Ich glaube, wir deutschen Schriftsteller jüdischer Rasse sollten jetzt gemeinsam ein
Manifest verfassen […]. Wir müssten darin sagen, wie wir in der deutschen Sprache
gelebt, wie wir ihr gedient haben, wie weit wir das Ansehen der deutschen Literatur
über die Welt getragen haben und dass wir durch Jahrzehnte ohne Anfeindung und im
innigsten Zusammenleben mit den besten Deutschen brüderlich gewirkt haben, bis 1933
die Neunzehnjährigen befahlen, wir sollten hebräisch schreiben.1
Am 10. Mai 1933, nur drei Tage, nachdem er diese Zeilen an den befreundeten Schriftsteller
Felix Salten schreibt, verbrennt die Deutsche Studentenschaft in insgesamt 19 deutschen
Universitätsstädten im Rahmen ihrer „Aktion wider den undeutschen Geist“ auch die
Werke Stefan Zweigs. Der österreichische Schriftsteller hatte zu diesem Zeitpunkt
fast zwei Jahrzehnte lang zu den meistgelesenen und meistübersetzten Autoren des deutschsprachigen
Raumes gehört und sein literarisches Wirken dabei immer als Beitrag zu einer kulturellen
Verständigung zwischen den europäischen Nationen verstanden. Nun sollte er, nur aufgrund
seiner jüdischen Herkunft, in diesem selben Sprachraum politisch verfolgt, und sollte
sein gesamtes Lebenswerk von demjenigen Buchmarkt getilgt werden, auf dem er groß
geworden war: Diese Erfahrung bleibt zweifellos die radikalste Zäsur in der Biographie
Zweigs und ihre maßgebende Tragik. Schon darum muss die Frage, wie Zweigs persönliches
Verhältnis zu der Religion, in die er geboren worden war, im Detail eigentlich aussah,
und ob und wie dies in seinen privaten Briefwechseln zum Ausdruck kam, die Forschung
naturgemäß beschäftigen.
Dass diese in den vergangenen zehn Jahren ein besonderes Interesse an Zweigs Verhältnis
zum Judentum zeigt, ist insbesondere den Impulsen Mark H. Gelbers zu verdanken, der
im Jahr 2014 eine ausführliche Studie mit dem Titel Stefan Zweig: Judentum und Zionismus vorgelegt hat. In dieser Monographie ruft Gelber dazu auf, eine spezifische „jüdische
Sensibilität“ Zweigs künftig verstärkt in die Betrachtung seiner Werke, seines Lebensweges
und seiner Weltanschauungen mit einzubeziehen. (In den wegweisenden Biographien Donald
A. Praters [dt. Ausgabe 1981] und Oliver Matuscheks [2006] sei dies, so Gelber, nur
unzureichend geschehen.2) Das Buch Gelbers bietet einen thematischen und methodischen Überblick über das Potenzial
des Themenfeldes: Neben der Analyse von Erzählungen und Dramen Zweigs mit ‚jüdischer
Motivik‘, gibt der Autor hier einen Überblick über die jüdischen kulturellen Prägungen
im Wien der Jahrhundertwende und in Zweigs Elternhaus – in dem die jüdische Religion
im Grunde keine Rolle spielte – sowie die Kontakte des gerade neunzehnjährigen Stefan
Zweig zu den großen Figuren des Wiener Kulturzionismus, wie dem Feuilleton-Chef der
Wiener Neuen Freien Presse Theodor Herzl oder dem Philosophen Martin Buber. Weiter werden einige ausgewählte
persönliche Beziehungen Zweigs zu wichtigen jüdischen Zeitgenossen näher beleuchtet.
Dabei stützte Gelber sich unter anderem auf publizierte Briefwechsel, wie z. B. die
mit Herzl und Buber sowie mit dem aus Galizien stammenden und ebenfalls jüdischen
Schriftsteller Joseph Roth, und verwies überdies auf eine Anzahl noch nicht erschlossener
Bestände wie z. B. Zweigs Briefe an seinen Cousin Egon Zweig, den späteren Gründer
des Wiener Palästina-Amtes, an den befreundeten Autor von Werken in jiddischer Sprache
Schalom Asch und an den englischen Schriftsteller und Übersetzer von jiddischer Literatur
Joseph Leftwich.
