Das jüdische Mendelssohnbild lebt weiter: Neue Literatur zu Moses Mendelssohns Philosophie aus jüdischer Sicht – Christoph Schulte. Von Moses bis Moses… Der jüdische Mendelssohn. Hannover: Wehrhan Verlag, 2020. 248 Seiten, EUR 22, ISBN 978-3-86525-797-0; Eli Schonfeld. Mendelssohn’s Apology: The Birth of Modern Jewish Philosophy [Hebräisch]. Jerusalem: Carmel Publishing, 2019. 167 Seiten, NIS 84, ISBN 978-965-540-924-6.

Ze’ev Strauss 
Universität Hamburg
zeev.strauss@uni-hamburg.de

Der renommierte deutsch-jüdische Aufklärungsdenker Moses Mendelssohn (1729–1786) gilt der deutschen Philosophiegeschichte zweifelsohne als eine Schlüsselfigur und Ausnahmeerscheinung. Ungeachtet seiner tragenden geschichtlichen Stellung wird Mendelssohns philosophischem Denken in den Geisteswissenschaften ungenügend Rechnung getragen und es als ein randständiges Phänomen erachtet. Dieser bedauerliche Umstand ist womöglich Resultat von Hegels folgenschwerer Geringschätzung in seinen philosophiegeschichtlichen Vorlesungen: er würdigt ihm darin überraschenderweise keinen eigenen Abschnitt. Er pflegt ihm dort überdies zu unterstellen, er habe „in populärer, geschmackvollerer Form philosophiert“.1 Er klassifiziert ihn als einen Denker, der sich ausschließlich am wollfschen Metaphysizieren „des trockenen, toten Verstandes“ orientierte und sonst für die Philosophiegeschichte keinen erkennbaren Beitrag zu leisten wusste.2 Allerdings war Hegels Wahrnehmung von Mendelssohn — wenngleich er mit dessen Schriften von klein auf vertraut war und diese seine Denkentwicklung sogar tief zu prägen scheinen3 — letztendlich mangelhaft und tendenziös: Er kannte mit ziemlicher Sicherheit seine wirkmächtigen hebräischen Bibelkommentare nicht und ignorierte die ausgeprägte spekulative Gedankentiefe seines wichtigen Spätwerkes Morgenstunden, worin er, laut Hegel, „die Metaphysik […] auf ihr Dünnstes reduziert“ sah.4

Dieser vorurteilsbehafteten Einschätzung konnten zwei neuerdings erschienene monographische Aufarbeitungen von Mendelssohns jüdischem Denken Substantielles entgegensetzen. Christoph Schulte, dessen Buch den vielsagenden Titel Von Moses bis Moses… Der jüdische Mendelssohn trägt, spricht diese klischeehafte Betrachtungsweise explizit an: „Dagegen [gegen die Sonderstellung von Kant in der modernen Philosophie] ist der Jude Mendelssohn seit Hegel mit dem Odium des Populärphilosophen behaftet, der der von Kant ‚überwundenen‘ Leibniz-Wolffschen Metaphysik ein wenig letzten Glanz und populäre Politur verschaffte, bevor sie vollkommen zu Recht der Vergessenheit und der Philosophiegeschichte anheim gegeben wurde“ (S. 28). Mit seinem Buch setzt sich Schulte zum Ziel, diese Klischeevorstellung zu widerlegen und vielmehr Argumente für das Gegenteil anzuführen: die Aktualität von Mendelssohns Philosophie aufzuzeigen; dies neben seiner „ungeheuer wichtige[n] Rolle als ‚Vater‘ und Symbolfigur der jüdischen Aufklärung und Emanzipation in Deutschland und Europa“ (S. 28). Das Buch basiert auf Schultes jahrzehntelanger Beschäftigung mit Mendelssohns Denken (S. 237) und zeichnet sein umfassendes jüdisches Mendelssohnbild nach. Die Zielsetzung des Werkes besteht darin, in „bestimmte Probleme und vereinzelte Textstellen aus dem Werk Mendelssohns vertieft und manchmal sehr spezialistisch“ einzuführen und dennoch zugleich einen Überblick über „Persönlichkeit, Gesamtwerk und Wirkungsgeschichte Mendelssohns“ zu liefern (S. 237).

