Till van Rahden. Vielheit: Jüdische Geschichte und die Ambivalenzen des Universalismus. Hamburg: Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 2022. 222 Seiten, EUR 30, ISBN 978-3-86854-358-2.

Elias S. Jungheim 
Goethe-Universität Frankfurt am Main
e.s.jungheim@posteo.de

Jüngst ist das Buch Vielheit: Jüdische Geschichte und die Ambivalenzen des Universalismus im Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung erschienen. Es ist das neueste Buch des Historikers und Judaisten Till van Rahden, der derzeit in Montreal eine Professur für Deutschland- und Europastudien innehat.

Noch ein Buch über die Frage nach der Partikularität oder Universalität des Judentums? Diese Frage avancierte bereits zur Zeit der Haskala zu einer der zentralen Fragen heran. Sie wurde im Anschluss daran von den Vertretern der Wissenschaft des Judentums ausgiebig erörtert und ist bis heute nicht nur innerhalb der Disziplin der Jüdischen Studien Gegenstand zahlreicher Diskussionen und Publikationen. In der Tat stellt auch dieses Buch einen Streifzug durch die wichtigsten Aushandlungsprozesse des Judentums innerhalb der vergangenen 200 Jahre bis zum Zivilisationsbruch dar. Wurde also nicht bereits alles darüber geschrieben? Braucht man wirklich noch ein Buch zu diesem Thema?

Mit dem Fokus auf dem, wie van Rahden schreibt, kaum noch geläufigen Wort Vielheit lenkt dieser seine Aufmerksamkeit auf ein grundsätzlich pluralistisches Verständnis von Demokratie; dieses sei als „Signum der liberalen Demokratie“ zu verstehen und stehe damit gleichzeitig auch im Zentrum eines demokratischen Verständnisses (46). „In der Nahaufnahme jüdischer Erfahrung“, so van Rahden in der Einleitung, „wird eine geschichtliche Wirklichkeit sichtbar, die es ermöglicht, über die normativen Gewissheiten unserer Gegenwart nachzudenken“ (16). Mit Hilfe dieses Diskurses ist Vielheit deshalb als ein vornehmlich politisches Buch zu verstehen; das Judentum ist dabei lediglich rahmengebend. Seine These ist, dass in der Erfahrung dessen, was heute unter jüdischer Assimilation und/oder Akkulturation begriffen wird, ein universelles Verständnis dahingehend liegt, wie das Besondere das Verständnis des Allgemeinen und vice versa prägt. In Zeiten, in denen von Geflüchteten gesprochen wird, die angeblich die Bundesrepublik überfluten – erst 2015 und nun auch 2022 –, und nur wenige Jahre nach den rechtsextremistischen Anschlägen von Halle/Saale und Hanau, stellt der von ihm vertretene Standpunkt eine wichtige Stimme für eine pluralistische Gesellschaft dar. Es ist die Abkehr von der hegemonialen Mehrheitsgesellschaft durch die Stärkung der Vielheit. Dies mag eventuell die eine oder den anderen an Max Czollek erinnern, der zuvor, vielleicht ein wenig laut, in »Desintegriert Euch!« eine vergleichbare Position postuliert hatte. Zwar lehnen beide Autoren ein Integrationsdenken ab, doch von dem wissenschaftlichen Anspruch, den van Rahden hier vertritt, einmal abgesehen, besteht der grundlegende Unterschied zwischen beiden darin, dass innerhalb des Gedächtnistheaters die Minderheitenposition innerhalb der Mehrheitsgesellschaft gestärkt werden sollte. Van Rahden hingegen wendet sich grundsätzlich gegen eine solche binäre Minderheiten- und Mehrheitsperspektive:

Statt die Annahme der moralischen Minderwertigkeit und der intellektuellen Unreife fortzuschreiben, die aus dem Gegensatz von Mehrheit und Minderheit hervorgeht, sollte die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Partikularen und dem Universalen ins Zentrum unseres Verständnisses der Geschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert gerückt werden. (45)