Im Anschluss an die Monographie Gelbers, die dieser als Ausgangspunkt für weiterführende
Forschung verstanden haben wollte, veranstaltete das Stefan Zweig Zentrum im Jahr
2015 gemeinsam mit Gelber eine internationale Konferenz in Salzburg, deren Ergebnisse
zwei Jahre später als Sammelband mit dem Titel Stefan Zweig – Jüdische Relationen veröffentlicht wurden. In diesem Band, der in insgesamt dreizehn Beiträgen recht
unterschiedliche Herangehensweisen und Themen versammelt, stützen sich lediglich vier
Autorinnen und Autoren in ihren Beiträgen auf bislang unveröffentlichte Briefbestände:
Evelyn Adunka untersucht anhand der Originaldokumente Zweigs Beziehung zum ostgalizischen
Schriftsteller und Zionisten Marek Scherlag. Mark H. Gelber selbst befasst sich mithilfe
der Briefe an Joseph Leftwich und an den Verleger Abrahão Koogan in Rio de Janeiro
mit dem Verhältnis Zweigs zum Judentum während seiner letzten Zeit in Brasilien. Marlen
Eckl widmet sich gleichfalls, gestützt auf die Briefe an den Übersetzer Alfredo Cahn
und Koogan, dem Verhältnis Zweigs zur jüdischen Gemeinschaft in Brasilien. Und Jasmin
Sohnemann präsentiert in ihrem Beitrag einen Ausschnitt ihrer umfassenden Analysen
der Beziehung sowie des Briefwechsels zwischen Stefan Zweig und dem (mit ihm nicht
verwandten) Schriftsteller Arnold Zweig, die im Jahr 2018 als Monographie erschienen
ist.
Es ist, angesichts der beschriebenen, bislang nur sporadisch erfolgten Auswertung
relevanter brieflicher Primärquellen, das große Verdienst Stefan Litts (Israelische
Nationalbibliothek Jerusalem), erstmals in systematischer Weise diejenigen privaten
Briefe Zweigs zu versammeln, die dem Themenkomplex des Judentums assoziiert werden
können. Diese Unternehmung ist, angesichts der außerordentlichen Größe der erhaltenen
Bestände, keine geringe: Schätzungen gehen von insgesamt ca. 25 000 Briefen und Postkarten
von der Hand Stefan Zweigs aus, wobei die vierbändige Briefausgabe von Knut Beck und
Jeffrey B. Berlin, die bis heute maßgebende Briefanthologie, etwa 1 000 Dokumente
versammelt. Zahlreiche verschiedene Aufbewahrungsorte weltweit sowie die potenzielle
Varianz, die durch die Intransparenz des privaten Autographenhandels bzw. ‑besitzes
gegeben ist, führen zu einer Forschungssituation, die sich in ständiger Bewegung befindet
– wobei selbst die bekannten, in namhaften Institutionen aufbewahrten und potenziell
zugänglichen Bestände aufgrund ihrer schieren Größe bislang nicht zur Gänze erschlossen
sind.3
So ist auch der Anlass zur vorliegenden Edition kein ungewöhnlicher innerhalb der
Stefan Zweig-Forschung: Den Impuls für die Ausgabe Briefe zum Judentum gab, so berichtet Litt einleitend, eine Schenkung von 30 Briefen und Postkarten Zweigs
an den zu Beginn des Briefwechsels gerade einmal sechzehnjährigen Hans Rosenkranz,
den späteren Leiter des J. M. Spaeth-Verlags in Berlin, die die Israelische Nationalbibliothek
in Jerusalem im Jahr 2016 erhielt.4 Das Ergebnis der anschließenden Recherchen Litts nach weiteren Briefen Zweigs zum
Thema des Judentums ist ein recht überschaubares Konvolut von 140 Briefen – rein quantitativ
betrachtet also „weniger als ein Prozent seiner angenommenen Gesamtkorrespondenz“5 –, von denen die vorliegende Edition eine Auswahl von 120 Briefen und Postkarten
an 43 verschiedene, sämtlich männliche Adressaten bildet, darunter u. a. Martin Buber,
Marek Scherlag, Abraham Schwadron, Karl Emil Franzos, Victor Fleischer, Egon Zweig,
Anton Kippenberg, Max Brod, Joseph Leftwich, Schalom Asch, Arnold Zweig, Romain Rolland
und Siegmund Warburg.
