„Wir sind lebendige Anomalien“: Über die neue Stefan-Zweig-Briefausgabe: Stefan Zweig. Briefe zum Judentum. Hg. v. Stefan Litt. Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2020. 295 Seiten, EUR 24, ISBN 978-3-633-54306-9.

Julia Rebecca Glunk  
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br./Literaturarchiv Salzburg
juliarebecca.glunk@plus.ac.at

Ich glaube, wir deutschen Schriftsteller jüdischer Rasse sollten jetzt gemeinsam ein Manifest verfassen […]. Wir müssten darin sagen, wie wir in der deutschen Sprache gelebt, wie wir ihr gedient haben, wie weit wir das Ansehen der deutschen Literatur über die Welt getragen haben und dass wir durch Jahrzehnte ohne Anfeindung und im innigsten Zusammenleben mit den besten Deutschen brüderlich gewirkt haben, bis 1933 die Neunzehnjährigen befahlen, wir sollten hebräisch schreiben.1

Am 10. Mai 1933, nur drei Tage, nachdem er diese Zeilen an den befreundeten Schriftsteller Felix Salten schreibt, verbrennt die Deutsche Studentenschaft in insgesamt 19 deutschen Universitätsstädten im Rahmen ihrer „Aktion wider den undeutschen Geist“ auch die Werke Stefan Zweigs. Der österreichische Schriftsteller hatte zu diesem Zeitpunkt fast zwei Jahrzehnte lang zu den meistgelesenen und meistübersetzten Autoren des deutschsprachigen Raumes gehört und sein literarisches Wirken dabei immer als Beitrag zu einer kulturellen Verständigung zwischen den europäischen Nationen verstanden. Nun sollte er, nur aufgrund seiner jüdischen Herkunft, in diesem selben Sprachraum politisch verfolgt, und sollte sein gesamtes Lebenswerk von demjenigen Buchmarkt getilgt werden, auf dem er groß geworden war: Diese Erfahrung bleibt zweifellos die radikalste Zäsur in der Biographie Zweigs und ihre maßgebende Tragik. Schon darum muss die Frage, wie Zweigs persönliches Verhältnis zu der Religion, in die er geboren worden war, im Detail eigentlich aussah, und ob und wie dies in seinen privaten Briefwechseln zum Ausdruck kam, die Forschung naturgemäß beschäftigen.

Dass diese in den vergangenen zehn Jahren ein besonderes Interesse an Zweigs Verhältnis zum Judentum zeigt, ist insbesondere den Impulsen Mark H. Gelbers zu verdanken, der im Jahr 2014 eine ausführliche Studie mit dem Titel Stefan Zweig: Judentum und Zionismus vorgelegt hat. In dieser Monographie ruft Gelber dazu auf, eine spezifische „jüdische Sensibilität“ Zweigs künftig verstärkt in die Betrachtung seiner Werke, seines Lebensweges und seiner Weltanschauungen mit einzubeziehen. (In den wegweisenden Biographien Donald A. Praters [dt. Ausgabe 1981] und Oliver Matuscheks [2006] sei dies, so Gelber, nur unzureichend geschehen.2) Das Buch Gelbers bietet einen thematischen und methodischen Überblick über das Potenzial des Themenfeldes: Neben der Analyse von Erzählungen und Dramen Zweigs mit ‚jüdischer Motivik‘, gibt der Autor hier einen Überblick über die jüdischen kulturellen Prägungen im Wien der Jahrhundertwende und in Zweigs Elternhaus – in dem die jüdische Religion im Grunde keine Rolle spielte – sowie die Kontakte des gerade neunzehnjährigen Stefan Zweig zu den großen Figuren des Wiener Kulturzionismus, wie dem Feuilleton-Chef der Wiener Neuen Freien Presse Theodor Herzl oder dem Philosophen Martin Buber. Weiter werden einige ausgewählte persönliche Beziehungen Zweigs zu wichtigen jüdischen Zeitgenossen näher beleuchtet. Dabei stützte Gelber sich unter anderem auf publizierte Briefwechsel, wie z. B. die mit Herzl und Buber sowie mit dem aus Galizien stammenden und ebenfalls jüdischen Schriftsteller Joseph Roth, und verwies überdies auf eine Anzahl noch nicht erschlossener Bestände wie z. B. Zweigs Briefe an seinen Cousin Egon Zweig, den späteren Gründer des Wiener Palästina-Amtes, an den befreundeten Autor von Werken in jiddischer Sprache Schalom Asch und an den englischen Schriftsteller und Übersetzer von jiddischer Literatur Joseph Leftwich.

