In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, besonders zugespitzt jedoch im Fin de
Siècle, beherrschten mehr und mehr erotisch-zerstörerische Frauenfiguren die literarische
und visuelle Kultur im deutschsprachigen Raum: Judith und Salome sind die populärsten
unter den männermordenden Verführerinnen. Dass es sich bei diesen „Ausgeburten zerstörerischer
Weiblichkeit“ (16) fast durchweg um „Jüdinnen-Figuren“ handelt, die oft auf biblische
Gestalten zurückgehen und in denen die femmes fatales mit der Orientalin verschmelzen, ist eine Ausgangsthese des vorliegenden Buches. Dabei widmet sich die
Studie besonders der wirkmächtigen antisemitischen Verschmelzung von „Ewig Weiblichem“
und „Ewig Jüdischem“ (13), wie sie seit Otto Weiningers Bestseller Geschlecht und Charakter (1903) literarische Jüdinnen-Entwürfe charakterisiert.
Das erste, große Kapitel der 280-seitigen Studie von Anna-Dorothea Ludewig analysiert
das Diskursgeflecht, das Stereotype und Narrationen der „Schönen Jüdin“ und der gleichsam
erotisierten Orientalin um 1900 mit der femme fatale verknüpft. Obwohl die Autorin auf die aktuelle, internationale Forschung insbesondere
zur Rolle der (Selbst-)Orientalisierung der „modernen Jüdin“, wie sie von Fournier
(2011), Sicher (2017), Kalmar (2019) und Brunotte (2015, 2019) vorgelegt wurden,1 nicht eingeht, und sich stattdessen von kunsthistorischen Analysen zum Jüdinnen-Bild
inspirieren lässt, gelingt es ihr gleichwohl, eine eigene Perspektive zu entwickeln.
Nicht zufällig spielen dabei bildliche Darstellungen junger jüdischer Frauen – von
der Malerei, über die Textillustration bis hin zu aktuellen Fotografien israelischer
Soldatinnen – eine nicht unbedeutende Rolle. Darüber hinaus ist es vor allem die Konzentration
auf den sexualisierenden Akt des Sehens (male gaze) in den literarischen Entwürfen
selbst, die zum besonderen Erkenntnisgewinn des Buches beiträgt. Wie Sander Gilman
in vielen seiner mittlerweile kanonischen Arbeiten zum Thema betont, hatte sich das
antisemitische Bestreben, den „Körper des Juden“ als den „Anderen“ auch fleischlich
zu markieren, vor allem auf den als hässlich und effeminiert dargestellten jüdischen
Mann konzentriert. Spätestens um 1900 begann sich der rassistische Diskurs auch auf
den imaginären Körper der „Jüdin“ auszuweiten. Letztere war bisher allein durch ihre
andersartig-verstörende und, wie Nadia Valman in The Jewess in Nineteenth-Century Britisch Literary Culture (Cambridge, 2007) für die englischsprachige Literatur betont, manchmal sogar idealisierte
Weiblichkeit bestimmt. In den Ausführungen zu „Ahasvera – Figurationen der Ewigen
Jüdin“ demonstriert Ludewig im 3. Kapitel überzeugend, wie die Figur der „Schönen
Jüdin“ im deutschsprachigen Raum spätestens mit dem Fin de Siècle ihre Brückenfunktion zwischen den Kulturen und Religionen verlor und sich zur juive fatale wandelte. Auch Gilman hob in diesem Kontext Oskar Panizzas Liebeskonzil (1894) hervor.
Die Dämonisierung der urbanen, jüdischen Frau reagiert dabei auch auf moderne Emanzipationsbewegungen:
die Frauenrechtsbewegung und die Integration der Juden und Jüdinnen in die bürgerliche
Gesellschaft. Mit ihrer aktiv fordernden Sexualität und der darin inhärenten Kastrations-
und Morddrohung transformierten sich die biblische Judith und Salome zu ambivalenten
Doppelgängerinnen der unabhängigen „Neuen Frau“, die die soziale Geschlechterordnung
bedrohten. Beginnend mit Wedekind (Lulu) und Gutzkow (Die ewige Jüdin) verfolgt Ludewig über Dinters Roman Sünde wider das Blut (1917) die „sexualantisemitische Stereotypenbildung“ (132) bis hinein in eindeutig
nationalsozialistische Literatur wie Friedrich Ekkehards Sturmgeschlecht von 1934. Überzeugend demonstriert sie, auf welche Weise über die kulturelle Konstruktion
der Salome als der unheilvoll-ruhelosen „Ahasvera“ ein „misogyn-antisemitisches“ Bild
der „jüdischen Bedrohung“ kulturell fixiert und mit pathologischen Stigmata vermengt
wurde.
Von entscheidender Bedeutung für einen Forschungsansatz, der Geschlecht (gender) als einen dynamischen sozialen Wirkungsträger auch in der Antisemitismusforschung
produktiv macht, ist dabei die Rezeption der amerikanischen Jewish Studies. Diese hat durch bahnbrechende Studien von Sander Gilman, Daniel Boyarin und Jay Geller
– um nur die bekanntesten Namen zu nennen – die Analyse von sexualisierten und feminisierten
„Judenbildern“ erst ermöglicht. Freilich haben sich alle genannten Autoren einzig
auf die antisemitische Effeminierung des jüdischen Mannes konzentriert. Durch die
vorliegende Studie zieht sich hingegen die Frage nach der undurchdringlichen Verschlingung
von Weiblichkeitsprojektionen, frauenfeindlichen und antisemitischen Imaginationen.