Stefan Litt präsentiert diese 120 Briefe, von denen insgesamt 69 in der vorliegenden
Ausgabe zum ersten Mal vollständig publiziert werden, in drei Teilen und folgt damit
einer in der Stefan Zweig-Forschung recht üblichen biographischen Einteilung, die
auf eine eigene Auffassung Stefan Zweigs zurückgeht.6 Teil I (1900 bis 1918) beinhaltet dabei 18 Briefe, Teil II (1920 bis 1932) 30 Briefe,
Teil III (1933 bis 1941) 72 Briefe, wobei Litt jeweilige Überlieferungslücken, d. h.
Zeitspannen, innerhalb derer keine Briefe zum Thema Judentum ausgemacht werden konnten,
so z. B. zwischen 1901 und 1904 sowie 1906 bis 1913, klar benennt.7 Die drei Teile der Briefausgabe erfahren jeweils eine kurze kontextualisierende Einleitung,
die die wesentlichen biographischen Rahmendaten für die jeweilige Zeitspanne benennt,
thematisch in die im Folgeteil präsentierten Briefe einführt und diese innerhalb der
Biographie Zweigs kontextualisiert. Innerhalb der Primärtexte dient ein Sachstellenkommentar
der punktuellen Erläuterung verwendeter Namen, Institutionen, Ereignisse oder Werktitel.
Im ersten Teil stellt Litt v. a. Briefe vor, die einen jungen Autor auf der Suche
nach Publikationsmöglichkeiten für seine frühen Erzählungen und Texte, z. T. auch
mit dezidiert jüdischen Themen wie z. B. die Novelle Im Schnee aus dem Jahr 1900, zeigt. Theodor Herzl wird ihm zu einem frühen Förderer. Mit dessen
jungem Antipoden innerhalb der Zionistischen Bewegung, Martin Buber, setzt sich Zweig
brieflich ausführlich und kritisch über den Zionismus auseinander: Schlüsseltexte,
die zum Großteil bereits aus der Briefanthologie Becks und Berlins bekannt sind, die
hier jedoch erstmals im ihnen gemäßen Zusammenhang zu lesen sind. Den Tod Herzls im
Jahr 1904 bringt Litt denn auch in einen Zusammenhang mit der parallel anbrechenden
Zeit im Leben Zweigs nach dem Studium, die v. a. von Reisen ins inner- und außereuropäische
Ausland dominiert ist und für seine fortan beherrschende internationalistische Geisteshaltung
prägend wird. Der Internationalismus, so Litt, tritt ab diesen Jahren gewissermaßen
an die Stelle der vormaligen Sympathie für den Kulturzionismus, seine Haltung gegenüber
der Frage nach einem jüdischen Staat präzisiert sich hin zu einer überzeugten „Bejahung
der Diaspora als eigentlichen Ausdrucks der weltbürgerlichen Berufung des Judentums“8 anstelle einer Eingrenzung auf den Gedanken an einen jüdischen Staat oder gar eine
eigene, jüdische Identität‘.