Mit seinen 222 Seiten gliedert sich das Buch in insgesamt fünf Kapitel; alle widmen sich dabei einem bestimmten Aspekt des facettenreichen Aushandlungsprozesses zwischen Universalität und Partikularität. Im ersten Kapitel, »Minderheit und Mehrheit«, problematisiert der Autor das Begriffspaar, das zum Fundament des Buches selbst wird und sich wie ein Ariadnefaden durch selbiges zieht. Dieses beruhe nur augenscheinlich auf einem numerischen, d. h. objektiven Verhältnis; eigentlich, so macht es van Rahden deutlich, verbirgt sich dahinter in den meisten Fällen ein auf Rassen- und Kulturmetaphern basierendes Denken, das folglich immer auch eine Wertung in sich trägt. Wo die Mehrheit das Maß der Dinge scheinbar qua Anzahl darstellt und dabei selten, ja nie genauer definiert werden muss, stellt die sogenannte Minderheit innerhalb der Gesellschaft die Abweichung von der Norm dar und ist damit quasi per definitionem das Andere: „Immer gingen sie mit der Vorstellung eines rechtlichen oder politischen, intellektuellen und moralischen Makels einher“ (45). Insofern ist dieses Begriffspaar Ausdruck einer grundsätzlichen Asymmetrie und eben nicht etwas, das mit dem Programm der Desintegration auf die Bühne des Gesellschaftstheaters gehoben werden sollte.

Von diesem Begriffspaar ausgehend stellt sich sodann die naheliegende Frage, wie problematisch die Konzepte von Akkulturation und Assimilation im Kontext des Judentums sind. Denn beide Begriffe basieren auf jener Minder- und Mehrheitsperspektive, die stets eine Wertung in sich birgt.

Das zweite Kapitel thematisiert die verschiedenen Ambivalenzen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland in unterschiedlichen Debatten. Alle von van Rahden angeführte Themenbereiche eint dabei der explizite Aushandlungsprozess zwischen Universalität und Partikularität. Anders als die bürgerliche Aufklärung definiert er dabei Universalität als einen sich ständig in Bewegung befindenden Raum, „der sich erst im Prozess der Artikulation von kulturellen Differenzen ausbildet“ (52). Universalität und kulturelle Differenz stehen in diesem Narrativ folglich in einem notwendig reziproken Verhältnis, ohne das Gesellschaft eigentlich nicht gedacht werden kann. Deutlich werden lässt er das insbesondere an der jüdischen Historiographie. Denn sofern man die Geschichte des jüdischen Bürgertums schreiben möchte, muss man notwendig einen anderen Standpunkt einnehmen als den, der gemeinhin tradiert wird. Sein sich daran anknüpfender Vorschlag ist es, sich von der Unterscheidung in eine Mehrheits- und Minderheitenkultur zu trennen, eben weil man damit doch immer nur danach fragt, inwieweit sich bürgerliche Juden an die Mehrheitskultur anpassen bzw. welche Beiträge sie leisten würden. Dass Partizipation aktive Teilhabe bedeutet und man damit den Diskurs mitprägt, selbst wenn man nicht die gleichen Rechte hat, wie die anderen, wird dabei viel zu oft außer Acht gelassen. Dies ist ein Ansatz, um das Paradigma der Minderheitengeschichte hinter sich zu lassen und sich von der Unterscheidung in eine Mehrheits- und Minderheitenkultur zu trennen.

Bei allen Vorzügen, die der Universalismus in sich trägt, sind diesem durch die Nation bzw. durch „nationale Homogenitätsfantasien“ (97) wortwörtlich Grenzen gesetzt. Im dritten Kapitel geht der Autor diesem scheinbaren Widerspruch auf den Grund. Am Beispiel der jüdischen Diskurse zwischen 1850 und 1933 untermauert er die im vorherigen Kapitel getätigte These, dass der Universalismus ein sich permanent verändernder Raum sei. Namen fallen in diesem Kontext viele, aber anhand von Moritz Lazarus’ Denkansätzen aus der Völkerpsychologie verdeutlicht van Rahden, dass bei einer Nation, die sich als liberal versteht, die Zugehörigkeit zur Nation nicht die höchste Priorität hat. Entscheidend sei viel eher die Bewahrung der kulturellen Eigenarten und die gleichzeitige Wahrung universell menschlicher Prinzipien. So wird aus einer „vormundschaftlichen Konzeption der Toleranz“, wie sie von der Mehrheitsgesellschaft ausgeht, eine Gesellschaft, die auf gegenseitige Anerkennung aufgebaut ist und in der ferner ein jeder das Recht auf Verschiedenheit besitzt (97). (Nationale) Einheit ist damit eng mit der Vielheit verbunden. Van Rahden weist in diesem Kontext zu Recht darauf hin, dass die Diskurse aus dem späten 19. Jahrhundert durch ihre Aktualität bestechen; schon damals nahm man sich dem Versuch an, die „Quadratur des multikulturellen Kreises“ (97) zu bestimmen.