Sie bestimmt auch das Kapitel zum Zionismus. Die Autorin diagnostiziert eine maskulinistische
Dynamik im (kultur)zionistischen Projekt. Nicht allein für Nordau und Herzl sollte
darin der jüdische Mann in einen idealen, ‚weißen‘ Mann und „Muskeljuden“ verwandelt
werden. Besonders interessant ist die Beobachtung, welche Ludewig in Bezug auf das
zionistische Frauenbild macht: Werden die modernen, jüdischen Frauen als „Vertreterinnen
der krankhaften Moderne“, die das „authentische“, jüdische Leben gefährden, negativ,
ja, „antisemitisch“ (!) (58), markiert, so erfährt als Gegenbild die traditionelle
Ehefrau, Kameradin und vor allem die Mutterfigur eine große Aufwertung. Es ist das
einzige Kapitel des Buches, in dem jüdische Aneignungsformen des herrschenden Antisemitismus
und jüdische Selbstfigurationen, auch solche von Frauenrechtlerinnen wie Bertha Pappenheim,
einen Raum erhalten.
Die Studie konzentriert sich generell dezidiert auf „männliche Autorschaft, und zwar
in erster Linie nichtjüdischer Provenienz“ (11). Sie ist insgesamt eher literatursoziologisch
orientiert und untersucht erzählende Literatur „als Indikator, aber auch als Faktor
sozialgeschichtlicher Prozesse.“ (10) Dabei wird bei der Analyse der Erzählwerke folgenden
Einzelfragen nachgegangen: „Welche Funktion hat der jüdische Bezug für die Handlung
im Text? Welche Diskursanschlüsse werden dabei im literarischen Text aktiviert? Wie
reproduzieren sich Stereotype jüdischer Frauendarstellungen?“ (11). Das vierte Kapitel
des Buches trägt den Titel „Kontinuitäten: Jüdische Weiblichkeitsentwürfe nach 1945“.
Die Studie endet mit einem Epilog zu literarischen und visuellen Darstellungen der
„Neuen Israelin“.
Aus der intendierten literatursoziologischen Perspektive ergibt sich allerdings eine
Schwäche des Buches: Über die ästhetischen und poetologischen Merkmale der literarischen
Texte erfährt man wenig. Abgesehen von Inhaltsangaben stehen die im Text erscheinenden
„Jüdinnen“ als imaginäre Körperbilder im Vordergrund. Philologische oder narratologische
Detailanalysen ebenso wie ein close reading fehlen oft. Das ist schade, wäre es doch insbesondere zum Verständnis der unaufgelösten
Ambivalenzen in „Stereotypen“ gerade auch in der Literatur nach 1945 hilfreich. So
zum Beispiel bei der Interpretation von Heinrich Bölls Entwurf einer pervers-antisemitischen
Vernichtungsszene in „Wo warst Du, Adam?“ (1951). Hier wird geschildert, wie eine
schöne „katholische Jüdin“ von einem SS-Mann in dem Moment gemordet wird, wo ihn ihre
bedrohliche Nähe und Uneindeutigkeit affektiv überwältigen. Werden in dieser Szene
nur alte, nun philosemitisch gedrehte Stereotype der „schönen bekehrten Jüdin“ reproduziert?
Und wird hier wirklich „keine Jüdin ermordet“ (180), sondern ist es einzig die christlich
überformte Märtyrerin, die das Mitgefühl der Lesenden erfährt? Kann es nicht auch
die unerträglich-unaufgelöste Ambivalenz des Stereotyps selbst sein, die hier literarisch
sichtbar gemacht und somit reflektierbar wird?
Es gibt allerdings in der Studie auch Beispiele für ein gelungenes close reading: Neben der Analyse von Edgar Hilsenraths Figur der Deborah aus seinem Roman Nacht (1964), ist es vor allem die detaillierte Interpretation des Romans Ahasvera (1910) von Hans von Kahlenberg (eigentlich Helene Keßler), in der die Autorin dem
innerjüdischen Diskurs und der Aneignung des Ahasvera-Motivs bis in die Selbstreflexion
der Protagonistin nachgeht.
Florian Krobb betonte in seiner Pionierarbeit Die Schöne Jüdin (1993), dass die literarische Gestaltung jüdischer Frauenfiguren die Phasen der deutsch-jüdischen
Akkulturationsgeschichte bis hinein in den offenen Antisemitismus widerspiegelt. Auch
für Ludewig werden die jüdischen Weiblichkeitsentwürfe bis hinein in ihre rassistische
Verzerrung als „Ahasvera“ und „Ewige Jüdin“ zum Ausdruck der „weiblichen Conditio
Judaica in der modernen Welt“ (251). Das Ergebnis dieser breit angelegten Studie ist
deutlich negativ: Laut Ludewig wurden in dem „dynamischen Prozess von Antisemitismus
und Misogynie, der die Literatur des gesamten 20. Jahrhunderts kennzeichnet“, die
„toxisch misogyn-antisemitischen“ Weiblichkeitsimagines jüdischer Frauenfiguren „nie
entmachtet, sie sind vielmehr bis heute präsent“ (247f.).