[I]ch sage nur Ihnen, dass ich entsprechend meiner Natur, die ganz auf Bindung, auf
Synthese eingestellt ist, das Judentum nie mir als Kerker meiner Empfindung wählen
möchte, der Gitterstäbe des Begreifens gegen die andere Welt hat […]: aber ich weiss,
dass ich doch ruhe darin und nie ihm abtrünnig sein will und werde. Ich bin nicht
stolz darauf, weil ich jeden Stolz auf eine Leistung ablehne, die nicht von mir selbst
aus ward, so wie ich nicht stolz bin auf Wien, obwohl ich dort geboren bin, oder auf
Goethe, weil er meiner Sprache ist oder auf Siege ‚unserer‘ Armeen, bei denen mein
Blut nicht geflossen ist.9
Während Zweig während des Ersten Weltkrieges früh eine neue Welle des Antisemitismus
voraussieht, die dem Ende des europäischen Krieges nachfolgen könnte (und in der Tat
würde), tritt dennoch, gemessen an den von Litt erhobenen Briefen, die Auseinandersetzung
Zweigs mit dem Judentum mit Beginn der 1920er Jahre zunächst wieder in den Hintergrund.10 Dieser zweite Teil der Briefedition bietet Ausschnitte aus Korrespondenz Zweigs mit
dem Verleger Anton Kippenberg sowie den beiden Herausgebern Meir Wiener und dem Prager
Oberrabbiner Heinrich Chaim Brody über eine Anthologie hebräischer Lyrik, die Zweig
in Kippenbergs Insel Verlag innerhalb der von ihm mitbegründeten Reihe Bibliotheca Mundi in Originalsprache erscheinen lassen will – eine Ausgabe (Bd. I, 1922), die in Palästina
und Israel noch in der Nachkriegszeit zahlreiche Neuauflagen erfahren würde.11
Zu den Besonderheiten dieses zweiten Teils gehören zweifellos die rührenden Briefe
Zweigs an Hans Rosenkranz, die den Ausgangspunkt der vorliegenden Ausgabe gebildet
hatten, in denen Zweig dem Jüngeren unter anderem rät, „ein Stück ihrer Jugend ausserhalb
Deutschlands zu verleben, in einem Lande, wo man das jüdische Problem nicht so ständig
auf den Nägeln brennen hat wie bei uns.“12 Weiter finden sich in diesem Teil der Ausgabe immer wieder Besprechungen Zweigs von
Werken von Kollegen, die Themen aus der Geschichte des Judentums behandeln, wie z. B.
Franz Werfels Paulus unter den Juden (1926)13 sowie Samuel Lewins Chassidische Legende (dt. Ausgabe 1925).14 Ganz augenscheinlich ist in diesen Dokumenten, dass Zweig eine literarische Verarbeitung
von ‚jüdischen Stoffen‘ vor allem dort begrüßt, wo „Geschichte in Dichtung verwandelt
[wird]“15 und die Geschichte des Judentums anstelle einer theoretischen oder politischen eine
ästhetisierte Verhandlung erfährt – eine Herangehensweise, die sich so auch an seinen
eigenen Werken mit Bezügen zum Judentum nachvollziehen lässt, die während der 1920er
Jahre entstehen, wie z. B. Untergang eines Herzens (1927) oder Buchmendel (1929).
Mit dem Ende der 1920er Jahre und den beginnenden 1930er Jahren (Teil III) wird eine
solche rein ästhetische Auffassung vom Judentum unmöglich. Die Frage nach dem Judentum
gewinnt plötzlich eine konkrete politische Dimension von bestürzendem Ausmaß. Zweig
begreift die öffentliche Diskriminierung und Verfolgung von Juden in Deutschland nach
1933 früh im historischen Zusammenhang mit anderen Massenmorden am jüdischen Volk
und versucht über einige Jahre, ein gemeinsames Manifest jüdischer Schriftsteller
zu initiieren (vgl. Eingangszitat), das die ganze Absurdität dieses Ausschlusses einer
ganzen Generation von Kulturschaffenden vom öffentlichen Leben visualisieren soll.