Das Buch besteht aus dreizehn Kapiteln, die jeweils einen zentralen Teilaspekt aus Mendelssohns jüdischem Denken bzw. innerjüdischer Wirkungsgeschichte aufgreifen, woraus sich am Ende der jüdische Mendelssohn in seiner bemerkenswerten Einzigartigkeit herauskristallisiert. Als forschungsbezogene Ausgangspunkte für seine philosophiegeschichtliche Sicht auf den jüdischen Mendelssohn nennt Schulte namentlich drei bedeutende monographische Studien: David Sorkins Moses Mendelssohn and the Religious Enlightenment (1996), Grit Schorchs Moses Mendelssohns Sprachpolitik (2012) und Elias Sacks’ Moses Mendelssohn’s Living Script (2017). Darüber hinaus stützt sich das Buch auch auf weitere Untersuchungen zu Mendelssohn, wie etwa die von Daniel Krochmalnik, Gideon Freudenthal, Dominique Bourel, Alexander Altmann, Moshe Pelli sowie von Shmuel Feiner. Thematisch lassen sich die verschiedenen Kapitel auf sechs Kategorien verteilen:

Die ersten drei Kapitel (S. 15–59) präsentieren Mendelssohn im breiteren historischen Kontext der deutschen Aufklärungsbewegung und bringen dessen jüdisches Denken hierfür mit Kants Aufklärungsbestimmung und Lessings geschichtlichem Fortschrittsoptimismus in Dialog. Eindrucksvoll und überzeugend zeigt Schulte darin, dass Mendelssohns Positionen, gerade aufgrund seiner besonderen Minderheitsperspektive und der prekären politischen Lage in Preußen, in einigen Punkten weitaus aktueller seien und konsequenter gedacht wurden. Im deutlichen Unterschied zu Kants Aufklärungsauffassung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ wusste Mendelssohn, worauf Schulte mit gutem Recht hinweist, aus eigenen lebensnahen Erfahrungen, dass der unmündige Zustand der preußischen Juden fremdverschuldet war. Aus diesem Grund konzipiert Mendelssohn in seinem Aufklärungsaufsatz die Aufgeklärtheit eines Individuums im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, als notwendig gekoppelt mit kultureller, lebenspraktischer Bildung, die unter anderem Sittlichkeit, Geselligkeit sowie ästhetischen Sinn umfasst.

Das darauffolgende Kapitel über Mendelssohns Kritik an der christlichen Religion ist aufschlussreich. Darin arbeitet der Autor die gedankliche Wesensdifferenz zwischen dem eher christentumskritischen Mendelssohn und Lessings Nathan dem Weisen heraus, der gegenüber den beiden anderen Offenbarungsreligionen neutral blieb. Mendelssohns Einwände gegen die christlichen Glaubenslehren legt Schulte unter Verweis auf dessen pointiertes Schreiben von 1770 an den Erbprinzen Karl von Braunschweig dar, wodurch er „sein Selbstbekenntnis zur Aktualität und Unüberholtheit des Judentums“ (S. 72) argumentativ zu untermauern vermag.

