Ulrike Brunotte. The Femininity Puzzle. Gender, Orientalism and the „Jewish Other“. Historical Gender Studies 6. Bielefeld: transcript Verlag, 2022. 236 Seiten, EUR 45, ISBN 978-3-8376-5821-7

Laura C. S. Alt 
Universität Basel
laura.alt@unibas.ch

Ulrike Brunotte schöpft für The Femininity Puzzle. Gender, Orientalism and the „Jewish Other“ aus jahrzehntelanger Forschung, die unter vielen anderen Projekten besonders aus dem internationalen Forschungsnetzwerk „Gender and Sexuality in (Neo-)Orientalism: An Entangled History of European and Middle Eastern Identity Discourses“ hervorgegangen ist. Zwar irritiert zunächst der Begriff des Puzzles im Titel der Monografie; auch die thematisch und zeitlich breitgefächerten Kapitel führen zeitweise zur Assoziation, im englischsprachigen Sinn puzzled zu sein. Dank der Rahmung und innertextlichen Bezügen wird jedoch eine Synthese möglich: Ulrike Brunotte nimmt eine puzzlestückhafte Rekonstruktion interdependenter Kontexte vor, die schliesslich in einem besseren Verständnis prominenter Diskurse um Identität mündet, welche, so die These, um die Jahrhundertwende 1900 allesamt gendered geführt wurden.

Den Rahmen der Analyse bildet das Hobsbawm’sche Lange Neunzehnte Jahrhundert, während dem in wechselseitig aufeinander einwirkenden Diskursen die Konstruktion moderner Nationalstaatlichkeit, bürgerlicher Geschlechternormen sowie die jüdische Emanzipation (sog. ‚Judenfrage‘) und Emanzipation von Frauen verhandelt wurden. Die acht Kapitel setzen unterschiedliche Schwerpunkte, um die Verflechtungen aufzudecken, die zwischen einem psychoanalytisch-wissenschaftlichen und einem ästhetisch-künstlerischen Feld auf Selbst- und Fremdzuschreibungen sowie Verhandlungen des „konstitutiven Anderen“ wirkten (S. 83). Das ‚Andere‘ oszilliert dabei zwischen einer Imagination als Drittes und dichotomen Abgrenzungen wie Okzident/Orient. Methodisch greift Ulrike Brunotte auf Artur Sandauers bzw. Zygmunt Baumans Begriff des Allosemitismus sowie poststrukturalistische und queere Theorien zurück. Der ‚Orient‘ als ästhetisches Register für die darstellenden Künste, als Vergleichsfolie und als biblischer Referenzpunkt im historisierten Sinn wächst hier über die enge Konzeption Edward Saids hinaus. Brunotte vollzieht im Anschluss an Polaschegg und Riegert beispielsweise den Einfluss des Konzeptes in Diskursen des deutschsprachigen Raumes nach, was der These Saids zuwiderläuft, dort habe der Orient bzw. der Orientalismus aufgrund der zeitlich später und in geringerem Umfang einsetzenden Kolonialgeschichte eine untergeordnete, unbedeutende Rolle gespielt.