Es wird schließlich an der Uneinigkeit der aufgerufenen Autorinnen und Autoren scheitern.16
Wir sind lebendige Anomalien, in einer Sprache schreibend und denkend, die uns entzogen
wird, in einem Lande lebend und an dessen Schicksal gebunden, dem wir nicht ganz verbunden
und in dem wir bloss geduldet sind, Juden ohne den religiösen Glauben und den Willen,
Juden zu sein, Pacifisten, die nicht widersprechen dürfen, wenn man gegen das Untier
rüstet und kämpft […]. Wie bequem wäre es, Zionist oder Bolschewik oder sonst ein
festgelegter Mensch zu sein, statt wie eine getriebene Planke in der Sturzflut herumgeworfen
zu werden, schon halb zerstossen und zermürbt!17
Die Briefe im dritten Teil, der mit insgesamt 72 Dokumenten den bei Weitem umfangreichsten
Teil der Edition bildet, scheinen, verglichen mit den Briefen der ersten beiden Teile,
eher nach ihrem dokumentarischen Charakter im Hinblick auf die Judenverfolgung ausgewählt,
denn nach dem Grad expliziter Bezüge zum Judentum. Dabei fördern die hier präsentierten,
bislang unveröffentlichten Zeugnisse mitunter Erstaunliches zutage, wie z. B. einen
Brief an Chaim Weizmann, den späteren ersten Präsidenten des Staates Israel, in dem
Zweig den Gedanken einer bereits zugrunde gegangenen „Welt der Sicherheit“, wie er
ihn in seiner Autobiographie über seine Jugendjahre formulieren wird, vorwegnimmt.18 Gleichfalls bemerkenswert, nicht nur im Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis
zum Judentum, sind die Schilderungen Zweigs über die Entwicklungen im Dritten Reich
nach der Gleichschaltung, wie sie den Briefen an Alfredo Cahn zu entnehmen sind. Gleichfalls
finden sich hier Stücke aus dem bislang nicht zur Gänze veröffentlichten Briefwechsel
Zweigs mit seinem Verleger Anton Kippenberg aus den Monaten nach der Machtergreifung
der Nationalsozialisten, die über den schwierigen Prozess der (erzwungenen) Ablösung
Zweigs vom Insel Verlag erstmals Details zutage fördern. Darüber hinaus gibt Litt
durch den Abdruck einiger auffallend herzlicher Briefe erstmals genauere Einblicke
in die Freundschaft Zweigs mit dem jiddisch schreibenden Schriftsteller Schalom Asch,
deren nähere Erforschung bislang ausgeblieben ist.
Trotz der offenkundigen Bestürzung und Verzweiflung Zweigs, die aus seinen späten
Briefen spricht, und trotz der auch für ihn persönlich schwerwiegenden Folgen der
politischen Judenverfolgung unter den Nationalsozialisten lassen die wenigsten der
in Litts Ausgabe vorgestellten Briefe Rückschlüsse auf eine tiefe private emotionale
Bindung an das Judentum als Religion zu. Mark H. Gelber spricht 2014 in seiner Monographie
von einem während der letzten Zeit Zweigs im brasilianischen Exil wachsenden religiösen,
bzw. dezidiert jüdisch-religionspraktischen Bedürfnis des Autors, einer wachsenden
Verbindung mit den jüdischen Gemeinden und dem Ritus des Judentums.19 Aus den Briefen, die Stefan Litt aus Zweigs Zeit in Brasilien vorlegt, in denen dieser
ausdrücklich ablehnt, „als jüdischer Apostel gerade jetzt nach Buenos Aires [zu] kommen“,20 geht dies nicht hervor.
Mit den Briefen zum Judentum schließt Stefan Litt eine wichtige Lücke in der Annäherung an den Themenkomplex des
Judentums in der Biographie Stefan Zweigs, die die Publikationen Gelbers sowie den
Sammelband des Stefan Zweig Zentrums in hervorragender Weise ergänzt und an sie anschließt.
Obgleich im Fußnotenapparat stellenweise etwas mehr Kontextualisierung wünschenswert
wäre, v. a. im Hinblick auf die zionistischen Netzwerke im Wien der Vorkriegszeit,
ist die Ausgabe Litts in editorischer Hinsicht sauber und quellenkundig gearbeitet.