Im Anschluss an die Monographie Gelbers, die dieser als Ausgangspunkt für weiterführende Forschung verstanden haben wollte, veranstaltete das Stefan Zweig Zentrum im Jahr 2015 gemeinsam mit Gelber eine internationale Konferenz in Salzburg, deren Ergebnisse zwei Jahre später als Sammelband mit dem Titel Stefan Zweig – Jüdische Relationen veröffentlicht wurden. In diesem Band, der in insgesamt dreizehn Beiträgen recht unterschiedliche Herangehensweisen und Themen versammelt, stützen sich lediglich vier Autorinnen und Autoren in ihren Beiträgen auf bislang unveröffentlichte Briefbestände: Evelyn Adunka untersucht anhand der Originaldokumente Zweigs Beziehung zum ostgalizischen Schriftsteller und Zionisten Marek Scherlag. Mark H. Gelber selbst befasst sich mithilfe der Briefe an Joseph Leftwich und an den Verleger Abrahão Koogan in Rio de Janeiro mit dem Verhältnis Zweigs zum Judentum während seiner letzten Zeit in Brasilien. Marlen Eckl widmet sich gleichfalls, gestützt auf die Briefe an den Übersetzer Alfredo Cahn und Koogan, dem Verhältnis Zweigs zur jüdischen Gemeinschaft in Brasilien. Und Jasmin Sohnemann präsentiert in ihrem Beitrag einen Ausschnitt ihrer umfassenden Analysen der Beziehung sowie des Briefwechsels zwischen Stefan Zweig und dem (mit ihm nicht verwandten) Schriftsteller Arnold Zweig, die im Jahr 2018 als Monographie erschienen ist.

Es ist, angesichts der beschriebenen, bislang nur sporadisch erfolgten Auswertung relevanter brieflicher Primärquellen, das große Verdienst Stefan Litts (Israelische Nationalbibliothek Jerusalem), erstmals in systematischer Weise diejenigen privaten Briefe Zweigs zu versammeln, die dem Themenkomplex des Judentums assoziiert werden können. Diese Unternehmung ist, angesichts der außerordentlichen Größe der erhaltenen Bestände, keine geringe: Schätzungen gehen von insgesamt ca. 25 000 Briefen und Postkarten von der Hand Stefan Zweigs aus, wobei die vierbändige Briefausgabe von Knut Beck und Jeffrey B. Berlin, die bis heute maßgebende Briefanthologie, etwa 1 000 Dokumente versammelt. Zahlreiche verschiedene Aufbewahrungsorte weltweit sowie die potenzielle Varianz, die durch die Intransparenz des privaten Autographenhandels bzw. ‑besitzes gegeben ist, führen zu einer Forschungssituation, die sich in ständiger Bewegung befindet – wobei selbst die bekannten, in namhaften Institutionen aufbewahrten und potenziell zugänglichen Bestände aufgrund ihrer schieren Größe bislang nicht zur Gänze erschlossen sind.3