Im vierten und vorletzten Kapitel stellt sich van Rahden die Frage, welche Gemeinschaft bzw. welche Gemeinschaftsform das bereits emanzipierte deutsche Judentum darstellt. Er vergleicht dabei das Judentum mit den deutschen Katholiken. In Abgrenzung zum sozialmoralischen Milieus wie es auf die deutschen Katholiken jener Zeit zutreffe, plädiert van Rahden dafür in Bezug auf das Judentum ein Konzept zu wählen, das keine geschlossene Gruppe voraussetzt, sondern fluide bzw. offene Grenzen der kollektiven Identität besitzt. Dafür greift er auf das Konzept der Ethnizität, pointiert formuliert der situativen Ethnizität zurück, das er bereits in seiner Dissertation, Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925, ausgebreitet hat. Dieses Konzept lässt ein plurales Verständnis desselben zu – eben im Aushandlungsprozess zwischen Volk und Religion. Es ist situativ in dem Sinne, als dies eine der Situation angemessenen Wendigkeit mit sich bringt und auf diese Weise die Loyalität zur ethnischen Gruppe nicht die gegenüber anderen Sozialformationen ausschließt.

Das letzte Kapitel thematisiert die Kontroversen über den Begriff der Assimilation, wie er innerhalb der letzten Jahrzehnte innerhalb Geschichtswissenschaft und angelehnt daran auch in der Disziplin der Jüdischen Studien geführt wird; er greift damit einen Faden aus den ersten beiden Kapitel erneut auf und bezieht ihn auf aktuelle Debatten innerhalb der Wissenschaft. Die dabei diskutierten Deutungsmuster sind die des Verrates, des Schicksals und letztlich das der Chance. Sie sind damit immer auch Lesarten der Geschichte und vertreten damit ein bestimmtes Narrativ, das eben niemals objektiv ist. Dessen, so van Rahden, müsse man sich stets bewusst sein. Er zeigt damit eindrücklich auf, wie politisch Wissenschaft und wie an scheinbar harmlosen Termini dennoch nicht selten auch ein Weltbild geknüpft ist. Zumindest anhand der Assimilation hat er dieses der Latenz enthoben.

Bei der Lektüre darf man sich allerdings von den vielen Figuren aus den jüdischen Kontexten, die mitunter nur eine einmalige Erwähnung finden und deshalb nicht immer kontextualisiert werden, nicht abschrecken lassen. Besonders die etwas langatmig ausfallende Einleitung wirkt so, als ob der Autor auf wenigen Seiten nicht nur den Begriff der Vielheit einführen, historisch einordnen und kontextualisieren, sondern auch sein Wissen unter Beweis stellen wollte. Die vielen Nennungen von Personen, Zitaten usw. tragen dabei wenig zum Verständnis bei, sondern lassen Zweifel aufkommen, ob man dem, was auf einen zukommt, gewachsen ist. Zum Glück ist dies der Fall und man sollte sich nicht abschrecken lassen.

Indem er die Engstirnigkeit des deutschen Universitätswesens mit seinem Fetisch der akademischen Disziplinen hinter sich gelassen hat, schafft Till van Rahden es, mit dem Begriff der Vielheit ein hochpolitisches Buch zu schreiben, das einem damit zugleich neue Perspektiven auf die Judentümer innerhalb des langen 19. Jahrhundert eröffnet. Dabei ist stets ein Aktualitätsbezug gegeben. Von wegen Geschichte als trockenes Fach! Indem er deutlich gemacht hat, dass es stets auf die Perspektive ankommt, von der ausgehend man etwas betrachtet, und historische Objektivität etwas ist, das in die Geschichtsbücher des 19. Jahrhunderts gehört, hat er gezeigt, dass längst nicht alles über diese komplexe Thematik geschrieben worden ist – im Gegenteil. Dieses ist gerade deshalb nicht nur für Historiker und Judaisten ein Gewinn, sondern für all jene, die ein soziologisches und politisches Interesse an den Tag legen.