Anna-Dorothea Ludewig. „Jüdinnen“ – Literarische Weiblichkeits-Entwürfe im 20. Jahrhundert. Europäisch-jüdische Studien 61. Berlin: De Gruyter 2022. 280 Seiten, EUR 102.95, ISBN 978-3-11-077879-3. Open Access: https://doi.org/10.1515/9783110778953

Ulrike Brunotte 
Maastricht University
ulrike.brunotte@t-online.de

Inhalt

Anmerkungen

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, besonders zugespitzt jedoch im Fin de Siècle, beherrschten mehr und mehr erotisch-zerstörerische Frauenfiguren die literarische und visuelle Kultur im deutschsprachigen Raum: Judith und Salome sind die populärsten unter den männermordenden Verführerinnen. Dass es sich bei diesen „Ausgeburten zerstörerischer Weiblichkeit“ (16) fast durchweg um „Jüdinnen-Figuren“ handelt, die oft auf biblische Gestalten zurückgehen und in denen die femmes fatales mit der Orientalin verschmelzen, ist eine Ausgangsthese des vorliegenden Buches. Dabei widmet sich die Studie besonders der wirkmächtigen antisemitischen Verschmelzung von „Ewig Weiblichem“ und „Ewig Jüdischem“ (13), wie sie seit Otto Weiningers Bestseller Geschlecht und Charakter (1903) literarische Jüdinnen-Entwürfe charakterisiert.

Das erste, große Kapitel der 280-seitigen Studie von Anna-Dorothea Ludewig analysiert das Diskursgeflecht, das Stereotype und Narrationen der „Schönen Jüdin“ und der gleichsam erotisierten Orientalin um 1900 mit der femme fatale verknüpft. Obwohl die Autorin auf die aktuelle, internationale Forschung insbesondere zur Rolle der (Selbst-)Orientalisierung der „modernen Jüdin“, wie sie von Fournier (2011), Sicher (2017), Kalmar (2019) und Brunotte (2015, 2019) vorgelegt wurden,1 nicht eingeht, und sich stattdessen von kunsthistorischen Analysen zum Jüdinnen-Bild inspirieren lässt, gelingt es ihr gleichwohl, eine eigene Perspektive zu entwickeln. Nicht zufällig spielen dabei bildliche Darstellungen junger jüdischer Frauen – von der Malerei, über die Textillustration bis hin zu aktuellen Fotografien israelischer Soldatinnen – eine nicht unbedeutende Rolle. Darüber hinaus ist es vor allem die Konzentration auf den sexualisierenden Akt des Sehens (male gaze) in den literarischen Entwürfen selbst, die zum besonderen Erkenntnisgewinn des Buches beiträgt. Wie Sander Gilman in vielen seiner mittlerweile kanonischen Arbeiten zum Thema betont, hatte sich das antisemitische Bestreben, den „Körper des Juden“ als den „Anderen“ auch fleischlich zu markieren, vor allem auf den als hässlich und effeminiert dargestellten jüdischen Mann konzentriert. Spätestens um 1900 begann sich der rassistische Diskurs auch auf den imaginären Körper der „Jüdin“ auszuweiten. Letztere war bisher allein durch ihre andersartig-verstörende und, wie Nadia Valman in The Jewess in Nineteenth-Century Britisch Literary Culture (Cambridge, 2007) für die englischsprachige Literatur betont, manchmal sogar idealisierte Weiblichkeit bestimmt. In den Ausführungen zu „Ahasvera – Figurationen der Ewigen Jüdin“ demonstriert Ludewig im 3. Kapitel überzeugend, wie die Figur der „Schönen Jüdin“ im deutschsprachigen Raum spätestens mit dem Fin de Siècle ihre Brückenfunktion zwischen den Kulturen und Religionen verlor und sich zur juive fatale wandelte. Auch Gilman hob in diesem Kontext Oskar Panizzas Liebeskonzil (1894) hervor.

