Peter O. Büttner, Andreas Kilcher, Nurit Blatman und Christine Lötscher (Hg.), Heidi in Israel: Eine Spurensuche. Katalog zur Ausstellung, Hannover: Wehrhahn Verlag, 2021, 262 Seiten, EUR 22, ISBN 978-3-86525-909-7

Gabrielle Oberhänsli-Widmer  
Universität Freiburg im Breisgau
gabrielle.oberhaensli@orient.uni-freiburg.de

Inhalt

Anmerkungen

Heidi in Israel? Die bekannte Romanfigur aus helvetischer Heimat umgetopft in mediterranes Milieu? Das mag auf den ersten Blick komisch anmuten. Die Tatsache aber, dass Dutzende hebräische Adaptionen von Johanna Spyris 1880 erschienenem Heidi israelische Kinder seit vielen Jahrzehnten verzaubern, lässt aufhorchen. Erstmals 1946 von Israel Fishman ins Hebräische übertragen, liegt Heidi in immer neuen Versionen vor. Die jüngste Übersetzung hat Hanna Livnat erst unlängst im Jahr 2020 realisiert. Im Rahmen von Bühnenstück, Singspiel und Musical hat das hebraisierte Schweizer Mädchen das israelische Publikum in nahezu jedem Theater von Eilat bis Naharijja erobert. Außerdem haben Fernsehserien, Kinofilme, Comics, Hörspiele und Heidi-Lieder das Ihre zur israelischen Heidimania beigetragen. Hier muss offensichtlich ein ernst zu nehmendes Phänomen vorliegen, das die nähere Betrachtung lohnt. Eben dies hat sich die Ausstellung Schatten und Licht – Heidis Erfolgsgeschichte in Israel, eine Spurensuche zur Aufgabe gemacht. Die Ausstellung, zuerst vom 7. September bis zum 17. Oktober 2021 im Heidiseum in Kilchberg/CH zu sehen, reist nun als Wanderausstellung weiter und wird am 22. März 2022 im Jüdischen Museum München in erweiterter Form eröffnet. Ebenso beeindruckend wie die Ausstellung selber ist der dazu erstellte Katalog, der den eigenwilligen Kulturtransfer aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet – literarisch, linguistisch, historisch und mehr, ein äußerst ertragreiches Werk, das es im Folgenden vorzustellen gilt.

Doch wie hat Heidi den Weg von den Bündner Alpen in israelische Kinderstuben gefunden? Die Antwort darauf bedarf eingangs einer kurzen Orientierung im Originaltext. 1880 veröffentlichte die Zürcher Kinder- und Jugendbuchautorin Johanna Spyri (1827–1901) den ersten Teil ihres Entwicklungs- und Bildungsromans Heidis Lehr- und Wanderjahre, 1881 folgte der zweite Teil Heidi kann brauchen, was es gelernt hat, später der Untertitel Eine Geschichte für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben. Der Plot ist schnell umrissen. Das Waisenkind Heidi kommt als Fünfjährige auf die Alp zu ihrem Großvater, dem Alp-Öhi, einem verbitterten Eigenbrötler, welcher mit Gott und Menschen gleichermaßen hadert. Entgegen der Erwartung der ‚Dörfli‘-Bewohner verstehen sich Öhi und Heidi indes auf Anhieb, sodass Großvater und Enkelin sich zu einer liebevollen Familiengemeinschaft mausern. Doch dann reißt die lieblose Tante Dete die beiden auseinander, indem sie Heidi nach Frankfurt in das vermögende Haus Sesemann zerrt, damit Heidi dort der Tochter des Hauses, der lahmen Klara, Gesellschaft leiste. Obwohl die beiden Mädchen schnell Freundschaft schließen, sehnt sich Heidi im großbürgerlichen Luxus nach seiner bescheidenen Alphütte und siecht sichtbar an der ‚Schweizerkrankheit‘, sprich an Heimweh dahin. Dank der Fürsorge von Klaras Vater und der Umsicht des Hausarztes kann Heidi schließlich zum Großvater zurückkehren. So mündet der erste Teil in ein erstes Happy End. Im zweiten Teil kommt Klara zu Besuch auf die Alp und wird dort wie durch ein Wunder gesund, nicht zuletzt durch Heidi, denn ‚das Kind‘ – wie Heidi im Roman stereotyp genannt wird – wirkt auf Mensch und Tier wie ein Glücksbringer, sei es auf den Geißenpeter oder auf dessen blinde Großmutter, deren späte Tage Heidi mit unvermuteter Lebensfreude füllt: „‚Ach, Kind! Ach, Kind! Was bringst du denn für einen Segen mit!‘ rief die Großmutter aus, als es nicht enden wollte mit den Brötchen, und immer noch eins folgte. ‚Aber der größte Segen bist du mir doch selber, Kind!’“1

