)
Was suchst du Ehre, hüte sie! (Eü 36)
Diese Komponente begegnet gelegentlich auch später noch:
Nicht ob du ein Ziel erreichst, wie weit du gegangen bist, ist entscheidend. (VV 31)
Was immer du auch glaubst verteidigen zu müssen, es sind die Grenzen, die du verteidigst. (Fi 30)
In „Träuma“ (1993) lesen wir: „Was du tun kannst, ist immer mehr / als was du tun könntest“ (Tr [15]) und erinnern uns Ebner-Eschenbachs: „Wenn die Zeit kommt, in der man könnte, ist die vorüber, in der man kann.“
Daneben ist von Anfang an die alttestamentliche Komponente sichtbar:
Du sollst dich deines Herrn nicht bedienen. (VV 97)
Kohelet spricht / Du sollst dir kein Bild / und nichts vormachen (FS 59)
In der Regel findet er schon zu einem eigenen Ton:
Sobald dir deine Freiheit zum Maßstab wird, bist du gefangen. (Eü 33)
Was du bist, kann niemand sonst sein, daher deine Verantwortung. (Ei 46)
Zumal im Bezug auf Gott ist er verwirklicht:
Gott nimmt dich / bei seinem Wort (FF 31)
Baust du auf Gott, / Bist du der Grundstein (S 220)
Drei grammatische Strukturen bestimmen und schärfen das Verhältnis einer Autorität zu einem Du als Gegenüber: der Imperativ, die Negation, der (versteckte) Konditionalsatz. Signifikant aber ist, einschränkend und relativierend wirkend, das damit verbundene Paradoxon.
Mit dem Imperativ steht Benyoëtz dabei relativ am festesten auf dem Boden der Tradition. In der generalisierenden Tendenz der Gattung begegnet dieses Du als Objekt eines Imperativs auch als Man. Aus einer Legion von Beispielen nur zwei, die zeigen, dass der Autor bei aller formalen Verwurzelung inhaltlich zu ganz Eigenem findet:
Halt dich fern von der Welt, so verlierst du sie nicht aus den Augen. (VV 7, vgl. TS 53)
Lass deine Jahre sprechen, / so brauchst du nicht / vergebens nach Worten zu suchen (Im [7])
Auch in der Negation zeigen sich deutlich Reste des Bekannten: „Was dich nicht stört, ist dir nicht wirklich nah.“ (VV 30; vgl. FF 58)39 Wenn es heißt: „Protestiere nicht, / deine Erscheinung / sei dein Protest“ (ZN 203, 20; Ad 203; Aw 370), zeigt sich schon, dass die Negation in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle aber im expliziten Gebot ‚Du sollst nicht‘ biblisch gegründet und fest in dem ihm eigenen thematisch-metaphorischen Themenkreise angesiedelt ist:
Du sollst dir aus Gott nichts machen. (Ei 81)
Du mußt an Gott nicht glauben, / nur zuhören, / wenn Er zu dir spricht. / Und dann in das Land gehen, / das er dir zeigen wird (Ad 204)
Von da aus eröffnet sich der theologische Raum allgemein:
Laß dir / deine Schuld / nicht abnehmen, / sie steht keinem anderen zu; / auch kann sie niemand / so gut tragen / wie du (FS 84)
Du darfst dein Richter werden, / aber nicht dein Ankläger sein (Ad 204)
wie die Sphäre der Sprache:
Verlasse dich auf deine Worte nicht, sind sie die ersten doch, die dich verlassen. (Fi 22; FF 31)
Sage nicht, was du sagen willst, sage, was du / zu sagen hast (TS 84)
Der Konditionalsatz, zumal der syntaktisch verborgene, ist geradezu ein Merkmal der Aphoristik Benyoëtz’; er bildet sich auch besonders markant im Du-Aphorismus aus. Auf das Theologische gerichtet:
Ist dein Herz mit dir, ist Gott mit dir. (VV 59)
Gehst du zugrunde, / kommst du auf Gott (FS 14)
Auf das Literarische gerichtet:
Willst du dein Wort finden, mußt du / dein Schweigen brechen (TS 84)
Gibst du deine Stimme ab, wird es still um dich. (VV 29)
Die Beziehung von Ich und Du gestaltet sich hier besonders eng:
Fällst du mir um den Hals / verliere ich dich aus den Augen (FF 116)
Wenn ich dich nicht ergreifen kann, / wie soll ich dich auch nur / berühren können (P [17])