Die Dämonisierung der urbanen, jüdischen Frau reagiert dabei auch auf moderne Emanzipationsbewegungen: die Frauenrechtsbewegung und die Integration der Juden und Jüdinnen in die bürgerliche Gesellschaft. Mit ihrer aktiv fordernden Sexualität und der darin inhärenten Kastrations- und Morddrohung transformierten sich die biblische Judith und Salome zu ambivalenten Doppelgängerinnen der unabhängigen „Neuen Frau“, die die soziale Geschlechterordnung bedrohten. Beginnend mit Wedekind (Lulu) und Gutzkow (Die ewige Jüdin) verfolgt Ludewig über Dinters Roman Sünde wider das Blut (1917) die „sexualantisemitische Stereotypenbildung“ (132) bis hinein in eindeutig nationalsozialistische Literatur wie Friedrich Ekkehards Sturmgeschlecht von 1934. Überzeugend demonstriert sie, auf welche Weise über die kulturelle Konstruktion der Salome als der unheilvoll-ruhelosen „Ahasvera“ ein „misogyn-antisemitisches“ Bild der „jüdischen Bedrohung“ kulturell fixiert und mit pathologischen Stigmata vermengt wurde.

Von entscheidender Bedeutung für einen Forschungsansatz, der Geschlecht (gender) als einen dynamischen sozialen Wirkungsträger auch in der Antisemitismusforschung produktiv macht, ist dabei die Rezeption der amerikanischen Jewish Studies. Diese hat durch bahnbrechende Studien von Sander Gilman, Daniel Boyarin und Jay Geller – um nur die bekanntesten Namen zu nennen – die Analyse von sexualisierten und feminisierten „Judenbildern“ erst ermöglicht. Freilich haben sich alle genannten Autoren einzig auf die antisemitische Effeminierung des jüdischen Mannes konzentriert. Durch die vorliegende Studie zieht sich hingegen die Frage nach der undurchdringlichen Verschlingung von Weiblichkeitsprojektionen, frauenfeindlichen und antisemitischen Imaginationen. Sie bestimmt auch das Kapitel zum Zionismus. Die Autorin diagnostiziert eine maskulinistische Dynamik im (kultur)zionistischen Projekt. Nicht allein für Nordau und Herzl sollte darin der jüdische Mann in einen idealen, ‚weißen‘ Mann und „Muskeljuden“ verwandelt werden. Besonders interessant ist die Beobachtung, welche Ludewig in Bezug auf das zionistische Frauenbild macht: Werden die modernen, jüdischen Frauen als „Vertreterinnen der krankhaften Moderne“, die das „authentische“, jüdische Leben gefährden, negativ, ja, „antisemitisch“ (!) (58), markiert, so erfährt als Gegenbild die traditionelle Ehefrau, Kameradin und vor allem die Mutterfigur eine große Aufwertung. Es ist das einzige Kapitel des Buches, in dem jüdische Aneignungsformen des herrschenden Antisemitismus und jüdische Selbstfigurationen, auch solche von Frauenrechtlerinnen wie Bertha Pappenheim, einen Raum erhalten.

Die Studie konzentriert sich generell dezidiert auf „männliche Autorschaft, und zwar in erster Linie nichtjüdischer Provenienz“ (11). Sie ist insgesamt eher literatursoziologisch orientiert und untersucht erzählende Literatur „als Indikator, aber auch als Faktor sozialgeschichtlicher Prozesse.“ (10) Dabei wird bei der Analyse der Erzählwerke folgenden Einzelfragen nachgegangen: „Welche Funktion hat der jüdische Bezug für die Handlung im Text? Welche Diskursanschlüsse werden dabei im literarischen Text aktiviert? Wie reproduzieren sich Stereotype jüdischer Frauendarstellungen?“ (11). Das vierte Kapitel des Buches trägt den Titel „Kontinuitäten: Jüdische Weiblichkeitsentwürfe nach 1945“. Die Studie endet mit einem Epilog zu literarischen und visuellen Darstellungen der „Neuen Israelin“.