Etwas problematisch erscheint lediglich, dass die Parameter der getroffenen Auswahl
von 120 Briefen aus einem erhobenen Bestand von 140 relevanten Dokumenten in der vorliegenden
Edition nicht weiter erläutert oder begründet werden. Zum Beispiel fehlen gänzlich
die Briefe an Joseph Roth, in denen, wie seit der Herausgabe des vollständigen Briefwechsels
Zweig/Roth im Jahr 2014 bekannt ist, das Thema des Judentums immer wieder eine Rolle
spielt. Auch eine fundierte Studie zur Haltung Zweigs zum Zionismus würde folglich,
so sie sich auf Ego-Dokumente stützen wollte, über Litts Ausgabe hinaus weitere Erhebungen
in den Originalen anstellen müssen.21 Zudem, angesichts des erwähnten Umfangs der insgesamt erhaltenen Briefbestände, wäre
ein präziser Bericht über die gesichteten Konvolute geboten gewesen. Die Tatsache,
dass bis auf die Briefe Zweigs an Romain Rolland, die seit 1987 in deutscher Übersetzung
vorliegen, keine Briefe Zweigs an frankophone Briefpartner einbezogen wurden, verweist
doch auf eine potenziell große Dunkelziffer von noch zu erschließenden relevanten
Briefen in französischer Sprache.
Stefan Litt hat eine Edition vorgelegt, die eine wunderbare Materialsammlung zu einem
bislang nicht systematisch erforschten – will heißen: bislang nur unzureichend auf
Originaldokumente gestützten – Themenkomplex darstellt, auf die weiterführende Editionsvorhaben,
wie sie sich für einige der hier auszugsweise präsentierten Briefwechsel dringend
anbieten, dankbar werden zurückgreifen können. Sie ist auf diese Weise ein Impulsgeber
von unschätzbarem Wert, ein weiterer Baustein in der immensen Aufgabe, den enormen
Briefnachlass Zweigs weiter zusammenzuführen und zu erschließen und, nicht zuletzt,
ein wichtiger – und in manchen Fällen möglicherweise sogar finaler – Beitrag zu so
manchen bislang strittigen Thesen oder Fragen der Stefan Zweig-Forschung, die hier,
anhand der Originaldokumente, zum ersten Mal nachvollziehbar und überprüfbar gemacht
werden.
Anmerkungen
-
Stefan Zweig an Felix Salten, Salzburg, 7. Mai 1933. In: Zweig, Briefe zum Judentum, 156.⬑
-
Gelber, Judentum und Zionismus, 258.⬑
-
Ähnlich weit verstreut ist der Nachlass Zweigs. Ein Versuch zu seiner digitalen Zusammenführung
wird derzeit am Literaturarchiv Salzburg mit der Plattform Stefan Zweig Digital unternommen, auf der die Bestände der weltweit größten Handschriften- und Typoskriptsammlungen
aus dem erweiterten Nachlass Zweigs zusammengeführt und zugänglich gemacht werden
sollen.⬑
-
Vgl. Zweig, Briefe zum Judentum, 20.⬑
-
Vgl. Zweig, Briefe zum Judentum, 20–21.⬑
-
Seiner Autobiographie, die posthum unter dem Titel Die Welt von gestern erschien, hatte Zweig zunächst den Arbeitstitel „Meine drei Leben“ gegeben. Oliver
Matuschek folgt 2006 in seiner Biographie dieser Einteilung Zweigs. Vgl. Matuschek,
Stefan Zweig, 10.⬑
-
Zweig, Briefe zum Judentum, 30.⬑
-
Zweig, Briefe zum Judentum, 31.⬑
-
Stefan Zweig an Martin Buber, 8. Mai 1916. In: Zweig, Briefe zum Judentum, 46.⬑
-
Litt konstatiert Überlieferungslücken von November 1922 bis Juli 1926, Sept. 1926
bis April 1928 und April 1928 bis April 1930. Vgl. Zweig, Briefe zum Judentum, 74.⬑
-
Vgl. Zweig, Briefe zum Judentum, 73.⬑
-
Stefan Zweig an Hans Rosenkranz, 10. Dezember 1921. In: Zweig, Briefe zum Judentum, 111.⬑
-
Vgl. Stefan Zweig an Franz Werfel, 26. Sept. 1926. In: Zweig, Briefe zum Judentum, 124–26.⬑
-
Vgl. Zweig, Briefe zum Judentum, 131–32.⬑
-
Stefan Zweig über Oskar Baums Roman Das Volk des harten Schlafs (1937). Vgl. Zweig, Briefe zum Judentum, 240.⬑
-
Vgl. Zweig, Briefe zum Judentum, 160.⬑
-
Stefan Zweig an Felix Braun, [Bath, England,] 16. Oktober 1939. In: Zweig, Briefe zum Judentum, 269.⬑
-
Vgl. Stefan Zweig an Chaim Weizmann, London, 16. Mai 1934: „„Wir werden – dies ist
meine Sorge – den jungen Leuten es wie eine Legende erzählen können, wie sicher und
sorglos im kurzen Zeitalter der Emanzipation unsere Väter in Mitteleuropa lebten […].“
In: Zweig, Briefe zum Judentum, 187. Vgl. hierzu den Titel des betreffenden Kapitels in Zweigs Autobiographie „Die
Welt der Sicherheit“. In: Zweig, Die Welt von Gestern, 17–44.⬑
-
Gelber berichtet z. B. vom expliziten Wunsch Zweigs, nach jüdischem Ritus beerdigt
zu werden, sowie von seiner Anregung, zu Jom Kippur die Synagoge zu besuchen. Vgl.