Das Hauptaugenmerk des Buches legt Schulte auf Mendelssohns kompromisslose Verteidigung des rabbinischen Judentums, die in vier Kapiteln schwerpunktmäßig thematisiert wird (S. 77–139). Kapitel fünf und sechs beleuchten Mendelssohns Rechtfertigung der jüdischen Gesetzgebung in ihrer systematisierten Auffassung der mündlichen Tradition der Rabbinen angesichts bibelkritischer und/oder anti-rabbinischer Anschauungen seitens prominenter protestantischer Aufklärungsdenker (Johann Gottfried Eichhorn, Robert Lowth, Christian Wilhelm von Dohm, Johann David Michaelis und Johann Gottfried Herder). Dabei belegt Schulte durch tiefgreifende Darstellungen, dass für Mendelssohn – dessen „Philosophie des Judentums […] eine Philosophie des rabbinischen Judentums“ sei (S. 96) – nicht die „[r]abbinische Tradition und Halacha, noch das die Protestanten so erregende Festhalten am jüdischen ‚Zeremonialgesetz‘ und der mündlichen Tradition in allen ihren Details […] weder der in Aussicht gestellten bürgerlichen Verbesserung noch kritischer Historisierung noch der Poetisierung und Ästhetisierung der hebräischen Bibel geopfert werden [sollen]“ (S. 93). Die Zentralstellung der rabbinischen Traditionsliteratur schlägt sich auch in Mendelssohns Verständnis der sieben Noachidischen Gebote als Naturrecht nieder, die für alle nichtjüdischen Menschen gelten. Der Autor geht darauf detailliert ein, wie Mendelssohn seine väterliche Religion mittels der von den Rabbinen überlieferten Idee der allgemeinverbindlichen Noachidischen Gebote im Sinne einer universellen und insoweit aufklärungsaffinen Weltanschauung abzubilden imstande sei (S. 134). Ferner demonstriert Schulte im achten Kapitel, inwiefern sich der Berliner Sokrates gleichfalls in seiner außerordentlichen Pentateuch-Exegese als gegenüber der rabbinischen Traditionsliteratur treuer Interpret erweist. Am Beispiel von Mendelssohns markanter deutscher Übersetzung für den in Ex 3:14 von Gott selbst geoffenbarten Gottesnamen Ehejeh ašer Ehejeh mit „Ich bin das Wesen, welches ewig ist“ sucht der Autor diesen Aspekt zu veranschaulichen. Er führt die rabbinischen Quellen näher aus, auf die Mendelssohn sich beruft, um dessen philosophische Auslegung dieses Gottesnamens (der Ewige) zu begründen (S. 143–145).

Angeregt von einer Darstellung von Mendelssohns nach seinem Tod veranlasster Büste befasst sich das nächste Kapitel vorrangig mit der Frage nach der Stellung des Bilderverbotes und der bildenden Kunst in Mendelssohns jüdischem Denken. Verständlich illustriert Schulte unter Bezugnahme auf Mendelssohns Deutung und Übersetzung seiner Pentateuchausgabe Pfade des Friedens, dass der Berliner Aufklärer den Vers Ex 20,4–5 „nicht im Sinne eines Bilderverbots, sondern eines Götzenbilderverbots“ versteht (S. 164). Diese markante Lesart solle dem Autor zufolge als Bejahung bildender Kunst ohne religiöse Inhalte begriffen werden (S. 164–165).

Das anschließende Kapitel rückt Isaac Euchels hebräische Mendelssohnbiographie von 1788 in den Mittelpunkt. Anhand dessen führt Schulte nicht nur weitere informative Einzelheiten zur historischen Person Mendelssohns an, sondern auch wie die Folgegeneration deutschsprachiger jüdischer Aufklärer sich ihn zum Vorbild „des modernen, aufgeklärten Juden“ nahmen (S. 170–171). Euchel machte sich das jüdische Mendelssohnbild zunutze, um die Emanzipation und Integration der aufklärungsaffinen, im deutschsprachigen Raum ansässigen Juden in die christliche Majoritätsgesellschaft voranzutreiben (S. 188–189). Das folgende Kapitel schließt an diesen Integrations- und Emanzipationsgedanken insofern an, als es das Thema adressiert, wie prominente Vertreter der jüdischen Aufklärung – exemplarisch werden Euchel und David Friedländer aufgegriffen – Mendelssohns Ideale der jüdischen Emanzipation fortsetzten. Während das mendelssohnsche Emanzipationsmodell uneingeschränkt „der rabbinischen Tradition verpflichtet [blieb]“, entwarfen die jungen jüdischen Aufklärer vergleichbare Konzeptionen, wenngleich mit unterschiedlichen Schwerpunktverlagerungen: Euchel schlägt einen neuen Weg „der radikalen, säkularen Erneuerung der hebräischen Sprache und Kultur aus ausgesuchten Quellen der jüdischen Tradition“ ein (S. 199). Friedländers Modell, das sich weniger über religiöse Observanz und eine kollektive jüdische Kultur definiert, ist eher pragmatisch liberal und sieht in wirtschaftlicher Orientierung an bürgerlichen Bildungs- und Familienvorstellungen der christlichen Mehrheitsgesellschaft die entscheidenden Faktoren für die aufstrebende Emanzipation der Juden in Preußen (S. 201–203).