So ist auch der Anlass zur vorliegenden Edition kein ungewöhnlicher innerhalb der Stefan Zweig-Forschung: Den Impuls für die Ausgabe Briefe zum Judentum gab, so berichtet Litt einleitend, eine Schenkung von 30 Briefen und Postkarten Zweigs an den zu Beginn des Briefwechsels gerade einmal sechzehnjährigen Hans Rosenkranz, den späteren Leiter des J. M. Spaeth-Verlags in Berlin, die die Israelische Nationalbibliothek in Jerusalem im Jahr 2016 erhielt.4 Das Ergebnis der anschließenden Recherchen Litts nach weiteren Briefen Zweigs zum Thema des Judentums ist ein recht überschaubares Konvolut von 140 Briefen – rein quantitativ betrachtet also „weniger als ein Prozent seiner angenommenen Gesamtkorrespondenz“5 –, von denen die vorliegende Edition eine Auswahl von 120 Briefen und Postkarten an 43 verschiedene, sämtlich männliche Adressaten bildet, darunter u. a. Martin Buber, Marek Scherlag, Abraham Schwadron, Karl Emil Franzos, Victor Fleischer, Egon Zweig, Anton Kippenberg, Max Brod, Joseph Leftwich, Schalom Asch, Arnold Zweig, Romain Rolland und Siegmund Warburg.

Stefan Litt präsentiert diese 120 Briefe, von denen insgesamt 69 in der vorliegenden Ausgabe zum ersten Mal vollständig publiziert werden, in drei Teilen und folgt damit einer in der Stefan Zweig-Forschung recht üblichen biographischen Einteilung, die auf eine eigene Auffassung Stefan Zweigs zurückgeht.6 Teil I (1900 bis 1918) beinhaltet dabei 18 Briefe, Teil II (1920 bis 1932) 30 Briefe, Teil III (1933 bis 1941) 72 Briefe, wobei Litt jeweilige Überlieferungslücken, d. h. Zeitspannen, innerhalb derer keine Briefe zum Thema Judentum ausgemacht werden konnten, so z. B. zwischen 1901 und 1904 sowie 1906 bis 1913, klar benennt.7 Die drei Teile der Briefausgabe erfahren jeweils eine kurze kontextualisierende Einleitung, die die wesentlichen biographischen Rahmendaten für die jeweilige Zeitspanne benennt, thematisch in die im Folgeteil präsentierten Briefe einführt und diese innerhalb der Biographie Zweigs kontextualisiert. Innerhalb der Primärtexte dient ein Sachstellenkommentar der punktuellen Erläuterung verwendeter Namen, Institutionen, Ereignisse oder Werktitel.

Im ersten Teil stellt Litt v. a. Briefe vor, die einen jungen Autor auf der Suche nach Publikationsmöglichkeiten für seine frühen Erzählungen und Texte, z. T. auch mit dezidiert jüdischen Themen wie z. B. die Novelle Im Schnee aus dem Jahr 1900, zeigt. Theodor Herzl wird ihm zu einem frühen Förderer. Mit dessen jungem Antipoden innerhalb der Zionistischen Bewegung, Martin Buber, setzt sich Zweig brieflich ausführlich und kritisch über den Zionismus auseinander: Schlüsseltexte, die zum Großteil bereits aus der Briefanthologie Becks und Berlins bekannt sind, die hier jedoch erstmals im ihnen gemäßen Zusammenhang zu lesen sind. Den Tod Herzls im Jahr 1904 bringt Litt denn auch in einen Zusammenhang mit der parallel anbrechenden Zeit im Leben Zweigs nach dem Studium, die v. a. von Reisen ins inner- und außereuropäische Ausland dominiert ist und für seine fortan beherrschende internationalistische Geisteshaltung prägend wird. Der Internationalismus, so Litt, tritt ab diesen Jahren gewissermaßen an die Stelle der vormaligen Sympathie für den Kulturzionismus, seine Haltung gegenüber der Frage nach einem jüdischen Staat präzisiert sich hin zu einer überzeugten „Bejahung der Diaspora als eigentlichen Ausdrucks der weltbürgerlichen Berufung des Judentums“8 anstelle einer Eingrenzung auf den Gedanken an einen jüdischen Staat oder gar eine eigene, jüdische Identität‘.