Das Didaktische ist freilich gebrochen durch die allgegenwärtigen Paradoxien, die das Anmaßende, das dem Aphorismus in dieser Beziehung oft vorgeworfen wird, nicht nur relativieren und jeden Gedanken an eine simple Handlungsanweisung von vorneherein verbieten, sondern es zugunsten eines Rückverweises an das Du selbst aufheben:
Verscherze dir nicht / die Gunst deiner / Schwächen (FF 59; VV 28)
Suche keine Wahrheit, die du finden möchtest, denn du fändest sie (Eü 13; M 58)
Du bist aufgefordert, das zu tun, / was niemand von dir verlangen kann (Ad 204; FF 57)
Das Ich und Du ist auch hier betont:
Müßte ich / deiner Erwartung / nicht entsprechen, / ich könnte dir / jeden Wunsch / erfüllen (FS 253)
Ich muss dich suchen, bis ich vergesse, daß du es bist, den ich nicht finden durfte. (Ei 94)
Beim Du als Gegenüber eines Gottgläubigen, der hierarchisch komplementären Situation, erübrigt sich die Frage nach der Tradition fast. Zwar steht Benyoëtz auch beim religiösen Aphorismus selbst im 20. Jahrhundert nicht allein, wenn man nur an Namen wie Peter Hille, Christian Morgenstern, Franz Marc, Franz Werfel oder Hans Albrecht Moser denkt und speziell in der deutsch-jüdischen Tradition an Arno Nadel, Franz Kafka, Franz Baermann Steiner oder Ludwig Strauß, aber dieser Aspekt ist doch bei unserem Autor singulär ausgebildet. Man hat allerdings zu Recht in diesem Zusammenhang immer wieder an Martin Buber erinnert, der sich im dritten Teil von „Ich und Du“ (1923) Gott als dem „ewigen Du“ widmet. Speziell in der Aphoristik ist daneben auch auf Ferdinand Ebner verwiesen worden, der mit Kernsätzen wie „Der Sinn der Duhaftigkeit: das Wissen um Gott”40 oder „Das wahre Du des Ich ist Gott“41 in der Tat hier vorangeht.
Dem Sprecher/Beter steht ein personaler Gott gegenüber, eine rätselhafte, im Besonderen paradoxale Instanz:
Du erhebst mich lichtvoll und bläst mich barmherzig aus (Fi 97)
Ich muss dich suchen, bis ich vergesse, daß du es bist, den ich nicht finden durfte. (Ei 94)
Der gebetsnahe Teil von Benyoëtz’ Aphorismen schließlich mündet in das „Credo: ich steh vor DIR, bestehe und falle / beständig. Wo magst DU mich suchen, wenn ich / DICH gefunden habe“ (Br 61).
Auf einer anderen Ebene steht das Du, das dem Autor als Leser oder Leserin gegenübersteht; auch die Lesung als Situation eines präsenten Du und einer direkten Rezeption fügt sich dort ein. Hier im Besonderen gilt: „Die Menschen, auf die es ankommt: Du und ich.“ (VV 61) Aus dem Grenzbereich von Literatur und Religion wechseln wir hier in den genuin literarischen Bereich der Rezeption, in dem ein aktiver Rezipient als Partner angesprochen wird:
Was willst du zwischen den Zeilen finden, ich stehe doch hinter meinem Wort. (Ei 37)
Was ich sage, will gesagt, was ich dir sage – gehört werden. (VV 21)
Selten findet sich der Rekurs auf die Mitwirkung des Rezipienten so explizit zum Ausdruck gebracht wie bei Benyoëtz:
In deinem Mund erwacht das Wort zu seiner Sprache (VV 86)
Das an dich gerichtete Wort verliert mit dir / seine Richtung (H [4])
Im Extremfall kommt es zur Umkehrung der Kommunikation; auch Zuhören ist Sprechen:
Hörst du mir nicht zu, / wie soll ich dich / verstehen (FS 91)
Du bist ein Dichter, wenn du zu mir mit Worten sprichst, die mich erraten. (Ei 41)
Es bleibt, als letzte Ausgestaltungen des Du in Benyoëtz’ Aphoristik von einem Du als Gegenpart des eigenen Ich und einem visionären Du zu sprechen. Sie sind weniger leicht zu isolieren, schwingen aber als inneres Selbstgespräch latent sehr oft mit. Ist es das eigene, ist es ein fremdes Ich, das hier vergeblich etwas ‚zwischen den Zeilen‘ sucht: „Was willst du finden, ich stehe doch hinter meinem Wort“ (Ei 37)? Auch hier mag man an Buber erinnern, der im zweiten Teil von „Ich und Du“ über die Welt des Geistes spricht, Antwort des Menschen an sein Du: „Dein ist die Ewigkeit / worauf wartest du? / – Auf meine Zeit“ (Fi 44).