Aus dieser Perspektive verhandeln die Kapitel Konstruktionen und Transgressionen des ‚Jüdischen‘ bzw. ‚Nicht-Jüdischen‘ und ‚Weiblichen‘ bzw. ‚Männlichen‘ vor dem Hintergrund des Emanzipationsdiskurses sowie der Debatten um das Konstitutive nationaler Gemeinschaften. Hierbei liegt einerseits ein Fokus auf der bildlichen, literarischen und Bühnen-Darstellung eines modernisierten Topos der „schönen Jüdin“ und „femme fatale“ (S. 11, 33). Zunächst wird jedoch die Abgrenzung vom imaginiert ‚Weiblichen‘ und ‚Jüdischen‘ in in- bzw. exklusiven Vorstellungen von Männerbünden analysiert. Als Basis eines modernen Staatswesens haben jene etwa Sigmund Freud, Otto Weininger oder Hans Blüher als ‚Hofphilosoph‘ der Wandervogelbewegung in sehr unterschiedlicher, teilweise aber dialogischer Form behandelt. Zur Jahrhundertwende kursierten unterschiedliche Konzeptionen dieser Bünde, was sich auch begrifflich niederschlug. Im deutschsprachigen Raum lässt sich dieser politisch-ästhetische Diskurs zudem mit Gerüchten um einen homosexuellen Beraterkreis um Kaiser Wilhelm II. verknüpfen. Im Fokus der Psychoanalyse und der neuen Disziplin Sexologie stand dabei die Frage des „Kastrationskomplexes“ (S. 45); die Beschneidung wird hier als antisemitisches „medium of othering“ konzeptualisiert (S. 25). Brunotte folgt für eine Neulektüre Freuds an dieser Stelle vor allem Daniel Boyarin, Sander Gilman, Ann Pellegrini und Jay Geller. Zur Abwehr antisemitischer Theorien wie jenen Otto Weiningers in seinem 1903 erschienenen „Geschlecht und Charakter“, in denen er ‚rassentheoretische‘ mit geschlechtsspezifischen Argumenten verknüpft, versucht Freud nach dieser Lesart, das jüdischen Männern zugeschriebene Attribut der Kastration auf Frauen zu übertragen und ein neues Konzept von „Männerverbänden“ dem exklusiven „Männerbund“ entgegenzustellen (S. 111, 67). Die bekannte Mär vom ‚verweiblichten‘ jüdischen Mann wird in den darauffolgenden Kapiteln nur noch marginal behandelt, da Brunotte diesen Fokus in der Forschung aufbrechen möchte (S. 22–28). Sie untersucht im Folgenden stattdessen Zuschreibungen des ‚Männlichen‘ sowie gleichzeitig ‚Hyperweiblichen‘, auf jeden Fall aber ‚Gefährlichen‘ auf jüdische Frauen(-Figuren). Hinzuweisen ist jedoch noch auf einen letzten Punkt: Durch die Konstruktion eines ‚nicht-jüdischen‘ Männlichkeitsideals im Sinne einer Verbrüderung als Voraussetzung zur Möglichkeit der Nationswerdung und Staatsgründung bekommt die Zuschreibung des ‚Weiblichen‘ auf jüdische Männer zudem den Charakter eines Unmöglichkeitspostulats der Emanzipation wie der Nationswerdung des jüdischen Volkes. Diese Schlussfolgerung untersucht Brunotte explizit in Bezug auf die Theorien Hans Blühers im zweiten Kapitel. Zusammenfassend war der Diskurs um die Nation um 1900 geprägt von der Konstruktion einer angeblichen ‚rassisch-jüdischen‘ Differenz, die konstitutiv mit einer geschlechtlichen Differenz verknüpft sowie mit dem Konzept einer die Nation gefährdenden liberalen Moderne verquickt wurde.

