Roland Kley. Am Rand: Der Rabbiner Hermann I. Schmelzer und die jüdische Gemeinde St. Gallen, 1968–2012. St. Galler Kultur und Geschichte 43. Zürich: Chronos, 2022. 267 Seiten, CHF 52.90, ISBN 978-3-0340-1689-6

Simon Lauer 
Zürich
profsimonlauer@gmail.com

Wer hinter diesem Titel das enge Portrait einer einst stolzen, heute eher kleinen Gemeinde vermutet, wird schon beim Lesen des Inhaltsverzeichnisses freudig überrascht. Roland Kley, Dr. duplex und emeritierter Professor der Hochschule St. Gallen, hat in jahrelanger Arbeit mit einer stattlichen Zahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die 1863 gegründete Gemeinde nicht nur an sich, sondern im europäischen und schweizerischen Umfeld mit wissenschaftlichen Methoden (S. 31ff. dargelegt) untersucht. So erfährt man einiges von neuzeitlicher (Flucht-)Geschichte und der Entstehung des neuzeitlichen Judentums. (Moses Mendelssohn wird leider nicht erwähnt. Seine Übersetzung des Pentateuchs in reines Deutsch hat vielen Juden den Zugang zu deutscher Literatur erst ermöglicht.) Was die jüdische Gemeinde St. Gallen auszeichnet, ist ihre Stabilität. Dafür sind zwei Faktoren entscheidend: Die Gemeinde wurde von Kaufleuten geführt, und die durchschnittliche Amtsdauer ihrer Rabbiner betrug knapp vierzig Jahre. Auf S. 15 findet man eine Liste aller Rabbiner, die in sechs Schweizer Gemeinden seit ihrer Gründung bis heute amtiert haben. Eingehend wird die „Politik der kommunalen Selbstbehauptung“, welche die jüdische Gemeinde bis hin zur öffentlich-rechtlichen Anerkennung verfolgt hat, besprochen; ein wichtiges Instrument war stets die Vermittlung von Wissen über Judentum. Nicht unwichtig war die Existenz einer ostjüdisch geprägten orthodoxen Gemeinde. Gerade aus ihrer Mitte kam namhafte Unterstützung in den 1930- und 1940er-Jahren. Gerade hier fand man auch die örtlichen Anhänger des Zionismus. In besonders schwieriger Zeit schafften beide Gemeinden ihre Fusion. Das Selbstverständnis des Rabbiners als „Baumeister, vor allem Brückenbauer“ hat sich hier bewährt. Was nun Rabbiner Schmelzer selbst betrifft, so erhält man hier ausführliche Auskunft über seine Herkunft, Jugend unter feindlichen Regimen, Bildung an der Landesrabbinerschule und Exil in Paris, London, Stockholm, Malmö und St. Gallen. Erst von Malmö aus konnte sich Schmelzer einem richtigen Rabbinatsexamen in Talmud und Codices stellen (S. 176). Die Idee „Rabbinerseminar“ wird besprochen; denn Schmelzer war einer der letzten Absolventen einer solchen Anstalt in einem schweizerischen Rabbinat. (Die Idee geht auf einen Entscheid von Joseph II., Kaiser von Habsburg-Lothringen, zurück. Dieser verlangte von den Juden die Gründung von „Normalschulen“, also Ausbildungsstätten für das höhere Lehramt. So entstanden 1829 die École Rabbinique in Metz und die Scuola Rabbinica in Padua.) Die Probleme der Schweizer Juden in den 1930er-Jahren haben ein eigenes, kenntnisreiches Kapitel. (Erwähnenswert wäre auch der Prozess, den die Berner Anwälte Georges Brunschvig und Emil Raas gegen die „Protokolle der Weisen von Zion“ geführt haben. Grundlegend war ein Artikel im bernischen Lichtspieltheatergesetz, der die Darstellung von „Schmutz und Schund“ verbot. Ergebnis des weitherum beachteten Prozesses war das Verbot dieses Machwerks in der ganzen Schweiz.) Nicht weniger als 172 Seiten gelten Rabbiner Schmelzer, seiner Stellung im Rahmen der Gemeinde als Institution, seiner Diplomatie und seiner Einstellung zu den verschiedenen religiösen Strömungen, nicht zuletzt seinem Selbstverständnis als „Fachmann“. Die Hochschule St. Gallen hat Rabbiner Schmelzer nach seinem Hinschied eine hervorragend dichte Todesanzeige in der NZZ gewidmet, worin er als „Glücksfall für die HSG“ gewürdigt wurde. Kley füllt das im Einzelnen aus: Studentenseelsorger mit seinen beiden christlichen Kollegen, ständiger Dozent, auch im Rahmen der öffentlichen Vorlesungen, dazu fleissiger Publizist. Mit einer zweiseitigen fachlichen Einleitung von Kley umfasst das Verzeichnis seiner zugänglichen Schriften vierzehn Seiten; auf weiteren sechs dichten Seiten bekommt man einen tieferen Einblick in Schmelzers Wissenschaft. – Natürlich gibt es überall auch im Rabbinat Fluktuationen; nicht immer verlaufen sie harmonisch. St. Gallen ist keine Ausnahme.

Das schön und solide gestaltete, sauber gedruckte Buch hat alle Zutaten, die man sich wünschen kann: Biographische Daten zu Rabbiner Schmelzer, Bibliographien und Register. Professor Kley hat weiten Kreisen von Juden und Nichtjuden Welten erschlossen, die kennen zu lernen sich lohnt.