Der visionäre Dialog schließlich findet sich speziell dort, wo die aphoristischen Texte am Rande der Lyrik siedeln. Hier wird man von fernher sogar an Rilkes „Stundenbuch“ erinnert:
„Nimm dich in acht, / ich bin dabei, / mich in dich zu verlieben“ / „Bleib nur dabei, / ich nehme mich schon / in acht“ (FF 116)
Ich sehe dich – / eine brennende Fackel – / durch den Wald meiner Seele / rennen / Augenglücklich / Du entfernst dich / mehr und mehr, / ich aber sehe dich kommen / Jetzt / und / DU (FS 41)
du bist / und doch macht erst die liebe dich möglich / wenn du mir zugrunde liegst, geh ich gern zugrunde (ZN 225)
Diese Allgegenwart des Du in seinen verschiedenen Gestalten verbindet den Aphorismus von Elazar Benyoëtz neben Brief und Zitat zwar mit der Tradition der Gattung. Wie gleichfalls zu zeigen war, erweist sich aber die darin in Erscheinung tretende dialogische Struktur weit stärker als ein herausragendes spezifisches Merkmal seines Werkes.
Bongardt, Humor, 123–24.⬑
Fetz, Benyoëtz, 66–72.⬑
Spicker, Einführung, 10–11.⬑
Spicker, Beziehungsweisen, 329.⬑
Fetz, Benyoëtz, 213–227.⬑
Fetz, Benyoëtz, 70–71.⬑
Fetz, Benyoëtz, 219–20.⬑
Gemäß meiner Konzentration auf die frühe und mittlere Phase gehe ich nicht auf den Abschnitt „Zitazitus“ in „Feindeutig“ von 2018 ein, der einmal mehr Eigenes und Fremdes zum Zitat sammelt (Fe 75–82) und eine Reflexion zum Zitat gewissermaßen in zweiter Potenz darstellt.⬑
Fetz, Benyoëtz, 70.⬑
Nebenbei bemerkt: Auch die Glosse zählt wie Exzerpt und Zitat zu den Vorformen und Wegbereitern des literarischen Aphorismus.⬑
Fetz, Benyoëtz, 68.⬑
Dass auch bei ihr der dialogische Aspekt, vom Zitat wie vom Brief her, zum Verständnis des Aphorismus führt, lässt sie für einen Detailvergleich mit unserem Autor als besonders geeignet erscheinen.⬑
Die Verklammerung von Selbstzitat, Zitat und ‚klassischem Aphorismus‘ neben echtem Paratext habe ich am Beispiel des Vorwortes zu seiner Briefsammlung „Vielzeitig“ im Einzelnen exemplarisch erläutert (Fetz, Benyoëtz, 218–223).⬑
Moennighoff, vgl. Fetz, Benyoëtz, 223.⬑
Fetz, Benyoëtz, 70.⬑
Spicker, Aphorismus, 803.⬑
Zu Dingler heißt es nach einem entsprechenden Hitler-Zitat: „Ein Werk, das man verantworten will, muß man verteidigen können. Dingler überlebte den Krieg und hätte die Möglichkeit und allen Grund gehabt, seine eigenen Worte vor seinem eigenen Lebenswerk laut und vernehmlich zu rechtfertigen. Es geht nicht an, selber zu überleben, seine Taten und Werke aber durch andere rechtfertigen zu lassen.“ (TS 77). Im Fall von Hans Blüher lautet das Verdikt rigoros: „Soviel wie dieser Satz wiegt der Mensch, der ihn schrieb. Soviel wog auch die humanistische Bildung, die ihn und seinesgleichen bestrickte, die er und seinesgleichen zur Strecke brachte“ (TS 26).⬑
Siehe oben Abschnitt 2.⬑
In „Der eingeschlagene Umweg“ (2020) bestehen gemäß der Devise „Zitat – Ein Satz im Auftrag“ (EU 138) ganze Texteinheiten der Komposition des Buches aus Zitaten.⬑
Fetz, Benyoëtz, 69, 71.⬑
„Thue, was du sollst, so kannst du thun, was du willst.“⬑
„Willst du Moral und Religion, und die ganze Lebensweisheit in wenig Worten, so höre: Sey klug und gut, und vertraue auf Gott.“⬑
„Glaubst du denn, die Fürsten werden je die besten Mittel einschlagen, die Völker vernünftig aufzuklären? Dazu sind sie selbst zu klug, oder zu wenig weise.“⬑
„Du mußt bedenken, daß eine Lüge dich nicht bloß eine Wahrheit kostet, sondern die Wahrheit überhaupt.“⬑
„‚Wirf weg, damit du nicht verlierst!‘ ist die beste Lebensregel.“⬑
„Mißtraue deinem Urteil, sobald du darin den Schatten eines persönlichen Motivs entdecken kannst.“⬑