[I]ch sage nur Ihnen, dass ich entsprechend meiner Natur, die ganz auf Bindung, auf Synthese eingestellt ist, das Judentum nie mir als Kerker meiner Empfindung wählen möchte, der Gitterstäbe des Begreifens gegen die andere Welt hat […]: aber ich weiss, dass ich doch ruhe darin und nie ihm abtrünnig sein will und werde. Ich bin nicht stolz darauf, weil ich jeden Stolz auf eine Leistung ablehne, die nicht von mir selbst aus ward, so wie ich nicht stolz bin auf Wien, obwohl ich dort geboren bin, oder auf Goethe, weil er meiner Sprache ist oder auf Siege ‚unserer‘ Armeen, bei denen mein Blut nicht geflossen ist.9

Während Zweig während des Ersten Weltkrieges früh eine neue Welle des Antisemitismus voraussieht, die dem Ende des europäischen Krieges nachfolgen könnte (und in der Tat würde), tritt dennoch, gemessen an den von Litt erhobenen Briefen, die Auseinandersetzung Zweigs mit dem Judentum mit Beginn der 1920er Jahre zunächst wieder in den Hintergrund.10 Dieser zweite Teil der Briefedition bietet Ausschnitte aus Korrespondenz Zweigs mit dem Verleger Anton Kippenberg sowie den beiden Herausgebern Meir Wiener und dem Prager Oberrabbiner Heinrich Chaim Brody über eine Anthologie hebräischer Lyrik, die Zweig in Kippenbergs Insel Verlag innerhalb der von ihm mitbegründeten Reihe Bibliotheca Mundi in Originalsprache erscheinen lassen will – eine Ausgabe (Bd. I, 1922), die in Palästina und Israel noch in der Nachkriegszeit zahlreiche Neuauflagen erfahren würde.11

Zu den Besonderheiten dieses zweiten Teils gehören zweifellos die rührenden Briefe Zweigs an Hans Rosenkranz, die den Ausgangspunkt der vorliegenden Ausgabe gebildet hatten, in denen Zweig dem Jüngeren unter anderem rät, „ein Stück ihrer Jugend ausserhalb Deutschlands zu verleben, in einem Lande, wo man das jüdische Problem nicht so ständig auf den Nägeln brennen hat wie bei uns.“12 Weiter finden sich in diesem Teil der Ausgabe immer wieder Besprechungen Zweigs von Werken von Kollegen, die Themen aus der Geschichte des Judentums behandeln, wie z. B. Franz Werfels Paulus unter den Juden (1926)13 sowie Samuel Lewins Chassidische Legende (dt. Ausgabe 1925).14 Ganz augenscheinlich ist in diesen Dokumenten, dass Zweig eine literarische Verarbeitung von ‚jüdischen Stoffen‘ vor allem dort begrüßt, wo „Geschichte in Dichtung verwandelt [wird]“15 und die Geschichte des Judentums anstelle einer theoretischen oder politischen eine ästhetisierte Verhandlung erfährt – eine Herangehensweise, die sich so auch an seinen eigenen Werken mit Bezügen zum Judentum nachvollziehen lässt, die während der 1920er Jahre entstehen, wie z. B. Untergang eines Herzens (1927) oder Buchmendel (1929).

Mit dem Ende der 1920er Jahre und den beginnenden 1930er Jahren (Teil III) wird eine solche rein ästhetische Auffassung vom Judentum unmöglich. Die Frage nach dem Judentum gewinnt plötzlich eine konkrete politische Dimension von bestürzendem Ausmaß. Zweig begreift die öffentliche Diskriminierung und Verfolgung von Juden in Deutschland nach 1933 früh im historischen Zusammenhang mit anderen Massenmorden am jüdischen Volk und versucht über einige Jahre, ein gemeinsames Manifest jüdischer Schriftsteller zu initiieren (vgl. Eingangszitat), das die ganze Absurdität dieses Ausschlusses einer ganzen Generation von Kulturschaffenden vom öffentlichen Leben visualisieren soll. Es wird schließlich an der Uneinigkeit der aufgerufenen Autorinnen und Autoren scheitern.16