Mag auch die Heidi-Rezeption zuweilen kitsch- und klischeeanfällig daherkommen, das Original hingegen ist ein Wurf. Johanna Spyri hat es verstanden, mit ihrer kleinen Protagonistin eine Figur von archetypischer Kraft zu gestalten. Die angeborene Herzensbildung dieses Heidi, seine anrührende Beziehungsfähigkeit zeugen von einem urwüchsigen Naturkind. Nicht von ungefähr lernt Heidi vor jedem Schulbesuch mit Einmaleins und Abc seine eigene unverfälschbare Art zu lesen, indem es Augen, Mimik und Verhalten seiner Mitmenschen studiert. Und obwohl Heidi mehr einer großelterlichen Sicht als einer Kinderperspektive erwächst, tritt es doch nie als altkluges Mustermädchen auf, sondern erfrischt mit seiner zuweilen drolligen Kinderlogik. 1880, das Jahr vom Durchschlag des Gotthardtunnels, steht somit parallel zum Durchbruch der Schweizer Kinderliteratur. Zufall oder nicht, die geographische Öffnung der Schweiz fällt mit einer literarischen zusammen: Johanna Spyris Heidi wird zu einem internationalen Bestseller und im Laufe der Jahre in zahlreiche Sprachen übersetzt ­ – manche Quellen sprechen von 50 Sprachen, manche von 70.

Darunter inzwischen eine ganze Reihe hebräischer Übersetzungen. Und damit zum Katalog Heidi in Israel. Insgesamt 24 Beiträge beleuchten diese ungewöhnliche Wirkungsgeschichte des ‚Meitli‘. Schweizerische und israelische Historiker und Sprachwissenschaftlerinnen, Schauspieler und Übersetzerinnen, Buchhändler und Künstlerinnen widmen sich einzelnen Gattungsformen des nunmehr hebräischen Heidi, seinen verschiedenen Wiedergaben und Spielarten. Dabei kommen einerseits grundlegende Themen zur Sprache wie Heimat und Exil, Übersetzungsproblematik und Kulturtransfer oder Kinderbuchliteratur und Pädagogik, andererseits rücken spezifische Aspekte ins Rampenlicht, beispielsweise Illustrationstechniken, Buchkulturen oder Fotoserien.

Ebenso ergiebig wie amüsant sind die vielfältigen Überlegungen zur sprachlichen, kulturellen und zeitlichen Übertragung des Heidi zu lesen: vom Deutschen ins Hebräische, vom christlichen Mitteleuropa in den israelisch-jüdischen Nahen Osten, vom späten 19. Jahrhundert in die zweite Hälfte des 20. und ins beginnende 21. Jahrhundert. Bei den ersten hebräischen Heidi-Adaptionen, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und noch vor der Staatsgründung Israels 1948 geschrieben, handelt es sich vorwiegend um Nachdichtungen des ursprünglichen Romans, und bezeichnenderweise ist die erste tatsächlich textgetreue Übersetzung erst die oben erwähnte aus dem Jahr 2020. Denn Heidi entwickelte sich zusammen mit den israelischen Kindergenerationen und dem sich wandelnden Zeitgeist: Legten die frühen Übertragungen unmittelbar nach der Schoa den inhaltlichen Schwerpunkt auf Heidis Schicksal als Waisenkind, so entpuppte sich Heidi angesichts des Zionismus zu einer Protopionierin mit Kibbuz-Mentalität – ein weibliches Pendant sozusagen zum ha-’ivri he-chadasch, zum ‚neuen Hebräer‘ –, und aktuell schickt sich das Naturkind an, als Botschafterin einer nachhaltigen Lebensführung zu punkten. Ebenso hat sich der Beiname der Titelheldin verändert, indem das anfängliche Heidi bat ha-Alpim, ‚Heidi, Tochter der Alpen‘, zu Heidi bat he-harim, zum ‚Heidi, Tochter der Berge‘ wurde, sich der Bezug zu Europa mithin abschwächt. Nicht zuletzt spiegelt sich eine solche Entwicklung auch im Namen der Tiere, denn während Öhis Geißen in Johanna Spyris Originaltext ‚Schwänli‘ und ‚Bärli‘ hießen (zur Erläuterung von Helvetismen und Hintergrund: ‚kleiner Schwan‘ ist die weiße Ziege, ‚kleiner Bär‘ die braune), so trat die mit Rädern versehene Sperrholz-Ziege im hebräischen Heidi-Drama zunächst als Suzy und später als Zuzu auf (S. 139) – musikalisch übrigens weder von Naturjuchz noch Jodel begleitet, sondern vielmehr von Swing und Bossa Nova, israelischen Klängen und zeitgenössischen Rhythmen (S. 142). Coole Israeliness gesellt sich zu helvetischer Alpidylle. Und schließlich galt es gewisse kulturelle Unstimmigkeiten zu harmonisieren, wie etwa die im Spyri-Original an sich harmlose Notiz, dass der Öhi am Sonnabend sprich am Samstag Hütte und Stall zu säubern pflegte. Putzen am Schabbat?! Das geht gar nicht! Sodass sich Shlomo Nitzan in seiner Heidi-Übersetzung von 1983 genötigt sah, den israelischen Kindern zu erklären, dass der Sonntag „der Sabbat der Christen ist“ (S. 96). Unliebsame Passagen in diesem Kontext wie etwa die Kirchenlieder wurden zuweilen auch schlicht gestrichen. Fälschlicherweise verwendet Zohar Shavit in diesem Zusammenhang den Ausdruck ‚Psalmen‘ (S. 94).

