Rabbiner Hermann Schmelzer seligen Angedenkens: Versuch eines Nachrufs

מוהר″ר חיים בן שלמה יליד הונגריה
הוסיף על גירסא דינקותיה בהתמדה
בקי בהלכה למעשה רועה נאמן לעדתו
ריח בגדיו כריח השדה היה

Imre Chajim Schmelczer wurde 1932 in Jánoshalma nicht weit von Szigeth, einer Hochburg des Chassidismus (heute in Rumänien), geboren. Im Frühjahr 1944 wurde die ganze Familie mit einem grossen Teil der ungarischen Juden in zwei Zügen nach Auschwitz deportiert, wo die meisten den Tod fanden. Der Zug, in dem die Familie Schmelczer war, ist aber in der Gegend von Wien stecken geblieben. Der junge Imre ist in einem Arbeitslager gelandet, das unter dramatischen Umständen von der Roten Armee befreit wurde. Imre Schmelczer kam dann auf die chassidische Jeschiwa in Szombathély. Seinem Vater gelang es in langen Gesprächen mit deren Leiter, zu erreichen, dass der Sohn auch andere Fächer lernen und ein Reifezeugnis erwerben durfte; so stand ihm der Weg in die Budapester Landesrabbinerschule frei. Von den Turbulenzen, die das kommunistische Regime auch an dieser renommierten Institution hervorgerufen hat, hat Rabbiner Schmelzer oft erzählt. Wichtig war mir seine Auskunft, dass an der Landesrabbinerschule künftige Rabbiner ausgebildet wurden; ob die Kandidaten nachher orthodox oder neolog (liberal) waren, war ihr Entscheid. Wer sein Examen bestanden hatte, bekam sein Diplom erst nach einem Praxisjahr, das Schmelzer nach Szegedin führte, seit je eine Hochburg der Reform. Dort wirkte von 1903 bis 1944 Immanuel Löw, einer der grössten jüdischen Gelehrten des Jahrhunderts, ein Universalgenie. Von seiner Tochter hat Schmelzer sehr viel über ihren Vater gelernt, das er dem Schreibenden mitgeteilt hat. (Als ganz kleiner Junge bin ich diesem liebenswürdigen Mann einmal begegnet.)

Schmelzers unmittelbar ungarische Biographie endete in den Wirren der Revolution von 1956 unter einem Heuhaufen in einem Güterzug, zusammen mit seiner jungen Frau und einem Kollegen, der noch in London wirkt. Es folgten kürzere oder längere Stationen in Paris, London und Stockholm, bis zu einem Rabbinat in Malmö. Dort gab es auch eine Anzahl Juden, die vor dem brutalen Antisemitismus in Polen geflohen waren. Diese Leute verfügten über eine jüdische Bildung, mit der sie auch talmudischen und halachischen Vorträgen zu folgen vermochten – ein ideales Publikum. Als jedoch jemand mit einer Art Parnossenwillkür eine bindende religionsgesetzliche Vorschrift auszuhebeln versuchte, war für Rabbiner Schmelzer kein Bleiben mehr. St. Gallen profitierte.

Wer Rabbiner Schmelzer nicht nur oberflächlich begegnete, musste spüren, dass er einen tief gläubigen Menschen vor sich hatte. Gewiss war es gerade diese tiefe Gläubigkeit, die ihm ein Höchstmass an intellektueller Redlichkeit erlaubte.

Nicht umsonst sagt die Heilige Schrift mehr als ein Mal, dass theoretische wie praktische Weisheit (chochma bedeutet beides) auf Gottesfurcht beruht. Fast immer begann er sein Votum mit „hören Sie“ (was geradezu sein Markenzeichen wurde). Das ist die talmudische Formel ta schema’. Das Hören ist seit der Offenbarung am Sinai dem Judentum konstitutiv. In seinen wöchentlichen Schrifterklärungen begab er sich kaum je auf das Feld neuzeitlicher Exegese, das er sehr wohl kannte; vielmehr zitierte er oft „die Alten“: Talmud und die klassischen jüdischen Kommentatoren des Mittelalters. Das meiste hätte Rabbiner Schmelzer wohl auswendig sagen können. Das hat er aber nie getan; ein Manuskript war ihm ein Zeichen des Respekts vor der Gemeinde. Seine Reden waren sehr oft von einem feinen Humor geprägt, manchmal ein Spiel mit den hebräischen Worten. Die Schärfe, die so manchen ungarischen Landsmann ausmachte, war ihm (wie er selber sagte) mit der Zeit abhanden gekommen. Nur vordergründig fehlte sie ein Mal:

Nachum Goldmann hatte als Präsident des Jüdischen Weltkongresses mit Sitz in New York einen besonders giftigen Pfeil gegen seinen Intimfeind Ben Gurion geschossen. Am folgenden Schabbat zitierte Rabbiner Schmelzer eine Stelle aus dem Talmud (Hullin 63a), die keines Kommentars bedurfte; man verstand sofort, was er meinte.

Nicht alle Mitglieder der Gemeinde hatten volles Verständnis dafür, dass Rabbiner Schmelzer viel Zeit mit dem Studium von Talmud und Codices verbrachte, den klassischen Aufgaben eines Rabbiners. Das brachte ihm hohe Anerkennung auch bei führenden Rabbinern ein, die ihn zur Lösung schwieriger Probleme beizogen. Ein Autor, den er besonders häufig studierte, war Moses Schreiber (1762–1839), „Chatam Sofer“, langjähriger Rabbiner in Pressburg (Bratislava) und führender Geist der entstehenden Orthodoxie. Dessen scharfen Antimodernismus hat Rabbiner Schmelzer freilich nicht übernommen; schliesslich war er in die Schule der neuzeitlichen Wissenschaft des Judentums und der Universität gegangen. (Moses Schreiber ist kaum verständlich, wenn man Ort und Zeit seines Wirkens nicht wirklich kennt.) – An dieser Stelle muss betont werden, dass Rabbiner Schmelzer jederzeit zur Verfügung stand, wenn man den Seelsorger brauchte. Verständlicherweise kann hier auf Näheres nicht eingegangen werden. – Von manchen Leuten pflegte Rabbiner Schmelzer zu sagen, sie seien „von Tora durchtränkt“. Das war er selbst auch, fast physisch. Wenn ihm jemand diesen Schlages begegnete, konnte er mit einem Zitat aus 1. Mose 27,27 reagieren: „Er (Isak) verspürte den Geruch seiner (Jakobs) Kleider“; man merkt es, wenn jemand „von Tora durchtränkt“ ist.

Rabbiner Hermann Schmelzer war durchaus kein Stubenhocker und kein abgehobener Intellektueller. Schliesslich ist die Tora eine Wegweiserin für das ganze menschliche Leben. Er war auch temperamentvoll, keineswegs von Emotionen frei.

Ich gestehe, dass ich die Gesamtleistung seines Lebens und Wirkens nicht zu erfassen vermag. Mir war er jahrzehntelang Mentor und Freund.

Simon Lauer, Zürich, im Elul 5783/ September 2022