Philo of Alexandria: On the Life of Abraham. Introduction, Translation, and Commentary by Ellen Birnbaum and John Dillon. Brill: Leiden 2021. xxiii, 492 pages, EUR 195, ISBN 978-90-04-42363-3

René Bloch 
Universität Bern
rene.bloch@unibe.ch

Mit Ellen Birnbaum und John Dillon haben sich eine Doyenne und ein Doyen der Philon-Forschung des Traktats De Abrahamo angenommen. Die Ausgabe erscheint in der «Philo of Alexandria Commentary Series» (PACS) bei Brill und folgt dem von früheren Bänden bekannten Schema. Nach einer ausführlichen Einführung (80 Seiten) folgt die englische Übersetzung des Traktats. Teil 2 (200 Seiten) besteht aus einem Kommentar, aufgeteilt in jeweils allgemeine Bemerkungen, detaillierte Notizen sowie Erklärungen zum Nachleben. Die PACS-Bände bieten einen sehr ausführlichen, geradezu umfassenden Kommentar. Auch dieser Band dürfte auf Jahre die reichste Quelle für einschlägige Erklärungen zu Philons De Abrahamo bleiben. Die Nachteile des Formats liegen auf der Hand und müssen in Kauf genommen werden: Rasches Nachschlagen einer Stelle mit dem dazugehörigen Kommentar ist nur schwer möglich; der griechische Text wird nicht abgedruckt. Wie in allen PACS-Bänden sind biblische Zitate leicht ersichtlich (fett markiert), ebenso biblische Anspielungen (kursiv).

Die Herausgeber verstehen De Abrahamo zusammen mit De Vita Mosis als Einführung zu Philons sogenannter «Expositio» und datieren den Traktat in die Jahre nach der Entsendung zu Kaiser Caligula (39/40 n. Chr.). Insgesamt bleiben sie aber (mit guten Gründen) vorsichtig bezüglich einer «intellektuellen und/oder spirituellen Entwicklung» Philons (S. 16 und S. 75). Was das Genre von De Abrahamo anbelangt, so tendieren die Herausgeber dazu, den Text als Biographie (bios) zu verstehen – im Wissen, dass der Traktat nur bedingt ein typisches Beispiel hierfür ist (S. 25). Philons angepeilte Leserschaft wird zu Recht als «breit» beschrieben (S. 27). Philon schrieb auch diesen Traktat gewiss nicht nur für Nichtjuden. Vielleicht ist die Frage nach der Leserschaft und nach Philons entsprechender «Taktik» (apologetisch oder eher weniger) in der Forschung etwas überstrapaziert worden. Gelegentlich fährt auch der Kommentar von Birnbaum und Dillon in diesem Fahrwasser. Bemerkenswert bleibt, dass in De Abrahamo der Bund zwischen Gott und Abraham (Gen 15 und 17) nicht thematisiert wird. Aber muss dies mit Philons Leserabsicht erklärt werden? Wagte es Philon tatsächlich nicht, wie Birnbaum und Dillon argumentieren, gegenüber einem (auch) nichtjüdischen Publikum vom Bund Gottes mit Abraham und Israel zu sprechen (S. 43: «it is understandable that he [Philo] might exclude the biblical accounts of the very particular relationship established by God with Abraham and his offspring»)?

Zentral in De Abrahamo ist Philons Lesung von Abraham als ungeschriebenem Gesetz, das als Paradigma das geschriebene (von Moses dann verkündete) vorwegnimmt. Abraham verkörpert das Gesetz, ist selbst Gesetz – darauf läuft der Traktat hinaus (Abr. 276): «Such, then, is the life of the first and founder of the nation – as some would have, one who kept the law (νόμιμος), but as my account has made clear, himself a law and unwritten ordinance (νόμος αὐτὸς ὢν καὶ θεσμὸς ἄγραφος)».

Mit Recht verweisen Birnbaum und Dillon auf die auffallend starke Präsenz der Immigrantenthematik in De Abrahamo (S. 56). Auch in der wohl zeitnah verfassten Moses-Biographie ist Einwanderung und Auswanderung (nicht nur im Kontext der Exodus-Geschichte) ein wichtiges Thema (Mos. 1,34-36). Sind hier allenfalls die Polemiken um den juristischen Status der Juden Alexandriens, wie man sie aus den Berichten Philons und Josephus’ kennt, greifbar?

Im Kommentar wird man naturgemäß nicht mit allen Erklärungen einverstanden sein. Gehen die hebräischen Namensetymologien notgedrungen auf eine Philon vorliegende Liste zurück? Können sie zumindest teilweise nicht doch Philon zugeschrieben werden (S. 157)? Bei schwierigen Fragen überlassen die Herausgeber die Entscheidung gelegentlich dem Leser – nachdem Argumente in verschiedene Richtungen vorlegt wurden: so z. B. im Kontext von Abr. 178–199 zur Frage, ob jene Kritiker, die die Fastopferung Isaaks kritisierten, Juden oder Nichtjuden waren (S. 312–316).

Die neue englische Übersetzung liest sich gut; sie ist in der Tendenz etwas wortgetreuer als jene von Colson in der Loeb Classical Library. In Abr. 17, zum Namen Henoch, unterschied Colson in seiner Übersetzung zwischen dem Wort bei den Hebräern und jenem «bei uns» («our language»). Dillon und Birnbaum sind mit ihrer Übersetzung («but as the Greeks would say») deutlich näher beim griechischen Original (ὡς δ᾿ ἂν Ἕλληνες εἴποιεν).

Zwar ist der Band gewiss nicht ohne Längen, v. a. die Einleitung hätte gekürzt werden können. Insgesamt aber ist von Ellen Birnbaum und John Dillon eine kommentierte Ausgabe von De Abrahamo vorgelegt worden, die diesen zentralen Text Philons für ein breites Publikum auf verlässliche und gewinnbringende Art und Weise zugänglich macht.