Damit sind schon einige Gründe der regen Rezeption von Heidi in Israel angesprochen. Weitere nennt der Präsident der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, Jacques Lande, in seinem Geleitwort zur Ausstellung. Namentlich das Zweigespann Öhi–Heidi, der Großvater mit seiner dunklen Vergangenheit und das elternlose Kind, berührten die von der Schoa-Vergangenheit Betroffenen. Unter ihnen sehnten sich in erster Linie die nach Palästina emigrierten Jecken, die deutschen Juden, nach ihrer Muttersprache und nach einer grünen Berglandschaft, auf Schweizer Boden allerdings, galt ihnen doch die vom Krieg verschonte Schweiz als Inbegriff einer heilen Welt (S. 9–10).

Darüber hinaus hilft eine Relecture von Johanna Spyris Kinderbuch im Hinblick auf die Ausstellung, die israelische Rezeption weiter zu verdeutlichen. So zeigt die Personenkonstellation des Romans keine einzige Familie intakt, jede Figur versehrt, alle Akteure als Witwen oder Waisen. Doch Not und Trauer weichen Gesundung und Versöhnung. Der Roman führt vom Unbehaustsein zur Heimat, von einer Heimatlosigkeit zu neuer Behausung. Aus Unglück wird Glück. Als Heilmittel wirkt allem voran der Generationenvertrag, und heilsam agiert allen voran Heidi. Heidi heilt: den verbitterten Öhi, den einsamen Geißenpeter, dessen blinde Großmutter, die lahme Klara – und vielleicht nicht zuletzt die Dichterin Johanna Spyri selber, welche ihren Depressionen mit der Gestaltung des Heidi eine heilende Fiktion entgegenzusetzten suchte.

Und dann ist da noch die Religion, ein zwischen Judentum und Christentum oft vermintes theologisches Terrain, welche im Heidi jedoch eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Hier kursiert viel Unpräzises. Wiederholt wird dabei Johanna Spyri als pietistisch typisiert. Als Frau des Zürcher Stadtschreibers Bernhard Spyri war sie sicherlich den reformierten Werten Huldrych Zwinglis verpflichtet, und Gedichte von pietistischer Frömmigkeit schrieb ihre Mutter, die Dichterin Meta Heusser-Schweizer. Von Johanna Spyri aber heißt es, „wenn ihr nach meiner Biographie fragt, so lest meine Bücher“ (S. 217). Und da zeugt ihr Roman von einer ganz anderen Religiosität: einem beinahe pantheistischen Kinderglauben. Seine geradezu göttliche Freude schöpft Heidi aus der Natur, aus den Bergen, der Sonne, den Blumen und Tannen. Vielleicht liegt hier der Bündner Lyriker Walter Lietha mit seiner provokanten Frage „Heidi – Heidin?“ gar nicht so falsch (S. 220). Repräsentiert werden die religiösen Werte in Spyris Roman vornehmlich von der Figur der Großmama Sesemann. Sie vermittelt Heidi, Klara und Peter eine elementare Ethik, ein mit Gerechtigkeit gepaartes Gottvertrauen. Im Gegensatz zu den oft formulierten Vorurteilen erweisen sich die entsprechenden Passagen gerade nicht als konfessionell eng. Kein einziges Mal fällt der Name ‚Jesus‘ oder das Adjektiv ‚christlich‘. Und selbst die oben erwähnten Kirchenlieder, welche Heidi Peters Großmutter auf deren Wunsch vorliest, besingen einen allen Menschen zugewandten Gott, namentlich die bekannte „Güld‘ne Sonne“ von Paul Gerhardt, ein Morgenhymnus im Stil barocker Dichtung. Die verwendeten Gottesbezeichnungen schließlich sind entweder Ausdruck einer kindlichen Vertrautheit – ‚lieber Gott‘ etwa –, oder aber sie gehören zur Schnittmenge jüdisch-christlicher Epitheta – wie ‚Gott im Himmel‘ und ‚Vater im Himmel‘ –, die das rabbinische Repertoire ebenso verwendet. Eine solche Religiosität stellt sich denn auch von jüdischer Seite als leicht rezipierbar heraus. Offenkundig hat Johanna Spyris Spiritualität die Israelis bewegt, der Tiefgang ihres Werkes mutmaßlich deren kollektives Unbewusstes berührt.

Angesichts all dieser Betrachtungen scheint Heidis Siegeszug in Israel richtiggehend evident. Und die Spurensuche nach dem hebräischen Heidi erweist sich als ein Musterbeispiel faszinierender Wirkungsgeschichte. So wünscht man Heidi nun auf seiner Wanderausstellung von Herzen be-hazlacha, viel Erfolg, und dem Katalog viele geneigte Leser und ebensolche Leserinnen!

Anmerkungen

  1. Johanna Spyri, Heidi. Erster Teil: Heidis Lehr- und Wanderjahre; Zweiter Teil: Heidi kann brauchen, was es gelernt hat, München: Anaconda Verlag 2021, S. 181.