In den abschliessenden Kapiteln widmet Ulrike Brunotte sich erneut der Figur der ‚schönen Jüdin‘ und deren populärkulturellen Ausprägungen und Auslegungen. Anhand der literarischen Verarbeitung der Geschichte von Salome in Werken des 19. Jahrhunderts und ihrer berühmtesten realen Personifikation, der Tänzerin Maud Allan, vollzieht Brunotte die Rolle von „narrativen Leerstellen“ für die Produktion eines neuen, modernen Mythos nach, der schliesslich zur „Salomanie“ in Europa und den USA rund um die Jahrhundertwende geführt hat (S. 161, 172). Die Orientalisierung der ‚schönen Jüdin‘ dient hierbei als „tertium comparationis“ zur Verhandlung ihrer ‚Weiblichkeit‘ und ihres ‚Jüdischseins‘ (S. 151). Eine „Selbst-Orientalisierung“ habe (jüdischen) Frauen zudem Freiräume eröffnet, um über ihre Emanzipation und gesellschaftliche Stellung in Verhandlungen treten zu können (S. 151f.). Der Topos der ‚schönen Jüdin‘, prominent assoziiert etwa mit den Figuren Rebecca in Sir Walter Scotts „Ivanhoe“ (1820) oder Lea in Wilhelm Hauffs „Jud Süss“ (1827), ist in literarischen Werken im 19. Jahrhundert sehr präsent und wird oftmals mit der Verhandlung der ‚Judenfrage‘ in Verbindung gebracht. Meist handelt es sich um die Tochter eines oft antisemitisch gezeichneten Vaters, die durch die Liebe zu einem christlichen Mann vor Fragen der Assimilation und Identität gestellt wird. Brunotte vollzieht chronologisch über den Vergleich verschiedener literarischer Werke und Bühnenstücke eine Entwicklung des Topos über das Jahrhundert hinweg nach. Die ‚schöne Jüdin‘ hat sich so immer mehr von biblischen Vorbildern gelöst, und die ‚narrativen Leerstellen‘ in den Erzählungen wurden zusehends gefüllt mit orientalistischen ästhetischen Stereotypen. Die Figuren weisen jedoch immer eine gewisse Ambivalenz auf, was sie als „liminal figures“ zu Stellvertreterinnen für den Diskurs um Emanzipation werden lässt (S. 139). Die homogene äusserliche Beschreibung dunkler Augen, dunkler Haare, exotischer Gewänder usw. dient der Sichtbarmachung einer ‚Andersartigkeit‘ und kulminiert in der Transformation der braven Tochterfigur zur orientalen ‚femme fatale. Die ‚schöne Jüdin‘ wird so zur Pathosformel der ästhetischen Verhandlung der ‚Judenfrage‘ im 19. Jahrhundert. Dies illustriert Brunotte vor allem anhand Oskar Wildes Salome-Oper (1896), die in Frankreich uraufgeführt und in Grossbritannien verboten wurde. Neben einem Verbot, biblische Figuren auf die Theaterbühne zu bringen, war es Wildes Homosexualität, die nach seinem Gerichtsprozess in der öffentlichen Wahrnehmung auch die Bewertung seines Werkes und seiner Figuren prägte. Wildes Salome, die für die Tanzszene um/mit dem Kopf Johannes des Täufers berühmt wurde, wird so ein weiteres Attribut ‚gefährlicher Weiblichkeit‘ zugeschrieben. In den Jahren des Ersten Weltkrieges spitzten sich diese „paranoiden Fantasien“ zu, da eine ‚homosexuelle Unterwanderung‘ von deutscher Seite in England als reale Gefahr gesehen wurde – eine Unterwanderung, die etwa von Künstlern wie Wilde und TänzerInnen wie der bereits erwähnten Kanadierin Maud Allan, die eine berühmte Salome-Choreografie entwickelte, vorangetrieben würde (S. 188). Allan verband hierfür orientalistische Stereotype mit Riten aus der griechischen Mythologie und neuen Bewegungsabläufen, inspiriert von der Lebensreformbewegung. Salomes berühmter „Tanz mit den sieben Schleiern“, der weder im biblischen Vorbild noch in Wildes Oper konkret narrativ beschrieben wird, öffnet den ästhetischen Raum für eine zeitgenössische Interpretation, die mit den Diskursen um Geschlecht und Differenz angereichert wurde (S. 161, 172–175). Der Effekt der ‚narrativen Leerstellen‘ ermöglichte nach dieser Lesart die Transformation von Text zu Bild und schliesslich zum tanzenden Körper. Die damit verknüpfte weibliche Sexualität und Verkörperung des ‚orientalischen Anderen‘ bedrohten in dieser Auslegung die Integrität des englischen Publikums. Der Topos des Lüftens von Schleiern als Geste der Offenlegung des ‚Weiblichen‘ lässt sich an dieser Stelle zudem mit dem psychoanalytischen Diskurs der Zeit parallelisieren, in dem ähnliche Begriffe und Vorstellungen vorherrschten. 23 Jahre nach Wilde wurde auch Maud Allan 1918 vor Gericht gestellt, weil sie in einem privaten Theater Wildes Salome verkörpern sollte. Die den Prozess begleitende öffentliche Debatte verknüpfte die zuvor besprochenen Diskurse und kulminierte in der Vermischung der dargestellten Figur und der darstellenden Person, etwa durch die Behauptung, Maud Allan wäre selbst jüdisch. Der Topos der ‚schönen Jüdin‘ diente so im Langen Neunzehnten Jahrhundert als allosemitische Projektionsfläche und Raum für Aushandlungen und Anfechtungen geschlechtlicher, religiöser, nationaler, kurz: identitärer Differenz und Varianz.

Der erwähnte puzzlehafte Aufbau der Kapitel in Brunottes Studie führt zu wenigen Inkonsistenzen. So soll insbesondere in der Untersuchung des Topos der ‚schönen Jüdin‘ die Verwendung des Begriffs Allosemitismus dazu dienen, die Konstruktion eines transgressiven Dritten, einer ‚liminal figure‘, zu verdeutlichen und deren vielschichtige, nicht eindeutig negativ oder positiv konnotierten Facetten zu analysieren. Der Begriff findet jedoch keine konsequente Anwendung. In der Verhandlung von Sigmund Freuds theoretisch-wissenschaftlichen Abwehrmechanismen ist es der Begriff des Antisemitismus – den, neben dem Philosemitismus, zu ersetzen der Allosemitismus angetreten ist –, der methodologische wie sprachliche Verwendung findet.