„Deine erste Pflicht ist, Dich selbst glücklich zu machen. Bist Du glücklich, so machst Du auch Andere glücklich. Der Glückliche kann nur Glückliche um sich sehen.“⬑
„Woran glaubst du? – Daran: dass die Gewichte aller Dinge neu bestimmt werden müssen.“⬑
„Laßt euch von den Motten des Argwohns nicht das gute Pelzwerk eures Vertrauens zerfressen.“⬑
„Willst du bis ins höchste Alter liebenswürdig bleiben, so bewahre dir die Kindlichkeit des Herzens.“⬑
„Wenn du den rechten Geist hast, wird dich dein Gegner, der Zeitgeist, schon einmal aufsuchen.“⬑
„Was du verlieren kannst, hat keinen Wert.“⬑
„Sammle gern für die Armen, aber wache über deinen Besitz, damit du den Würdigen schenken kannst.“⬑
„Vertraue Deiner Erfahrung – Du hast keine andere.“⬑
„Totes Rennen. – Übernimm niemals eine Arbeit, für deren Lohn du Schnaps kaufen mußt, um zu vergessen, daß du diese Arbeit übernommen hast.“⬑
„Angst und Zweifel. Zweifle nicht / an dem / der dir sagt / er hat Angst / aber hab Angst / vor dem / der dir sagt / er kennt keinen Zweifel“.⬑
„Zwei Aufgaben des Lebensanfangs: Deinen Kreis immer mehr einschränken und immer wieder nachprüfen, ob Du Dich nicht irgendwo außerhalb Deines Kreises versteckt hältst.“⬑
„Glaube nicht, einen Menschen ganz verstanden zu haben, so lange du noch nicht auf das in ihm gestoßen bist, was dir unverständlich bleibt!“⬑
Vereinzelt wird man gar an Erich Fried erinnert: „Willst du deine Ruhe finden, / laß dich nicht beruhigen“ (Tr [11]); 2000b, 32); „Laß dich nicht verändern, / bleib der Andere“ (ZN 18); Du kannst / nichts Größeres leisten / als Widerstand“ (ZN 19; 2001, 204).⬑
Ebner, Notizen. Tagebücher. Lebenserinnerungen, 186.⬑
Ebner, Fragmente, Aufsätze, Aphorismen, 33.⬑
Ad | Allerwegsdahin. Mein Weg als Jude und Israeli ins Deutsche. Zürich/Hamburg: Arche, 2001. |
Aw | Aberwenndig: Mein Weg als Israeli und Jude ins Deutsche. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017. |
Br | Brüderlichkeit. Das älteste Spiel mit dem Feuer. München/Wien: Carl Hanser, 1994. |
BK | Die Eselin Bileams und Kohelets Hund. München: Carl Hanser, 2007. |
Ei | Eingeholt. Neue Einsätze. München: Carl Hanser, 1979. |
EU | Der eingeschlagene Umweg. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2020. |
Eü | Einsprüche. Neue Einsätze. München: Carl Hanser, 1979. |
FF | Der Mensch besteht von Fall zu Fall. Aphorismen. Leipzig: Reclam, 2002. |
Fi | Filigranit. Göttingen: Steidl, 1992. |
Fe | Feindeutig. Eine Lesung. Würzburz: Königshausen & Neumann, 2018. |
H | Hörsicht. Herrlingen bei Ulm: Wölpert, 1994. |
Im | Ichmandu. Eine Lesung. Herrlingen bei Ulm: Wölpert, 2000. |
LL | Lebtag und Leseabend, herausgegeben von Alfred Miersch. Wuppertal: NordPark, 2018. |
P | Paradiesseits. Eine Dichtung. Herrlingen bei Ulm: Wölpert, 1992. |
Q | QuerSchluss. Herrlingen bei Ulm: Wölpert, 1995. |
S | Scheinhellig: Variationen über ein verlorenes Thema. Wien: Braumüller, 2009. |
Sa | Sandkronen. Eine Lesung. Wien: Braumüller, 2012. |
Tr | Träuma. Herrlingen bei Ulm: Herrlinger Drucke, 1993 |
TS | Treffpunkt Scheideweg. München/Wien: Carl Hanser, 1990. |
V | Variationen über ein verlorenes Thema. Wien: Braumüller, 1997. |
VV | Vielleicht – Vielschwer. Aphorismen. München: Carl Hanser, 1981. |
ZN | Die Zukunft sitzt uns im Nacken. München/Wien: Carl Hanser, 2000. |
ZN2 | Die Zukunft sitzt uns im Nacken. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2020. |
Bongardt, Michael (Hg.). Humor – Leichtsinn der Schwermut. Zugänge zum Werk von Elazar Benyoëtz. Bochum: Brockmeyer, 2010.
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Ebner, Ferdinand. Notizen. Tagebücher. Lebenserinnerungen. Hg. von Franz Seyr. München: Kösel, 1963.
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