Gelber, Judentum und Zionismus, 257–58. Diese Bemerkungen stützen sich vor allem auf die Darstellungen des brasilianischen
Journalisten Alberto Dines, der im Jahr 2012 als Mitinitiator zur Begründung der Casa
Stefan Zweig in Petrópolis beitrug. Vgl. Dines, Tod im Paradies, 615.⬑
-
Stefan Zweig an Alfredo Cahn, Rio de Janeiro, 3. Oktober 1940. In: Zweig, Briefe zum Judentum, 278.⬑
-
Jasmin Sohnemann zitiert in einem eigenen Kapitel „Zweig an und über Zweig: Die Beziehung
im Spiegel von Briefen und Publikationen“ zahlreiche relevante Auszüge aus dem Briefwechsel
zwischen Stefan Zweig und Arnold Zweig, die in die vorliegende Edition nicht einbezogen
wurden. Vgl. Sohnemann, Arnold Zweig und Stefan Zweig in der Zwischenkriegszeit, 141–184.⬑
Literatur
Dines, Alberto. Tod im Paradies: Die Tragödie des Stefan Zweig. Übersetzt von Marlen Eckl. Frankfurt a. M.: Büchergilde Gutenberg, 2006.
Gelber, Mark H. Stefan Zweig: Judentum und Zionismus. Innsbruck: Studienverlag, 2014.
Gelber, Mark H., Elisabeth Erdem und Klemens Renoldner (Hg.). Stefan Zweig – Jüdische Relationen. Studien zu Werk und Biographie. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017.
Literaturarchiv Salzburg (Hg.). Stefan Zweig Digital. http://stefanzweig.digital
Matuschek, Oliver. Stefan Zweig: Drei Leben. Eine Biographie. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 2006.
Prater, Donald A. Stefan Zweig: Das Leben eines Ungeduldigen. Aus dem Englischen von Annelie Hohenemser. München: Carl Hanser, 1981.
Sohnemann, Jasmin. Arnold Zweig und Stefan Zweig in der Zwischenkriegszeit: Publizistisches Engagement,
Beziehungsgeschichte und literaturwissenschaftliche Rezeption bis in das 21. Jahrhundert. Berlin: Peter Lang, 2018.
Zweig, Stefan. Briefe. 1897–1942. Bd. I–IV, Hg. v. Knut Beck und Jeffrey B. Berlin. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1995–2005.
Zweig, Stefan. Briefe zum Judentum. Hg. v. Stefan Litt. Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2020.
Zweig, Stefan. Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers. Hg. und kommentiert von Oliver Matuschek. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 2017.
Zweig, Stefan und Romain Rolland. Briefwechsel 1910–1940, Bd. I und II. Hg. von Waltraud Schwarze. Berlin: Rütten & Loening, 1987.
Zweig, Stefan und Joseph Roth. Jede Freundschaft mit mir ist verderblich: Briefwechsel 1927-1938. Hg. v. Madeleine Rietra und Rainer-Joachim Siegel. Zürich: Diogenes, 2014.