Wir sind lebendige Anomalien, in einer Sprache schreibend und denkend, die uns entzogen wird, in einem Lande lebend und an dessen Schicksal gebunden, dem wir nicht ganz verbunden und in dem wir bloss geduldet sind, Juden ohne den religiösen Glauben und den Willen, Juden zu sein, Pacifisten, die nicht widersprechen dürfen, wenn man gegen das Untier rüstet und kämpft […]. Wie bequem wäre es, Zionist oder Bolschewik oder sonst ein festgelegter Mensch zu sein, statt wie eine getriebene Planke in der Sturzflut herumgeworfen zu werden, schon halb zerstossen und zermürbt!17

Die Briefe im dritten Teil, der mit insgesamt 72 Dokumenten den bei Weitem umfangreichsten Teil der Edition bildet, scheinen, verglichen mit den Briefen der ersten beiden Teile, eher nach ihrem dokumentarischen Charakter im Hinblick auf die Judenverfolgung ausgewählt, denn nach dem Grad expliziter Bezüge zum Judentum. Dabei fördern die hier präsentierten, bislang unveröffentlichten Zeugnisse mitunter Erstaunliches zutage, wie z. B. einen Brief an Chaim Weizmann, den späteren ersten Präsidenten des Staates Israel, in dem Zweig den Gedanken einer bereits zugrunde gegangenen „Welt der Sicherheit“, wie er ihn in seiner Autobiographie über seine Jugendjahre formulieren wird, vorwegnimmt.18 Gleichfalls bemerkenswert, nicht nur im Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis zum Judentum, sind die Schilderungen Zweigs über die Entwicklungen im Dritten Reich nach der Gleichschaltung, wie sie den Briefen an Alfredo Cahn zu entnehmen sind. Gleichfalls finden sich hier Stücke aus dem bislang nicht zur Gänze veröffentlichten Briefwechsel Zweigs mit seinem Verleger Anton Kippenberg aus den Monaten nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, die über den schwierigen Prozess der (erzwungenen) Ablösung Zweigs vom Insel Verlag erstmals Details zutage fördern. Darüber hinaus gibt Litt durch den Abdruck einiger auffallend herzlicher Briefe erstmals genauere Einblicke in die Freundschaft Zweigs mit dem jiddisch schreibenden Schriftsteller Schalom Asch, deren nähere Erforschung bislang ausgeblieben ist.

Trotz der offenkundigen Bestürzung und Verzweiflung Zweigs, die aus seinen späten Briefen spricht, und trotz der auch für ihn persönlich schwerwiegenden Folgen der politischen Judenverfolgung unter den Nationalsozialisten lassen die wenigsten der in Litts Ausgabe vorgestellten Briefe Rückschlüsse auf eine tiefe private emotionale Bindung an das Judentum als Religion zu. Mark H. Gelber spricht 2014 in seiner Monographie von einem während der letzten Zeit Zweigs im brasilianischen Exil wachsenden religiösen, bzw. dezidiert jüdisch-religionspraktischen Bedürfnis des Autors, einer wachsenden Verbindung mit den jüdischen Gemeinden und dem Ritus des Judentums.19 Aus den Briefen, die Stefan Litt aus Zweigs Zeit in Brasilien vorlegt, in denen dieser ausdrücklich ablehnt, „als jüdischer Apostel gerade jetzt nach Buenos Aires [zu] kommen“,20 geht dies nicht hervor.

Mit den Briefen zum Judentum schließt Stefan Litt eine wichtige Lücke in der Annäherung an den Themenkomplex des Judentums in der Biographie Stefan Zweigs, die die Publikationen Gelbers sowie den Sammelband des Stefan Zweig Zentrums in hervorragender Weise ergänzt und an sie anschließt. Obgleich im Fußnotenapparat stellenweise etwas mehr Kontextualisierung wünschenswert wäre, v. a. im Hinblick auf die zionistischen Netzwerke im Wien der Vorkriegszeit, ist die Ausgabe Litts in editorischer Hinsicht sauber und quellenkundig gearbeitet. Etwas problematisch erscheint lediglich, dass die Parameter der getroffenen Auswahl von 120 Briefen aus einem erhobenen Bestand von 140 relevanten Dokumenten in der vorliegenden Edition nicht weiter erläutert oder begründet werden. Zum Beispiel fehlen gänzlich die Briefe an Joseph Roth, in denen, wie seit der Herausgabe des vollständigen Briefwechsels Zweig/Roth im Jahr 2014 bekannt ist, das Thema des Judentums immer wieder eine Rolle spielt. Auch eine fundierte Studie zur Haltung Zweigs zum Zionismus würde folglich, so sie sich auf Ego-Dokumente stützen wollte, über Litts Ausgabe hinaus weitere Erhebungen in den Originalen anstellen müssen.21 Zudem, angesichts des erwähnten Umfangs der insgesamt erhaltenen Briefbestände, wäre ein präziser Bericht über die gesichteten Konvolute geboten gewesen. Die Tatsache, dass bis auf die Briefe Zweigs an Romain Rolland, die seit 1987 in deutscher Übersetzung vorliegen, keine Briefe Zweigs an frankophone Briefpartner einbezogen wurden, verweist doch auf eine potenziell große Dunkelziffer von noch zu erschließenden relevanten Briefen in französischer Sprache.