Das vorletzte Kapitel reflektiert über gesamtgesellschaftliche Prozesse in Preußen wie das Aufklärungsideal der jüdisch-christlichen Männerfreundschaft, die ersten Liebesverhältnisse und Ehen zwischen Juden und Christen sowie die parallele Herausbildung eines rassistisch aufgeladenen Antisemitismus. Von der berühmten Mendelssohn-Lessing-Freundschaft ausgehend (S. 206–208) gewährt Schulte einen imponierenden Überblick über all diese neu entstandenen Phänomene der preußischen Gesellschaft. Dadurch wird Mendelssohn nicht als präzedenzloser, isolierter Einzelfall, sondern vielmehr als Teil einer breiteren, durchgreifenden sozialstrukturellen Veränderung erachtet.

Im abschließenden Kapitel thematisiert Schulte den Umstand, dass ausgerechnet in Israel die Rezeption von Mendelssohns Denken und Gesamtunterfangen nur begrenzt erfolgt. Den Grund hierfür sieht Schulte in erster Linie darin, dass Mendelssohn aus zionistischer Sicht die naiven diasporischen Emanzipationsbestrebungen der deutschen Juden repräsentierte. Er spricht in diesem Zusammenhang eine Vielzahl von größtenteils unbegründeten „zionistischen Anschuldigungen gegen Moses Mendelssohn hinsichtlich Assimilation, Entjudung des Judentums, Taufe, oder Zerstörung der hebräischen Sprache und Kultur“ an (S. 234).

Schultes Monografie gewährt tiefe Einblicke in das Denken und die geschichtlichen Zusammenhänge des jüdischen Mendelssohn. Obwohl die Kapitel des Buches auf einzelnen Artikeln (manche unveröffentlicht) aufbauen und kein zusammenfassendes Fazit enthalten ist, ist es Schulte dennoch eindrucksvoll gelungen, aus diesen elegant ein thematisch einheitliches Ganzes herauszuarbeiten. Die anspruchsvolle Lektüre des Buches ist durch den schönen Schreibstil des Autors stets kurzweilig und eignet sich deswegen nicht nur für ein wissenschaftliches Publikum, sondern auch für eine nichtakademische Leserschaft. Hierin liegt eine große Leistung von Schultes Werk: Sie macht Mendelssohns ungenügend berücksichtigte Errungenschaften auf dem Gebiet der modernen jüdischen Tradition einem deutschsprachigen Publikum zugänglich und vermittelt dabei, wenn auch in grober Skizzierung, einen recht deutlichen Eindruck davon, weshalb der Berliner Aufklärer der jüdischen Geschichte als eine entscheidende Figur gilt. Dank seiner großen thematischen Bandbreite bietet das Buch eine Gesamtschau des jüdischen Mendelssohnbildes, welches Schulte Stück für Stück in nicht weniger als dreizehn Kapiteln und mit einer Vielzahl an zugespitzten Formulierungen sorgfältig nachzeichnet. Jedes einzelne Kapitel stellt Schultes Expertise als einen weltweit renommierten Mendelssohnkenner unter Beweis: von der Geschichte der Berliner Aufklärung über die allgemeine deutsche Philosophiegeschichte bis hin zur jüdischen Traditionsliteratur. Wiederholt ist er bestrebt, für die Aktualität Mendelssohns zu plädieren, die er auch für unsere heutigen politischen Diskurse fruchtbar zu machen sucht.

