Editorial zum Themenschwerpunkt BUCHSTABIL: Von Büchern und Menschen. Zum 85. Geburtstag von Elazar Benyoëtz

Anna Rosa Schlechter 
Hebräische Universität Jerusalem & Universität Wien
anna.rosa.schlechter@univie.ac.at
Claudia Welz 
Universität Aarhus
clw@cas.au.dk

Inhalt

Anmerkungen

Vor 56 Jahren erschien in der 22. Ausgabe der Print-Version von Judaica: Beiträge zum Verstehen des Judentums der Artikel „Auf dem Weg nach Jerusalem. Moderne Dichtung aus Israel“, verfasst von der Germanistin Renate Heuer. Dieser Text stellt die erste deutsche Reaktion auf die hebräische Dichtung von Elazar Benyoëtz dar. Aus dem jungen hebräischen Dichter sollte Jahrzehnte später der bekannteste moderne Aphoristiker deutscher Sprache werden, der in einem Atemzug mit Canetti, Kraus und Lichtenberg genannt wird.

Es ist daher besonders erfreulich, dass über ein halbes Jahrhundert später anlässlich des 85. Geburtstages des in Jerusalem und Tel Aviv lebenden Jubilars ein Themenschwerpunkt zu seinem Werk in der Nachfolge-Zeitschrift Judaica: Neue digitale Folge erscheint. Mit der Schweiz verbinden Benyoëtz seit den 1960er Jahren vielfältige Kontakte, die für sein späteres literarisches Schaffen im Deutschen ausschlaggebend waren, beispielsweise die enge Freundschaft mit der deutsch-jüdischen Dichterin, Essayistin und Literaturkritikerin Margarete Susman. 2017 verlieh die Theologische Fakultät der Universität Bern Elazar Benyoëtz alias Paul Koppel und seiner Frau Metavel, der Miniaturenmalerin und Kalligraphin Renée Koppel, ein Ehrendoktorat.

Der hier vorliegende interdisziplinäre Themenschwerpunkt versammelt wissenschaftliche Artikel aus den Disziplinen der Literaturwissenschaft, Theologie, Religionsphilosophie und Judaistik, die neue Einblicke in das Gesamtwerk von Elazar Benyoëtz bieten, das stets dialogisch mit Büchern und Lesern in Beziehung tritt. Die Beiträge decken eine breite Spannweite von verschiedenen Themen ab:

Lydia Koelle behandelt in ihrem Artikel „‚… ich liebte Gomer‘ – Elazar Benyoëtz und Silja Walter: Solothurn 2003 — davor und danach“ 1 die Begegnung zwischen Elazar Benyoëtz und der römisch-katholischen Ordensfrau Silja Walter bei einer gemeinsamen Dichterlesung im Rahmen der Solothurner Literaturtage. Der Artikel beleuchtet nicht zuletzt theologische Aspekte dieser jüdisch-christlichen Begegnung und deren briefliche Vorbereitung und Fortsetzung.

Friedemann Spicker nimmt aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive die Rolle der zweiten Person Singular und der Dialogizität in den Aphorismen und zahlreichen Zitaten im Werk des Dichters ins Visier. Spickers Beitrag trägt den unmittelbar an-sprechenden Titel „,Die Menschen, auf die es ankommt: Du und ich‘. Die dialogische Struktur im Werk von Elazar Benyoëtz“.2

Auch Werner Helmich befasst sich mit dem ‚Zitatenwerk‘ bei Benyoëtz in seinem Beitrag „Spruchzitate: Funktionen und Gattungsstatus des Zitats in der neueren Aphorismendichtung von Elazar Benyoëtz“.3 Helmich präsentiert Benyoëtz aus einer romanistischen Perspektive nicht nur als Aphoristiker, sondern auch als Philologe und zitierenden Kommentator, indem er das Verhältnis zwischen den vom „aktuellen Autor“ stammenden Aphorismen und den von ihm neu ins Blickfeld gerückten Zitaten untersucht.

Knut Wenzel verfolgt eine ähnliche Stoßrichtung in seinen religionsphilosophisch-germanistischen Beobachtungen zum Aphorismus als fragmentarischer Figur des Absoluten, welche als „Abbreviatur“ dennoch dialektisch auf das Ganze verweist. „Abkürzungen ins Absolute. Werk aus Aphorismen“ heißt sein Beitrag.4

Libera Pisanos Artikel „Wohnwort: The linguistic homelands of Elazar Benyoëtz5 stellt das Werk des Dichters begrüßenswerterweise auch der anglophonen Forschungsgemeinschaft vor. Pisano behandelt ein Thema, das unterschwellig und zuweilen explizit Benyoëtz’ Schreiben bestimmt: die in seiner deutsch-hebräischen Sprachseele ausgetragene Spannung zwischen der geographischen Verortung und der philologischen Herkunft. Diese Spannung prägt Pisano zufolge die symbolischen Landschaften seiner Poesie und ist exemplarisch für die Sprachphilosophie der Diaspora.

