Inka Sauter. Offenbarungsphilosophie und Geschichte: Über die jüdische Krise des Historismus. Schriften des Dubnow-Instituts 33. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2022. 380 Seiten, EUR 60, ISBN 978-3-525-31735-8

Moritz Bauerfeind 
Universität Basel
moritz.bauerfeind@unibas.ch

Der Befund Siegfried Kracauers, dass die gesamte Philosophiegeschichte der Moderne einen Versuch darstellt, mit ungewissen und gottlosen Zeiten zurechtzukommen, leitet die vorliegende Untersuchung ein, welche von Inka Sauter ursprünglich als Dissertation am Leipziger Dubnow-Institut vorgelegt wurde. Wir befinden uns mit dieser Studie über das jüdische Geschichtsdenken also im Spannungsfeld zwischen Geschichtsphilosophie und Historie und auf der Suche nach dem Sinn in der Geschichte.

Chronologisch beginnt die Autorin ihre Erforschung der „Krise des Historismus“ folgerichtig mit einer Herleitung des Geschichtsbegriffs im 19. Jahrhundert und endet 1940 mit dem erzwungenen Freitod Walter Benjamins. Wenn auch die Diskussion über „die Geschichte“ weiter andauert, so sei die ursprünglich sinnstiftende Komponente der Debatte doch heute nicht mehr annähernd von der Intensität, wie sie für den Betrachtungszeitraum um 1900 war. Die Entwicklung kulminierte demnach im Ersten Weltkrieg, im Zuge dessen die Hoffnung auf Sinn und ewigen Fortschritt in der Geschichte entscheidend gestört wurde und der als Bruch mit den Erfahrungen des 19. Jahrhunderts auch als zentraler Moment der vorliegenden Betrachtung gewertet wird. Weiter angelehnt an Kracauer sei das Individuum zu dieser Zeit am Ende des Modernisierungsprozesses angelangt und schlussendlich mit sich selbst und einer aus den Fugen geratenen sinnlosen Welt konfrontiert worden. Zu dieser gescheiterten Sinnsuche und Sinnstiftung durch Philosophie und Religion merkte zeitgenössisch Ernst Troeltsch schon einschränkend an, dass weniger die Rede sein müsse von einer Krise der Geschichtswissenschaft als von einer Krise der philosophischen Überspannung (in) der Geschichte. Das Zusammenbrechen alter Gewissheiten und Geisteswelten des 19. Jahrhunderts hatte dementsprechend auch direkte Auswirkungen auf die jüdischen Intellektuellen der Epoche und ihre Vorstellungen vom Judentum, denen im hegemonial (protestantisch-)christlichen Umfeld eine doppelte Bindungslosigkeit drohte.

Im Kern widmet sich die Autorin einer Untersuchung der Einflüsse der zeitgenössischen Ideen und Erfahrungen auf die explizit jüdische Geschichtsauslegung im Werk Hermann Cohens, Franz Rosenzweigs und Walter Benjamins beziehungsweise untersucht Kritik und Bedeutungswandel des Begriffes «Historismus» zwischen den Autoren. Nach kurzen biographischen Vorstellungen stehen dabei drei Hauptwerke der Protagonisten im Fokus, wobei Rosenzweigs Schrift „Stern der Erlösung“ entgegen der Chronologie den Ausgangspunkt und als Mittelwert auch den Bezugspunkt zwischen den Werken darstellt. Im Rück- und Ausblick werden dabei nicht nur die beiden weiteren Hauptpersonen untersucht, sondern auch deren Gegnern, Verbündeten und Zeitgenossen, darunter insbesondere Heinrich Graetz, einiger Platz eingeräumt. Netzwerke zwischen den Autoren wie auch ihren Texten entstehen dadurch oder werden durch geschickte Verweise hergestellt. Nicht immer an erster Stelle ersichtlich sind die direkten Verbindungen zwischen den drei gewählten Hauptpersonen, da deren persönliche Berührungsmomente und die Bezugnahmen zwischen ihren Schriften über die Jahrzehnte stark variierten. Gerade die Beschreibung zum Werk Benjamins erscheint stellenweise etwas entkoppelt von den Betrachtungen Cohens und Rosenzweigs, die sich vielfach noch mit der Deutschwerdung des jüdischen Bürgertums beschäftigten, während sich Benjamin in seiner eigenen Lebenssituation mit ungleich drastischeren Veränderungen und Ungewissheiten konfrontiert sah.

Ohne also die Illusion einer durchgehenden und sich weiterentwickelten Traditionslinie jüdischer Geschichtsauslegung zu erschaffen, dafür mittels einer überzeugenden Darstellung der fortdauernden Auseinandersetzung mit dem modernen Geschichtsbegriff, gelingt es der Autorin, den grossen Bogen von Samson Raphael Hirsch und Graetz über Cohen hin zu Rosenzeig und Benjamin zu schlagen. Kurz gefasst steht dabei Cohens „Religion der Vernunft“ in der Tradition des 19. Jahrhunderts und betrachtet es vom Ende her, während Rosenzweig im „Stern der Erlösung“ die Zäsur zum Beginn des Ersten Weltkrieges markiert und Benjamin im „Begriff der Geschichte“ einen Moment der Reflexion im Angesicht der nahenden Katastrophe beschreibt. Daraus ergibt sich eine dreifache Beobachtung desselben Problems von der Inkubation bis zur Wiederaufnahme.

Allgemein sauber formuliert und gut verständlich, wechselt die vorliegende Beschreibung zwischen den Werken und deren Entstehungsgeschichten wie auch zwischen den philosophischen Gedankengängen und den umliegenden Ereignissen. Es ergibt sich hieraus eine tief recherchierte und breit aufgestellte Intellektuellengeschichte, welche viele bekannte Geistesgrössen anführt, einschliesslich derer Korrespondenzen und Auseinandersetzungen untereinander. Im Kern entsteht dabei eine Geschichte der intellektuellen Zentren und damit auch eine Auseinandersetzung über und mit dem Protestantismus des preussischen Deutschlands. Im Zentrum der Betrachtung steht dabei Rosenzweigs „Stern der Erlösung“, der folgerichtig nicht als Fortführung der Wissenschaft des Judentums gelesen wird, sondern anknüpfend an deutsche Philosophie und protestantische Theologie.

Der Rezensent ist ein Historiker der Peripherie und hätte sich stellenweise etwas an Relativierung gewünscht, wenn schon die drei Protagonisten und ihre Zeitgenossen durchweg von «dem Jüdischen» oder «dem Christlichen» sprachen und eigentlich eine weitgehend integrierte preussische Intellektuellenexistenz im protestantischen Umfeld auslebten. Ebenfalls wäre stellenweise eine weitere Präzision oder Kontextualisierung hilfreich gewesen, um zu unterscheiden, in welcher Weise Komplexe und Begriffe wie «liberal» und «orthodox» als zeitgenössische Benennungen funktionierten und wie genau sie im Sinne der Autorin zu verstehen sind.