Stefan Litt hat eine Edition vorgelegt, die eine wunderbare Materialsammlung zu einem bislang nicht systematisch erforschten – will heißen: bislang nur unzureichend auf Originaldokumente gestützten – Themenkomplex darstellt, auf die weiterführende Editionsvorhaben, wie sie sich für einige der hier auszugsweise präsentierten Briefwechsel dringend anbieten, dankbar werden zurückgreifen können. Sie ist auf diese Weise ein Impulsgeber von unschätzbarem Wert, ein weiterer Baustein in der immensen Aufgabe, den enormen Briefnachlass Zweigs weiter zusammenzuführen und zu erschließen und, nicht zuletzt, ein wichtiger – und in manchen Fällen möglicherweise sogar finaler – Beitrag zu so manchen bislang strittigen Thesen oder Fragen der Stefan Zweig-Forschung, die hier, anhand der Originaldokumente, zum ersten Mal nachvollziehbar und überprüfbar gemacht werden.

Anmerkungen

  1. Stefan Zweig an Felix Salten, Salzburg, 7. Mai 1933. In: Zweig, Briefe zum Judentum, 156.

  2. Gelber, Judentum und Zionismus, 258.

  3. Ähnlich weit verstreut ist der Nachlass Zweigs. Ein Versuch zu seiner digitalen Zusammenführung wird derzeit am Literaturarchiv Salzburg mit der Plattform Stefan Zweig Digital unternommen, auf der die Bestände der weltweit größten Handschriften- und Typoskriptsammlungen aus dem erweiterten Nachlass Zweigs zusammengeführt und zugänglich gemacht werden sollen.

  4. Vgl. Zweig, Briefe zum Judentum, 20.

  5. Vgl. Zweig, Briefe zum Judentum, 20–21.

  6. Seiner Autobiographie, die posthum unter dem Titel Die Welt von gestern erschien, hatte Zweig zunächst den Arbeitstitel „Meine drei Leben“ gegeben. Oliver Matuschek folgt 2006 in seiner Biographie dieser Einteilung Zweigs. Vgl. Matuschek, Stefan Zweig, 10.

  7. Zweig, Briefe zum Judentum, 30.

  8. Zweig, Briefe zum Judentum, 31.

  9. Stefan Zweig an Martin Buber, 8. Mai 1916. In: Zweig, Briefe zum Judentum, 46.

  10. Litt konstatiert Überlieferungslücken von November 1922 bis Juli 1926, Sept. 1926 bis April 1928 und April 1928 bis April 1930. Vgl. Zweig, Briefe zum Judentum, 74.