Aus der intendierten literatursoziologischen Perspektive ergibt sich allerdings eine Schwäche des Buches: Über die ästhetischen und poetologischen Merkmale der literarischen Texte erfährt man wenig. Abgesehen von Inhaltsangaben stehen die im Text erscheinenden „Jüdinnen“ als imaginäre Körperbilder im Vordergrund. Philologische oder narratologische Detailanalysen ebenso wie ein close reading fehlen oft. Das ist schade, wäre es doch insbesondere zum Verständnis der unaufgelösten Ambivalenzen in „Stereotypen“ gerade auch in der Literatur nach 1945 hilfreich. So zum Beispiel bei der Interpretation von Heinrich Bölls Entwurf einer pervers-antisemitischen Vernichtungsszene in „Wo warst Du, Adam?“ (1951). Hier wird geschildert, wie eine schöne „katholische Jüdin“ von einem SS-Mann in dem Moment gemordet wird, wo ihn ihre bedrohliche Nähe und Uneindeutigkeit affektiv überwältigen. Werden in dieser Szene nur alte, nun philosemitisch gedrehte Stereotype der „schönen bekehrten Jüdin“ reproduziert? Und wird hier wirklich „keine Jüdin ermordet“ (180), sondern ist es einzig die christlich überformte Märtyrerin, die das Mitgefühl der Lesenden erfährt? Kann es nicht auch die unerträglich-unaufgelöste Ambivalenz des Stereotyps selbst sein, die hier literarisch sichtbar gemacht und somit reflektierbar wird?

Es gibt allerdings in der Studie auch Beispiele für ein gelungenes close reading: Neben der Analyse von Edgar Hilsenraths Figur der Deborah aus seinem Roman Nacht (1964), ist es vor allem die detaillierte Interpretation des Romans Ahasvera (1910) von Hans von Kahlenberg (eigentlich Helene Keßler), in der die Autorin dem innerjüdischen Diskurs und der Aneignung des Ahasvera-Motivs bis in die Selbstreflexion der Protagonistin nachgeht.

Florian Krobb betonte in seiner Pionierarbeit Die Schöne Jüdin (1993), dass die literarische Gestaltung jüdischer Frauenfiguren die Phasen der deutsch-jüdischen Akkulturationsgeschichte bis hinein in den offenen Antisemitismus widerspiegelt. Auch für Ludewig werden die jüdischen Weiblichkeitsentwürfe bis hinein in ihre rassistische Verzerrung als „Ahasvera“ und „Ewige Jüdin“ zum Ausdruck der „weiblichen Conditio Judaica in der modernen Welt“ (251). Das Ergebnis dieser breit angelegten Studie ist deutlich negativ: Laut Ludewig wurden in dem „dynamischen Prozess von Antisemitismus und Misogynie, der die Literatur des gesamten 20. Jahrhunderts kennzeichnet“, die „toxisch misogyn-antisemitischen“ Weiblichkeitsimagines jüdischer Frauenfiguren „nie entmachtet, sie sind vielmehr bis heute präsent“ (247f.).

Anmerkungen

  1. Éric Fournier, La „Belle Juive“ D’Ivanhoé à la Shoah (Seyssel: Champ Vallon, 2011); Efraim Sicher, The Jew’s Daughter: A Cultural History of a Conversion Narrartive (New York: Lexington Books, 2017); Ivan Kalmar, „The Jew and the Odalisque: Two Tropes lost on the way from Classical Orientalism to Islamophobia“, ReOrient: The Journal of Critical Muslim Studies 4, no. 2 (Spring 2019): 181–196; Ulrike Brunotte, „‚All Jews are womanly, but no women are Jews.‘ The ‘Femininity’ Game of Deception: Female Jew, Femme fatale Orientale, and belle Juive“, in Orientalism, Gender and the Jews: Literary and artistic transformations of European national discourses, ed. Ulrike Brunotte, Anna-Dorothea Ludewig und Axel Stähler, 195–220 (Berlin: De Gruyter, 2015); Ulrike Brunotte, „The ‘Beautiful Jewess’ as Borderline Figure in Europe’s Internal Colonialism“, ReOrient: The Journal of Critical Muslim Studies 4, no. 2 (Spring 2019): 166–179.