Während Benyoëtz als Erwachsener seit seinen Reisen nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz in den 1960ern die gefühlte Entwurzelung einerseits durch die Gottesbeziehung („Nirgendwo zuhause, / allerwegs in Gottes Hand“) und andererseits die polyglotte Mobilität und Weltenwanderung zwischen den Sprachen und Ländern kompensieren kann, verbrachte er seine Kindheit und Jugend in Mandat-Palästina und Israel vor allem im Hebräischen.

Seine ersten Schritte zum aphoristischen Schreiben im Deutschen unter dem Einfluss des Hebräischen und der jüdisch-orthodoxen Tradition fanden in den späten 1950ern und frühen 1960ern statt, und aus diesem Zeitraum stammen auch die im Anhang publizierten Autobiographischen Mitteilungen. Deren Ertrag wird ausgewertet im literaturhistorischen Artikel „Bücherblühen – Anfänge aphoristischer Autorschaft bei Elazar Benyoëtz“6 von Jan Kühne und Anna Rosa Schlechter, welcher vor allem die Frühphase des Dichters erhellt.

Dabei wird sowohl auf Archivmaterial wie etwa den Vorlass des Dichters in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien zurückgegriffen als auch auf sein ‚Selbstbildnis in Büchern‘: seine eigene Auswahl der wichtigsten Werke seiner Autorenbibliothek, die er 2021 dem Franz-Rosenzweig-Minerva-Forschungszentrum für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem vermacht hat.

Diese Schenkung von zirka 600 sorgfältig ausgewählten Büchern ermöglicht eine bisher undenkbare Autorenbibliotheks- und Lesespurenforschung. Kühne und Schlechter präsentieren bereits einige Fallstudien (und zwar zu Else Lasker-Schüler, Gershom Scholem, Hugo Bergmann, dem kabbalistischen Sprachdenken im Sefer Jezira, zu Benyoëtz’ Lektüre von Joachim Günthers Aphorismen gemeinsam mit Werner Kraft sowie zu Benyoëtz’ kritischer Selbstlektüre). Sie verweisen des Weiteren auf die vielen Lücken und Desiderata der Benyoëtz-Forschung.

Die bereits genannte, bislang unveröffentlichte frühe autobiographische Skizze des intellektuellen Werdegangs des Dichters wird hier erstmals in einer kritischen Edition vorgelegt.7 Es bleibt zu hoffen, dass die in unseren Judaica-Themenschwerpunkt eingegangenen Artikel samt Edition der autobiographischen Skizze und die neu eröffnete Autorenbibliothek in Jerusalem weitere Forschung zu dem weltweit einzigartigen Werk von Elazar Benyoëtz anregen werden.

Im Titel des Schwerpunkts haben wir einen gelungenen Neologismus des Dichters aufgegriffen: BUCHSTABIL verbindet in der Liebe zum Buch als einer unverrückbaren Konstante im Leben von Benyoëtz das Bibliophile und Stabile. Dabei kommt es beim ‚Buch der Bücher‘ auf jeden einzelnen Buchstaben an, dessen Bedeutung Generationen von Lesenden noch heute nach-denken. Benyoëtz’ Lieblingsbücher sind Bücher von Menschen für Menschen, um des Menschen und der Menschlichkeit willen. Benyoëtz bezeugt überdies die Erfahrung, dass wir für die Herkunft der Gedanken, die uns ‚durch den Kopf gehen‘, keine Rechenschaft ablegen und uns die ‚Geistesblitze‘ auch nicht völlig aneignen können, wodurch er die Möglichkeit ihres transzendenten Ursprungs offenhält und mitten in unserer säkularen Welt noch Raum lässt für das Unerwartete und Unwahrscheinliche, ja Gewagte am religiösen Glauben an eine göttliche (Mit‑)​Autorschaft.

Die Relevanz der besonders im jüngsten Werk von Benyoëtz zunehmenden Zitate aus kaum mehr bekannten, längst vergriffenen Büchern aus versunkenen Literaturwelten liegt im Gedenken an deren ansonsten vergessene Verfasser, deren Stimmen im Herbeizitieren wieder laut und deren Werke uns wieder zu lesen nahegelegt werden („Zitieren – ins Nachleben rufen“). Dies geschieht in Verlängerung der gigantischen Erinnerungsarbeit in der vom Jubilar initiierten Bibliographia Judaica. Grazil und buchstabil, verlässlich und überraschend.

Wir danken dem Gefeierten und wünschen ihm Gesundheit und Kreativität!

עד מאה ועשרים!

Die Herausgeberinnen, Sommer 2022

Anmerkungen

  1. https://doi.org/10.36950/jndf.2022.11

  2. https://doi.org/10.36950/jndf.2022.12

  3. https://doi.org/10.36950/jndf.2022.13

  4. https://doi.org/10.36950/jndf.2022.14

  5. https://doi.org/10.36950/jndf.2022.15

  6. https://doi.org/10.36950/jndf.2022.16

  7. https://doi.org/10.36950/jndf.2022.17