  11. Vgl. Zweig, Briefe zum Judentum, 73.

  12. Stefan Zweig an Hans Rosenkranz, 10. Dezember 1921. In: Zweig, Briefe zum Judentum, 111.

  13. Vgl. Stefan Zweig an Franz Werfel, 26. Sept. 1926. In: Zweig, Briefe zum Judentum, 124–26.

  14. Vgl. Zweig, Briefe zum Judentum, 131–32.

  15. Stefan Zweig über Oskar Baums Roman Das Volk des harten Schlafs (1937). Vgl. Zweig, Briefe zum Judentum, 240.

  16. Vgl. Zweig, Briefe zum Judentum, 160.

  17. Stefan Zweig an Felix Braun, [Bath, England,] 16. Oktober 1939. In: Zweig, Briefe zum Judentum, 269.

  18. Vgl. Stefan Zweig an Chaim Weizmann, London, 16. Mai 1934: „„Wir werden – dies ist meine Sorge – den jungen Leuten es wie eine Legende erzählen können, wie sicher und sorglos im kurzen Zeitalter der Emanzipation unsere Väter in Mitteleuropa lebten […].“ In: Zweig, Briefe zum Judentum, 187. Vgl. hierzu den Titel des betreffenden Kapitels in Zweigs Autobiographie „Die Welt der Sicherheit“. In: Zweig, Die Welt von Gestern, 17–44.

  19. Gelber berichtet z. B. vom expliziten Wunsch Zweigs, nach jüdischem Ritus beerdigt zu werden, sowie von seiner Anregung, zu Jom Kippur die Synagoge zu besuchen. Vgl. Gelber, Judentum und Zionismus, 257–58. Diese Bemerkungen stützen sich vor allem auf die Darstellungen des brasilianischen Journalisten Alberto Dines, der im Jahr 2012 als Mitinitiator zur Begründung der Casa Stefan Zweig in Petrópolis beitrug. Vgl. Dines, Tod im Paradies, 615.

  20. Stefan Zweig an Alfredo Cahn, Rio de Janeiro, 3. Oktober 1940. In: Zweig, Briefe zum Judentum, 278.

  21. Jasmin Sohnemann zitiert in einem eigenen Kapitel „Zweig an und über Zweig: Die Beziehung im Spiegel von Briefen und Publikationen“ zahlreiche relevante Auszüge aus dem Briefwechsel zwischen Stefan Zweig und Arnold Zweig, die in die vorliegende Edition nicht einbezogen wurden. Vgl. Sohnemann, Arnold Zweig und Stefan Zweig in der Zwischenkriegszeit, 141–184.

Literatur

Dines, Alberto. Tod im Paradies: Die Tragödie des Stefan Zweig. Übersetzt von Marlen Eckl. Frankfurt a. M.: Büchergilde Gutenberg, 2006.

Gelber, Mark H. Stefan Zweig: Judentum und Zionismus. Innsbruck: Studienverlag, 2014.

Gelber, Mark H., Elisabeth Erdem und Klemens Renoldner (Hg.). Stefan Zweig – Jüdische Relationen. Studien zu Werk und Biographie. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017.

Literaturarchiv Salzburg (Hg.). Stefan Zweig Digital. http://stefanzweig.digital

Matuschek, Oliver. Stefan Zweig: Drei Leben. Eine Biographie. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 2006.

Prater, Donald A. Stefan Zweig: Das Leben eines Ungeduldigen. Aus dem Englischen von Annelie Hohenemser. München: Carl Hanser, 1981.

Sohnemann, Jasmin. Arnold Zweig und Stefan Zweig in der Zwischenkriegszeit: Publizistisches Engagement, Beziehungsgeschichte und literaturwissenschaftliche Rezeption bis in das 21. Jahrhundert. Berlin: Peter Lang, 2018.

Zweig, Stefan. Briefe. 1897–1942. Bd. I–IV, Hg. v. Knut Beck und Jeffrey B. Berlin. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1995–2005.

Zweig, Stefan. Briefe zum Judentum. Hg. v. Stefan Litt. Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2020.

Zweig, Stefan. Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers. Hg. und kommentiert von Oliver Matuschek. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 2017.

Zweig, Stefan und Romain Rolland. Briefwechsel 1910–1940, Bd. I und II. Hg. von Waltraud Schwarze. Berlin: Rütten & Loening, 1987.

Zweig, Stefan und Joseph Roth. Jede Freundschaft mit mir ist verderblich: Briefwechsel 1927-1938. Hg. v. Madeleine Rietra und Rainer-Joachim Siegel. Zürich: Diogenes, 2014.