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Eine weitere und ein Jahr früher erschienene Monografie auf Hebräisch über Mendelssohns Philosophie aus der jüdischen Perspektive verdient gleichermaßen Beachtung: Eli Schonfelds Mendelssohn’s Apology: The Birth of Modern Jewish Philosophy (Ha-Apologiah šel Mendelssohn: Huledet Ha-Filosofiah Ha-Jehudit Ha-Modernit). Dieses Buch ist eine hebräische Übersetzung und in etlichen Punkten ausführliche Aufarbeitung (S. 18) seines ursprünglich 2018 auf Französisch im prestigeträchtigen Verdier Verlag publizierten Werkes L'apologie de Mendelssohn. Diese Monografie ist in der akademischen Landschaft Israels eine Ausnahmeerscheinung auf dem Gebiet der Philosophie, in der man selten Neuerscheinungen zu Mendelssohns Denken begegnet. Das letzte prominente Buch in diesem Zusammenhang ist Gideon Freudenthals 2012 erschienene Studie No Religion without Idolatry: Mendelssohn’s Jewish Enlightenment. Der Ansatz von Schonfeld bei seiner Mendelssohn-Monografie ist unkonventionell und bietet keine philosophiegeschichtliche Analyse von Mendelssohns jüdischem Denken im herkömmlichen Sinne. Vielmehr sucht er nachzuweisen, dass Mendelssohns berühmtes apologetisches Werk Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum geradezu als die Entstehung der modernen jüdischen Philosophie zu verstehen sei. Er legt Mendelssohns Jerusalem als eine Art Auseinandersetzung mit den großen jüdischen Philosophen Maimonides und Spinoza aus. Bei seiner Darstellung von Mendelssohns konzeptioneller Auffassung des Judentums greift Schonfeld auf eine Reihe moderner jüdischer Philosophen zurück, an erster Stelle auf seinen Lehrer Benny Lévy, aber auch auf Emmanuel Levinas und Franz Rosenzweig.

Das Buch besteht aus zwei thematischen Hauptteilen: Der erste Teil trägt den Titel „Über das Gebot“ (ʿAl Ha-Miṣwah) (S. 21–126) und der zweite „Über die Auserwähltheit“ (ʿAl Ha-Nivḥarut) (S. 127–151). In den Buchkapiteln behandelt er eine ganze Reihe von Thematiken: Mendelssohns Auffassung des jüdischen Universalismus angesichts des jüdischen Partikularismus, dessen Verständnis der Sinaioffenbarung, seine platonisch angehauchte Schriftkritik, die Verschränkung zwischen Praxis und Theorie, das in seinem Denken zum Ausdruck kommende Verhältnis zwischen Gebot und Glaube, zwischen dem Geschriebenen und Mündlichen.

Es gelingt Schonfeld zu zeigen, dass Mendelssohn, ungeachtet seines betont universalistischen Weltbildes, stets bemüht war, stichhaltige Argumente für die unerlässliche Bedeutung partikularistischer Ausprägungen des jüdischen Glaubens – wie etwa die Erwählung der jüdischen Nation und deren geoffenbarte Gesetzgebung – vorzubringen. Mendelssohn suche ständig die universalistischen und partikulären, die theoretischen und lebenspraktischen Elemente des jüdischen Glaubens aufrechtzuerhalten. Schonfeld macht unter Berufung auf die von Benny Lévy vorgenommene terminologische Unterscheidung deutlich, dass Mendelssohn, im Gegensatz zu Spinoza, dem Logos der Existenz, dessen letzte Geltung im notwendigen partikulären Dasein des Menschen wurzele (S. 48), Vorrang gegenüber dem Logos der Essenz einräume (S. 50). Er demonstriert im Laufe des gesamten Buches, dass Mendelssohns jüdisches Denken nicht ein abgehobenes, rein theoretisches Gedankengebäude ist, sondern immer praktisch im menschlichen Diesseits verwurzelt ist. Für Mendelssohn seien die jüdischen Zeremonialgesetze maßgeblich, denn sie seien „das Band, welches Handlung und Betrachtung, Leben mit Lehre verbinden sollte“.5 Schonfeld zufolge bietet Mendelssohn in Jerusalem eine außergewöhnliche phänomenologische Binnenperspektive auf die grundlegende jüdische Erfahrung des Seins zum Gebot (Hejot-Nokhaḥ-ha-Ṣiwwuj) an (S. 66). Für Mendelssohn können die philosophischen Vernunftwahrheiten nur durch die lebenspraktischen Gebote, durch den Logos der Existenz, zum Ausdruck kommen (S. 68). Prinzipiell seien die theoretischen Wahrheiten laut Mendelssohn immer mit der diesseitigen menschlichen Existenz verzahnt und könnten ohne diesen Aspekt überhaupt nicht gedacht werden (S. 68); genauso wie, auf den Zohar (3.152a) anspielend, „die Gesetze und Lehren […] sich gegen einander [verhalten], wie Körper und Seele“.6

Im zweiten Buchteil wendet sich Schonfeld der Spannung zwischen jüdischer Erwählung und jüdischem Universalismus in Zusammenhang mit den sieben Noachidischen Geboten (Ševa‘ Miṣwot Benej Noaḥ) zu. Er geht auf Mendelssohns Antwort auf die Frage ein, ob die Gerechten unter all den nichtjüdischen Nationen, die sogenannten Nachkommen Noahs, an der künftigen Welt teilhaben. Schonfeld bezieht sich in dem Zusammenhang auf Mendelssohns Behauptung in Jerusalem, dass „[n]ach den Begriffen des wahren Judentums […] alle Bewohner der Erde zur Glückseligkeit berufen [sind]“.7 Er macht besonders auf Mendelssohns diesbezügliche subversive Tendenz aufmerksam, denn dieser weiche letztlich von jeglicher jüdischen Autoritätsquelle ab, von der rabbinischen Traditionsliteratur, von Maimonides sowie von der Stellungnahme seines zeitgenössischen Gesprächspartners Rabbiner Jacob Emden (S. 129–156). Vor diesem Hintergrund zeigt Schonfeld, dass Mendelssohns Sicht des Seins zum Gebot schlussendlich als universalistisch zu verstehen ist, als Teil der grundlegenden Erfahrungswelt eines jeden menschlichen Subjekts (S. 153–155). Deshalb fasst Schonfeld die mendelssohnsche jüdische Grundhaltung als eine Favorisierung des Universalistischen gegenüber dem Partikulären auf. Gerade bei der Beschäftigung mit derartigen Thematiken hätte sein Buch jedoch davon profitieren können, gleichfalls die vielfältige deutschsprachige Sekundärliteratur zu Mendelssohns jüdischer Philosophie heranzuziehen, worauf er aber leider kaum Bezug nimmt. Diese Literatur untersuchte nämlich bereits einige der im Werk aufgegriffenen Punkte und hätte ihm so noch tiefere Einblicke in den Themenkomplex verschaffen können. Insgesamt legt jedoch die Monografie von Schonfeld eindrucksvoll, souverän und kreativ die besondere Aktualität von Mendelssohns Denken für die jüdische Religionsphilosophie im Besonderen und die moderne jüdische Existenz im Allgemeinen nahe. Eine Übersetzung des Werkes für das deutsche Lesepublikum wäre daher äußerst begrüßenswert!

Anmerkungen

  1. Hegel, Werke, 20:264.

  2. Hegel, Werke, 20:311, 335.

  3. Pisano 2016, S. 473–510.

  4. Hegel, Werke, 20:316.

  5. Mendelssohn, JubA, 8:193.

  6. Mendelssohn, JubA, 8:166.

  7. Mendelssohn, JubA, 8:161.

Bibliografie

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Werke, Bd. 20: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986.

Mendelssohn, Moses. Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe (=JubA), Bd. 8. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog, 1983.

Pisano, Libera. „Judentum, Entfremdung, Sprache: Der vergessene Zusammenhang zwischen Mendelssohn und Hegel“. Judaica 72 (2016): S: 473–510.